von
Prälaten anvertraut zu sehen, und errichtete, nachdem er die Jurisdiktionsrechte des
Klerus beschränkt, die Klostergesetze
revidiert hatte, den heiligen dirigierenden
Synod als höchste Kirchenbehörde. Die Grundlagen der hierarchischen
Ordnung und
synodalen Oberleitung blieben bestehen; aber der
Kirchenverfassung wurde ihre
Spitze abgebrochen, indem die kirchliche Oberherrlichkeit
des
Patriarchen auf den
Zaren überging. Als eine Versammlung
Peter d. Gr. um
Erhaltung des
Patriarchats bat,
sprach er das die ganze
Kirchengeschichte Rußlands von nun ab beherrschende
Prinzip des
Cäsareopapismus mit den
Worten aus:
»Hier ist euer
Patriarch«.
Katharina II. zog alles
Kirchengutan sich (1764), wogegen sie für alle geistlichen
Stellen undStiftungen
einen festen, für die niedern
Grade äußerst geringen
Gehalt auswarf; aber da sie zu gleicher Zeit der
Kirche die Versorgung
der
Invaliden abnahm und auf Staatskosten Priesterseminare gründete, erlitt die
Kirche wenigstens keinen bedeutenden materiellen
Nachteil.
Peter d. Gr. bewilligte 1702 den Katholiken und
Protestanten freie Religionsübung im ganzen
Reich.
Die
Protestanten aber wurden namentlich in den
Ostseeprovinzen vielfach bedrückt und die lettische und ethnische Landbevölkerung 1845 von
den
Popen durch die Vorspiegelung von Landerwerb zum Übertritt zur russischenKirche bewogen.
Vgl.
Harleß,
Geschichtsbilder aus der lutherischen
KircheLivlands von 1845 an (2. Aufl., Leipz. 1869);
Besonders wird innerhalb des kaiserlichen
Hauses die
[* 4] russische Kirche begünstigt: russische Prinzessinnen, die sich mit
Fürsten andrer
Konfessionen vermählen, dürfen nie zu deren
Glaubensbekenntnis übergehen;
dagegen müssen alle Prinzessinnen,
die durch
Heirat in die kaiserliche
Familie eintreten, das griechische
Bekenntnis annehmen.
Man zählt in der russischenKirche
gegen 12 Mill. Sektierer (s.
Raskolniken).
Der
Synod hat seinen Sitz in
Petersburg.
[* 5] Der russischeKlerus besteht aus
Kloster geistlichen, auch nach ihrer
Kleidung die »schwarze
Geistlichkeit« genannt, welche allein zu den höhern geistlichen
Würden gelangen und zum
Cölibat verpflichtet sind, und aus
Weltgeistlichen, im
Gegensatz zu jenen, trotz ihrer braunenKleidung, die »weiße
Geistlichkeit« genannt,
welche bloß die niedern geistlichen
Stellen bekleiden können und sich verheiraten dürfen, aber nur einmal.
Die Ordensgeistlichkeit besteht aus drei
Klassen, nämlich:
1) Archierei, zu denen sämtliche
Bischöfe gehören, welche
alle dem heiligen
Synod zu
Petersburg unterworfen sind;
Dieser
Klerus ist
frei vonAbgaben, steht in geistlichen
Dingen unter der
Jurisdiktion der
Bischöfe und des heiligen Synods, in
Zivil- und Kriminalsachen aber unter der der weltlichen
Gerichte. Für
Bildung des
Klerus ist erst unter
Alexander II. einiges geschehen; besonders der niedere ist sehr unwissend und größtenteils auf landwirtschaftliche
Thätigkeit angewiesen. Aber auch die litterarische
Produktion innerhalb der höhern
Geistlichkeit beschränkt sich auf Werke,
welche der
Liturgie und dem populären Religionsunterricht dienen.
Eine wissenschaftliche
Theologie beginnt erst in letzter Zeit und nur ganz vereinzelt aufzutreten. Die russischenKirchen sind
viereckig und haben eine große
Kuppel in der Mitte, die von vier kleinern
Kuppeln umgeben ist. Die Glockentürme stehen abgesondert
von der
Kirche. Man betet stehend oder auf dem
Angesicht liegend. Das Priestergebet wird durch den Gemeindegesang
unterbrochen, der aber eigentlich nur aus drei
Sätzen besteht: »Gospodj pomiluj!«
(»Herr erbarme dich unser!«),
»Gospodj pomolimssa!«
(»Herr, wir bitten dich!«) und »Podal Gospodj!« (»Gib
das,
Herr!«). Die in der alten slawischen
Kirchensprache abgefaßte
Liturgie zeichnet sich durch die
Kraft
[* 6] der dabei üblichen
Gebete aus. Die
Messe wird nur einmal des
Tags gefeiert, und bei der
Kommunion werden
Brot
[* 7] und
Wein im
Kelch
gemischt und mit einem
Löffel gereicht. Die
Feste der russischenKirche sind im allgemeinen die der andern christlichen
Konfessionen;
eigentümlich sind nur die
Feier des
Festes der
Wasserweihe
(Jordansfest), welches jährlich 6. Jan., am
Tag der
Mitte zwischen
Ostern und
Pfingsten und 1. Aug. stattfindet, und bei welchem die
Heiligenbilder in das
Wasser getaucht werden, daher
auch der
Name »Götterwaschung«; das
Gedächtnis aller im
Kriege gefallenen
Soldaten21. Okt. und die Pferdeweihe 9. Mai. Am ersten
Fastensonntag, dem sogen. orthodoxenSonntag, wird noch jetzt alljährlich unter großem Zulauf des
Volkes
über alle politischen und kirchlichen Ketzereien ein allgemeiner
Fluch ausgesprochen.
Das Predigen ist selten, daher die wenigsten
KirchenKanzeln haben. Die Strenge des
Fastens wird jetzt mehrfach durch
Dispensationen
gemildert.
Vgl.
Murawjew, Geschichte der russischenKirche (deutsch von König, Karlsr. 1857);
Boissard,
L'Église de la Russie (Par. 1866-67, 2 Bde.);
Philaret, Die
Kirche Rußlands (deutsch, Frankf. a. M. 1872, 2 Bde.);
Makarij, Geschichte der russischen
Kirche (Petersb. 1848-83, 12 Bde.);
Basarow, Die russisch-orthodoxe
Kirche (Stuttg. 1873).
[* 4]Litteratur. Die russische
Nationallitteratur hat in der
Entwickelungsgeschichte
[* 8] Rußlands eine höhere Bedeutung
als irgend eine andre europäische Litteraturgeschichte dem
Volk gegenüber, in dessen Mitte sie entstanden.
Wir haben dabei allerdings mehr die neuere Zeit, die Zeit seit
Peter d. Gr.,
¶
mehr
also von dem Augenblick an, da Rußland in den Bund der europäischen Völker eintritt, im Auge.
[* 10] Als moderner Staat beruht Rußland
nicht auf der Stände- und Korporationsverschiedenheit, sondern auf andern Elementen, über die hier ausführlich zu sprechen
nicht am Platz wäre. SchonKatharina II. erkannte diese Thatsache, denn sie gedachte, was natürlich nie
gelingen konnte, auf künstlichem Weg das Dasein von Ständen hervorzurufen. Die Wege des gesellschaftlichen und staatlichen
Wachstums sind demnach in Rußland andre, und somit muß auch ein andres Verfahren beim Studium desselben angewandt werden.
Rußland entbehrte sozialer und politischer Parteien in dem Sinn, in welchem wir sie in andern europäischen
Staaten finden. In diesen ist der Kampf und das Wechselinteresse der Korporationen und Stände der Boden, auf welchem Gesellschaft
und Staat, Litteratur und Recht, überhaupt der ganze ethische Bau, erwuchsen; die Bildung tritt sozusagen als letztes Wort der
westeuropäischen Zivilisation auf, sie ist vor allem das Resultat sozialpolitischen Lebens. Umgekehrt ist
es in Rußland: da fängt das eigentliche sozialpolitische Leben erst mit der Bildung an. Während in Europa
[* 11] die Parteien durch
das ständische und korporative Interesse gebildet werden, sich gruppieren und ihre eignen Organe wählen oder gründen, sind
es in Rußland die Presse
[* 12] und die Organe der Litteratur, welche neue Parteien ins Leben rufen und ihre Existenz
bedingen.
Die sozialpolitischen Parteien entstehen erst mit der hereinbrechenden Bildung, und lediglich durch die Einflüsse der Litteratur
werden alle sozialen Bewegungen geleitet. Während in Europa jedes wirkende IndividuumRepräsentant eines Standes oder einer
Korporation war und durch sie oder ihre Rechte unterstützt wurde, vermochte in Rußland das Individuum
immer nur als solches zu wirken, nicht als Repräsentant einer Gattung. Solche Leute gingen aber in der Geschichte Rußlands
fast spurlos verloren, bis durch die vom Westen hereindringende Bildung neue Wirkungswege sich öffneten.
In der Litteratur und nur durch diese konnten jetzt Gedankenumtausch und Einfluß sich geltend machen.
Es ist demnach begreiflich, daß der Dichter und Litterat in Rußland von jeher so großen Einfluß ausübten, und daß nur
wenige der bedeutenden Männer auf dem Gebiet der Litteratur in Rußland ungestört durch Verbannung und administrative Maßregelung
ihre Tage beschließen konnten. Die größten Monarchen unterstützten ihre wichtigsten Reformen durch
Litteraturerzeugnisse, die sie teils selbst verfaßten, teils von andern verfassen ließen; so Peter d. Gr. und Katharina II.
Ersterer veranlaßte theatralische Aufführungen, in denen er die Feinde seiner Neuerungen persiflierte, und ließ den hochgebildeten
Priester Teosan Prokopowitsch in Predigt und Schrift für dieselben eine Lanze brechen; Katharina gründete
satirische Journale und schrieb selbst Theaterstücke und Abhandlungen, die aufgeführt und veröffentlicht wurden. In Rußland
ist es somit das Niveau und die Richtung der Bildung, was die Menschen gruppiert und sozialpolitische Parteien bedingt.
Man kann jahrelang in einem Kreis
[* 13] verkehren, ohne auch nur zu ahnen, ob dieses oder jenes Mitglied adligen
oder andern Standes ist; man fragt nur, welcher Bildungsrichtung es angehört. Daher kommt es auch, daß in einem zu der großen
Masse der ungebildeten verhältnismäßig so wenig zivilisierten Land wie Rußland eine so große Zahl von monatlichen
Zeitschriften oder Revuen (ähnlich der »Revue des DeuxMondes« oder »Deutschen Rundschau«) erscheint. Es
sind
dies Bücher von ca. 30 Druckbogen litterarisch-politischen Inhalts, als deren wichtigste (von den Zeitungen und Wochenschriften
abgesehen) wir hier sofort nennen: »Westnik Jewropy« (»Europäischer Bote«),
»Russkaja Rehtsch« (»Das russische
Wort«) etc. Um diese Journale gruppieren sich die eigentlichen sozialen Parteien. Da die Rechtsverhältnisse
von jeher das praktische Wirken hemmten und der zivilisatorische Fortschritt nur auf dem Gebiet der Litteratur ausgefochten
werden konnte, so hat allmählich selbst die schöne Litteratur eine sozial-ethische Bedeutung erlangt und zwar in dem Grade,
daß eine rein ästhetische Behandlung der Litteraturgeschichte zu einer Unmöglichkeit geworden ist.
Anderseits ist das Studium derselben sehr erschwert durch den Umstand, daß das Vorhandensein einer Zensur die Schriftsteller
nötigt, so zu schreiben, daß man zwischen den Zeilen zu lesen gezwungen ist, was wiederum zu vielen Mißverständnissen
verleitet oder einem Fernstehenden ganz unverständlich bleiben muß. Die Virtuosität in derartigem
Schreiben und Lesen ist so groß, daß die Regierung sich oftmals veranlaßt fand, gegen Schriftsteller, deren Erzeugnisse
die Zensur bereits passiert hatten, doch noch auf administrativem Weg einzuschreiten und sie für den verborgenen Sinn ihrer
Schriften zu maßregeln.
Über die ältere Volkslitteratur werden wir weiter unten sprechen, da die Epen und Lieder der alten, noch
vortatarischen Zeiten Rußlands erst zu Anfang des 19. Jahrh. ernstlich gesammelt worden sind und zwar
in verschiedenen Gegenden des Reichs, wo sie noch heutzutage, natürlich mit mannigfaltigen Verstümmelungen, in dem Munde des
Volkes leben. Was die Kunstlitteratur anbetrifft, so ist diese von den Donauslawen nach Rußland
hinübergekommen und zwar erst mit der Einführung des Christentums (988). Es war um 855, daß zwei griechische Mönche, Cyrillus
und Methodius, es unternahmen, hauptsächlich aus den griechischen, dann auch wohl aus den hebräischen, armenischen und
koptischen Schriftzeichen das slawische Alphabet zusammenzustellen (vgl. Krek, Einleitung der slawischen
Litteraturgeschichte, Graz
[* 14] 1874). Mit dem Christentum kamen dann auch das Alphabet und Bücher kirchlichen Inhalts nach Rußland.
Sie waren bulgarisch geschrieben, untermischt mit dem damals dem Bulgarischen sehr nahestehenden Südrussischen, und bildeten
die Schriftsprache (Kirchenslawisch), welche bis heutzutage in den Kirchen gebraucht und von jedem, auch
dem ungebildeten Russen wohl verstanden wird (s. Bulgarische Sprache). Das älteste Sprachdenkmal bildet das Evangelium von
Ostromir (hrsg. mit Glossar von Wostokow). Die vorhandene Handschrift (aus dem Jahr 1056-57) wurde für den Präsidenten (Possadnik)
der RepublikNowgorod angefertigt und ist nach Wochen und Tagen in Abschnitte geteilt, wie sie in den Kirchen
gelesen werden.
Sodann der »Isbornik von Swjatoslaw« (1073), die Bearbeitung eines Panegyrikus auf den bulgarischen ZarenSimeon. Durch die
Vermittelung der Bulgaren erhielt Rußland eine Flut von geistlichen Legenden und weltlichen Sagen, welche oft aus Byzanz oder
selbst aus dem Morgenland stammten, ein wunderliches Durcheinander von Apokryphen, Geschichte, Mythologie
und heiligen Legenden. So spielten z. B. die Sagen von Alexander d. Gr. und dem Trojanischen Krieg darin ihre Rolle;
¶