Vinzenz von Paul in Frankreich. In den größern Städten der evangelischen Niederlande und dann auch in den protestantischen
Städten Norddeutschlands entstanden öffentliche Armen- und Arbeitshäuser während des 17. Jahrh., in denen sich auch Abteilungen
für »ungeratene Kinder« fanden, die dort zu Arbeit und Unterricht angehalten wurden. Die von A. H. Francke
angeregte Fürsorge für verwaiste Kinder kam in vielen Fällen auch der verwahrlosten Jugend zu gute.
Mit größerer Klarheit erfaßte J. H. Pestalozzi die Fürsorge für verwahrloste Kinder als eine ganz eigne Aufgabe der Menschenliebe.
Von seinen ersten Versuchen in Neuhof (1775) bis zur Begründung der Anstalt in Clindy (1818) begleitete
ihn dieser Gedanke. Mehr praktischen Erfolg hatten seine Landsleute v. Fellenberg und Wehrli in Hofwyl. 1788 folgte Robert Youngs
mit einer großartigen Anstalt in London. Im wesentlichen die heutige Gestalt erhielten jedoch die Rettungshäuser erst in Deutschland nach
den Franzosenkriegen.
Schon 1813 sammelte Johannes Falk in Weimar den Verein der Freunde in der Not, der anfangs die verwahrlosten
Kinder bei Handwerkern und Landleuten unterbrachte, 1823 aber eine eigne Anstalt, den Lutherhof, schuf. Inzwischen hatten
bereits die Grafen A. und W. v. d. Recke-Volmerstein (Overdyck 1819, Düsselthal 1822), Spittler und Chr. H. Zeller in Beuggen
bei Basel
(Armenschule und Bildungsanstalt für Armenschullehrer, 1817), Rheinthaler in Erfurt (Martinsstift,
1819), Königin Pauline von Württemberg (Paulinenpflege in Stuttgart, 1820) derartige Anstalten ins Leben gerufen, und 1825 folgte
Berlin auf Anregen des Ministers Rother mit der Anstalt am Urban.
Neuen Aufschwung brachte 1833 der Vorgang J. H. Wicherns im Rauhen Haus zu Horn bei Hamburg. Das Neue seines
Vorgehens bestand in der Gliederung einer umfassenden Anstalt in einzelne familienartige Gruppen mit Gartenarbeit etc., wie
es ganz ähnlich auch der Pfarrer Gustav Werner in Reutlingen mit Erfolg versuchte. Das Rauhe Haus fand nicht nur in Deutschland,
sondern weit darüber hinaus Beachtung und Nachfolge. In eigenartige Weise verwertete namentlich in Frankreich
Demetz seine in Horn gewonnenen Anschauungen bei der Gründung seiner Colonies agricoles pénitentiaires, deren erste 1839 in
Mettray entstand.
Besonders wirksam erwies sich namentlich die von Wichern mit dem Rauhen Haus verbundene Brüderschaft der Helfer. Die auf dem
ersten Kirchentag in Wittenberg (September 1848) erfolgte Gründung des Zentralausschusses für die innere Mission
der deutschen evangelischen Kirche kam auch der Sache der Rettungshäuser zu gute, die sich gegenüber manchen Vorurteilen immer mehr Bahn
brachen und endlich im deutschen Strafgesetzbuch vom namentlich in dessen revidierter Gestalt vom
auch offene staatliche Anerkennung fanden. § 55 erhielt damals den Zusatz: »Gegen
den Begeher einer strafbaren Handlung, welcher das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, können nach Maßgabe der
landesgesetzlichen Vorschriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden. Insbesondere
kann die Unterbringung in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt erfolgen, nachdem durch Beschluß der Vormundschaftsbehörde
die Begehung der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt worden ist.« Auf Grund dessen wurde in
Preußen durch Gesetz vom die Zwangserziehung verwahrloster Kinder zu einer Aufgabe der provinziellen Selbstverwaltung
gemacht.
Die Provinzen
genügen dieser Pflicht teils durch Unterbringung der Kinder in Familien, teils durch Verträge
mit bestehenden Anstalten, teils durch Begründung eigner großer Rettungshäuser. Im J. 1885 zählte man in Deutschland 291 Rettungshäuser mit etwa
11,000 Insassen; davon kamen 180 Anstalten mit 9000 Zöglingen auf Preußen. Auf Grund des preußischen Gesetzes vom sind
bis 1888 bereits über 12,000 Kinder untergebracht. Außerhalb Deutschlands haben die Rettungshäuser namentlich in
England große Verbreitung, mannigfache Ausgestaltung und hingebende Teilnahme gefunden. In Frankreich haben sie nach dem erwähnten
Vorgang von Demetz vorwiegend die eigentümliche Form der Colonies agricoles angenommen, deren 6 umfangreiche vom Staat und 21 von
Privatvereinen unterhalten werden.
Außerdem bestehen noch etwa 20 anders eingerichtet Rettungshäuser für Mädchen. Die Zahl der
Insassen sämtlicher Besserungsanstalten belief sich 1884 auf etwa 7000, wovon 5800 Knaben und 1200 Mädchen waren. In Belgien
hat seit 1847 der Staat selbst die Sache der Rettung in die Hand genommen. Damals entstand die landwirtschaftliche Besserungsanstalt
zu St.-Hubert für freigesprochene jugendliche Angeklagte. 1848 kamen die beiden großen Anstalten zu
Ruysselede (Knaben) und Beernem (Mädchen) für die enfance abandonnée, 1864 die zu Namur für die enfance coupable hinzu.
Sämtliche Anstalten sind im weiten Maßstab angelegt und militärisch geordnet. Die Schweiz besitzt gegenwärtig 58 Rettungshäuser mit
über 2000 Zöglingen. Als eine Sache von allgemeiner menschlicher Bedeutung, hat das Jugendrettungswesen
wiederholt internationale Versammlungen beschäftigt, so die Kongresse für Gefängniswesen in Stockholm (1878), für Unterrichtswesen
in Brüssel (1880) und London (1884), für Jugendschutz in Paris (1883).
Vgl. Ötker, Erziehungsanstalten für verwahrloste Kinder
(Berl. 1879);
Wichern und Henske, Rettungsanstalten (in Schmids »Encyklopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens«, 2. Aufl.,
Bd. 7);
»Vereinshefte des Nordwestdeutschen Vereins für Gefängniswesen« (Oldenb. 1878-79);
»Das Rettungshauswesen«, eine
Denkschrift (Berl. 1882).
ein Ehrenzeichen, welches ohne Standesunterschied an Personen verliehen wird, die mit eigner Lebensgefahr
einen andern Menschen aus einer dessen Leben bedrohenden Gefahr gerettet haben.
Die preußische Rettungsmedaille wird
durch den König verliehen, ist aus Silber mit der Aufschrift: »Für Rettung aus Gefahr« u. wird am gelb-weißen Band auf der
Brust (Knopfloch) getragen.
Fast in allen Staaten werden in demselben Sinn Rettungsmedaillen verliehen.
zurSee, Veranstaltungen an den Küsten zur Rettung Schiffbrüchiger, wird meist von Privatgesellschaften
ausgeübt. Zweigvereine dieser Gesellschaften beaufsichtigen die einzelnen Rettungsstationen mit der Rettungsmannschaft, welche
aus am Ort wohnhaften Leuten zusammengesetzt ist, und die Rettungsapparate. Zu letztern gehören ein Rettungsboot, ein Mörser-
oder Raketenapparat, Rettungsringe, Beleuchtung- und Signalvorrichtungen etc. Die Rettungsboote sind verschieden konstruiert.
Das englische Boot (Peakeboot) ist 10,3 m lang, 2,5 m breit,
aus Holz gebaut und wiegt ohne Inventar 2500 kg. Durch verschiedene im Boot angebracht metallene Luftkasten und einen äußern
Korkring ist es unversinkbar; sein Auftrieb ist so groß, daß sein zweiter Boden stets mehrere Zentimeter über Wasser bleibt
und eingedrungenes Wasser durch
mehr
Röhren stets abfließen kann. Die stark konkave Krümmung der obern Fläche, Luftkasten an den Endpunkten und ein schwerer
eiserner Kiel bewirken, daß es nach dem Umschlagen alsbald wieder in seine natürliche Stellung zurückfällt. Dieses ausgezeichnete
Boot, welches in England allgemein gebräuchlich ist, eignet sich nicht für unsre flachen Küsten mit dem
unwegsamen Dünensand und der spärlichen Bevölkerung. Man benutzt deshalb das leichtere, 8 m lange, aus kanneliertem Eisenblech
gebaute Francisboot, welches ebenfalls Luftkasten besitzt und verschiedene Einrichtung zeigt, je nachdem es, entsprechend
den geographischen Verhältnissen der betreffenden Station, der Entfernung der gefährlichen Punkte von der Küste etc., zum
Segeln oder zum Rudern oder zum Segeln und Rudern eingerichtet ist.
Die leichtesten Boote dieser Art wiegen nur 900 kg. Die Segelboote besitzen einen Behälter für Wasserballast,
der sich durch Öffnen eines Ventils im Boot von selbst füllt und auch in wenigen Minuten wieder entleert werden kann. Die
Seitenschwerter, mit denen diese Boote ausgestattet sind, ersetzen den Kiel und vermindern die Abtrift des
Boots beim Segeln. Die Boote sind vorn und hinten gleich gebaut; außer mit dem langen Steuerriemen sind sie noch mit einem
Steuerruder versehen, über welches ein genau anschließender Mantel aus Eisenblech herabgelassen werden kann, so daß das Boot
auch noch zu steuern ist, wenn es seinen Hintersteven aus dem Wasser stampft.
Füllt sich das Boot mit Wasser, so verhindern zwei schnell in der Mitte des Boots zu beiden Seiten mit dem Blatte dem Wasser
zugekehrte, gelaschte Riemen das Rollen, und das Boot kann leicht ausgeschöpft und ausgepumpt werden. Das
Boot steht gewöhnlich vollständig ausgerüstet auf einem Wagen und gleitet von diesem leicht herab, wenn man den Vorderwagen
löst und die Helling, auf der das Boot auf Rollen ruht, vorn etwas hebt. Einzelne Stationen haben große Rettungsboote mit Kuttertakelage.
Die Bemannung der Boote trägt Korkjacken (Wardsche Jacken) aus feinstem Kork, der in schmalen Stücken auf
Segeltuch genäht ist. Eine solche Jacke hält den schwersten Mann, bekleidet mit dickem Wollzeug und Seestiefeln, 24 Stunden
und länger mit den Schultern über Wasser. Wird ein Schiffbruch gemeldet, so eilen auf das Signal die Mannschaften herbei, Pferde
oder Menschen bespannen den Bootswagen etc., und man sucht alsdann eine günstige
Stelle an der Küste in der Nähe des Wracks, möglichst luvwärts (windwärts), um das Rettungsboot ins Wasser zu lassen. Das
Boot, mit dem Bug nach See zu, alle Mann in demselben und festgebunden, um nicht herausgespült zu werden, die Ruder zur Hand,
wird in einem günstigen Moment, wo die Brandung einer Welle fast zu Ende ist, mit dem Wagen ins Wasser geschoben,
bis es schwimmt und fortgerudert werden kann. Ein besonders schwieriger Moment ist die Annäherung an das Wrack, an dem zerschmettert
zu werden das Boot Gefahr läuft, wenn nicht mit äußerster Vorsicht verfahren wird.
Die Rettungsgeschosse bezwecken die Herstellung einer Verbindung zwischen Land oder Rettungsboot und Schiff mittels geworfener
Leinen. Die Raketenapparate werfen eine Leine von 200-500 m. Bei den Mörsern ist die Leine an dem Geschoß befestigt, und dieses
wird durch Pulver fortgeschleudert. Der Mörser schießt mindestens ebenso weit und ist billiger als die
Rakete, aber namentlich bei Regen und Dunkelheit schwerer zu bedienen, auch führt die große Anfangsgeschwindigkeit des Geschosses
leicht zu Verwickelungen und Abreißen der Leine.
Auf Entfernungen von 70 m stellt man eine Verbindung zwischen Rettungsboot und Schiff mittels eines Handgewehrs her, welches
auch benutzt wird, um Leuchtkugeln zu schießen. Ankerraketen werfen eine Leine, an deren vorderm Ende
ein Anker befestigt ist. Man benutzt sie unter besonders schwierigen Verhältnissen, um das Abkommen des Boots vom flachen Strand
zu ermöglichen. Hat der Anker gefaßt, so ziehen die vordersten vier Mann an der Leine, während die übrigen rudern.
Ist mittels Rakete oder Mörser den Schiffbrüchigen eine Leine vom Land glücklich zugeworfen, so holen
jene sich mit derselben einen Block (Kloben) an Bord, in den eine andre stärkere Leine eingeschoren ist, deren beide Enden an
Land bleiben und zusammengesplißt werden. Den Block befestigen die Leute auf dem Schiff, und somit ist eine Kommunikation
mit dem Land fertig. Zunächst wird jetzt das eine Ende einer schweren Troß (starkes Tau) nach dem Wrack geschafft und dort
so hoch wie möglich an einem Mast od. dgl. befestigt, während man das andre Ende
der Troß am Land an einem Anker befestigt.
Die ausgespannte Troß dient gleichsam als Brücke, indem an ihr hängend eine Art Korb mit der andern dünnen
Leine hin- und hergezogen werden kann, welcher, zur Aufnahme einer Person geeignet, allmählich die ganze gefährdete Mannschaft
an das Land transportiert. In neuester Zeit hat man auch Öl im Rettungsdienst angewandt. Die Resultate sind aber an den deutschen
Küsten gering, da das Öl zwar in tiefem Wasser nachgewiesenermaßen eine überraschend beruhigende Wirkung auf den Seegang
ausübt, der an den flachen Küsten besonders heftig auftretenden Brandung gegenüber aber machtlos bleibt.
Die Geschichte des Rettungswesens zur See ist mit der der Gesellschaften zur Rettung Schiffbrüchiger eng verbunden. Eine solche
entstand zuerst 1789 zu Shields in England. Äußere Veranlassung war der vor den Augen der Bewohner stattfindende
Untergang des Schiffs Adventure. Das erste »unversinkbare« Rettungsboot baute 1790 ein
Londoner Wagenbauer, Lionel Lukin; Henry Greathead, ein gewiegter Bootbauer, verbesserte es bald darauf erheblich, und langsamere
Fortschritte folgten diesen ersten Versuchen.
Das Interesse für das in England war aber bis 1823 ein sehr geringes geblieben; es neu zu beleben, machte
sich 1824 Sir William Hallary zur Aufgabe. Auf seine Anregung vereinigten sich 1850 alle bis dahin bestandenen Vereine zur Royal
National Lifeboat Institution, welche heute über mehr als 300 Rettungsstationen an den englischen Küsten
verfügt. Auf etwa 5000 Rettungsfahrten (seit 1855) wurden gegen 12,000 Menschen gerettet. Die Gesamtzahl der Geretteten beziffert
sich auf 30,000 Mann.
Auf dem europäischen Festland folgten zuerst die Holländer dem von England gegebenen Beispiel. In Frankreich wurde die Société
centrale de sauvetage des naufragés 1866 gegründet, nachdem aber schon Boote seit 1825, Mörser seit 1846 im
Gebrauch gewesen waren. Statt der letztern ist jetzt eine Kanone, welche einen Pfeil mit Leine nach der Angabe von Delvigne schießt,
allgemein gebräuchlich. Preußen errichtete seit 1850 für seine Küsten einige Rettungsstationen. In den Jahren 1861-64 aus
der Initiative einzelner Küstenstädte hervorgegangene Vereine bildeten 1865 die Deutsche Gesellschaft
zur Rettung Schiffbrüchiger, in deren Händen gegenwärtig der gesamte Rettungsdienst an den deutschen Küsten vereinigt ist.
Die
mehr
Gesellschaft besitzt 111 Stationen (66 an der Ostsee, 45 an der Nordsee, und zwar 39 Doppelstationen mit Boot und Raketenapparat, 53 Bootsstationen
und 19 Raketenstationen), 57 Bezirksvereine, 242 Vertreterschaften und 47,173 Mitglieder. Die Jahresbeiträge bezifferten
sich im J. 1887/88 auf 141,171 Mk., die Gesamteinnahme auf 278,253 Mk. Seit
Gründung der Gesellschaft wurden 1703 Menschen gerettet. Die Bedienung der Rettungsapparate erfolgt durch
freiwillige Mannschaften, welche sich durch den Ortsausschuß zum festen Dienst einschreiben lassen.
Festen Gehalt bezieht nur der Vormann der Station, welcher dafür zugleich die Rettungsgeräte in Ordnung zu halten hat. Den
Mannschaften werden für Übungs- und Rettungsfahrten bestimmte Vergütungen und für geglückte
Rettungen Prämien (20-40 Mk. pro Kopf der Geretteten) gezahlt. Auch wer der Station die erste Nachricht von einer Strandung überbringt,
erhält eine Prämie. Jene Prämien werden auch an Besatzungen fremder Schiffe gezahlt, die durch aktives Eingreifen deutsche
Seeleute an deutschen Küsten retten, während an außerdeutsche Rettungsstationen, die Mannschaften deutscher
Schiffe geborgen, oder an deutsche Schiffe, welche in außerdeutschen Gewässern Rettungen vollführt haben, Diplome und Medaillen
verliehen werden.
Bis jetzt hat die Gesellschaft 60,020 Mk. an Prämien gezahlt. Gegen Tod im Rettungs- oder Übungsdienst versichert die Gesellschaft
die Mannschaften der Rettungsstationen mit 2500 Mk., auch hat sie einen Fonds für Extraunterstützungen
an die Hinterbliebenen der Verunglückten gebildet. Zur Belehrung der Seeleute über die Benutzung der ihnen vom Land zugebrachten
Hilfe dient ein in 20,000 Exemplaren verteiltes Büchlein: »Seemann in Not«. Organ der Gesellschaft ist die seit 1872 in Bremen
erscheinende Vierteljahrsschrift: »Von den Küsten und aus der See« ^[richtig: »Von den Küsten und aus
See«].
Vgl. Lewis, History of the life-boat and its work (Lond. 1874);
Schumacher, Das Rettungswesen (Berl. 1868);
Werner, Die Gefahren der
See und die Rettung Schiffbrüchiger (Heidelb. 1880);
»Annual report of the Royal National Life-boat Institution«.