Ihre wiederholten Schwankungen und Unsicherheiten, ihre Zugeständnisse an das katholische
System, ihre offenen Rückfälle
und Selbstwidersprüche können und sollen nicht mehr verhehlt werden.IhreSchuld ist aber verschwindend
gering gegenüber denjenigen, welche im weitern Verlauf der Geschichte jene Fehler, Mißgriffe, Inkonsequenzen und katholisierenden
Verirrungen nicht bloß nicht als solche begriffen, sondern sie vielmehr erst recht in ein
System brachten.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrh. machte die Reformation die Runde durch die damalige
zivilisierte
Welt.
Rom
[* 7] zitterte; sogar die romanische
Welt schien ihr wie eine reife
Frucht in den
Schoß zu fallen. Aber schon
im Verlauf der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. war der
Protestantismus von sich selbst abgefallen und hatte die »reine
Lehre«
zu einem neuen Gesetzeskodex erhoben, den Theologendruck an die
Stelle des Priesterjochs gesetzt. Anstatt
die volle
Kraft
[* 8] der religiösen
Begeisterung und der sittlichen
Erhebung nach außen zu wenden, verzehrten die
Protestanten sich
in Lehrgezänk nach innen und verfielen dem
Irrtum, göttliche
Wahrheit in ihren dogmatischen
Formeln festgebannt zu haben.
Jetzt folgte
Niederlage auf
Niederlage; die
Jesuiten sogar trieben vielfach eine freiere
Theologie als die
orthodoxe Epigonenschaft der Reformation, und mit dem
Sieg derKonkordienformel (1580) ward die anfängliche Siegesgeschichte der Reformation, wenigstens
auf deutschem Gebiet, zur erschütternden Leidensgeschichte, ja zuweilen fast zur
Tragikomödie.
Richtig gewürdigt wird die
Sache der Reformation nur da, wo man sich entschließen kann, von den Mängeln ihrer
Ausführung abzusehen und die leitende
Idee ins
Auge
[* 9] zu fassen, welche nur einen durchaus neuen
Ansatz zur Verwirklichung des
christlichen
Prinzips selbst bedeuten kann. Hatte sich dieses im
Katholizismus eine einseitig religiöse und kirchliche Ausprägung
gegeben, so läuft die
Tendenz der Reformation durchaus auf ein im gutenSinn des
Wortes weltliches
Christentum, auf
eine Verwirklichung des christlichen
Prinzips vor allem im sittlichen
Leben hinaus, daher es sich lediglich von selbst versteht,
wenn die Reformation auf dem Gebiet der Kirchenbildung mit dem
Katholizismus nicht wetteifern kann; sie bedeutet vielmehr im
Prinzip
nichts andres als
die Zerstörung des »gesellschaftlichenWunders«, welches als
Kirche über den natürlichen
Organismen der sittlichen
Welt stehen will.
Von
Haus aus suchte und fand daher die Reformation
Fühlung mit dem
Staat; sowohl in
Deutschland
[* 10] als in der
Schweiz
[* 11] sehen wir eigentümliche
Formen des Staatskirchentums entstehen, das sich, wo die reformatorischen Prinzipien zu ungehemmter Entfaltung kommen,
überall in ein eigentliches Volkskirchentum umzusetzen bestrebt ist. Anstatt einer von einer wunderbaren
Legende als ihrer theoretischen Voraussetzung getragenen
Kirche über den Völkern zu dienen, will die Reformation das religiöse
Leben
der
Völker ihrer gesamten sonstigen Seinsweise eingliedern, so daß es zu einer gesunden
Funktion eines einheitlichen, aus
sich selbst heraus lebenden gesellschaftlichen
Organismus wird.
in
England jede
Bill, welche eine
Reform bezweckt, besonders aber die 1830, 1867 und 1885 über die Parlamentsreform
eingebrachten
Bills (s.
Großbritannien,
[* 17] S. 810, 825, 836).
Den Glaubensbegriff der neuen
Kirche bestimmte
UlrichZwingli (s. d.), namentlich in seinem
»Kommentar von der wahren
u. falschen
Religion« (Zürich
1525) sowie in seiner »Fidei ratio ad Carolum
¶
Dafür aber trat an die Stelle der deutschen Schweiz die französische, an die StelleZwinglisCalvin (s. d.) mit seinen Gehilfen,
welchem die reformierte Kirche ihre Entwickelung und Ausbreitung in der südlichen und westlichen Schweiz und dem angrenzenden Frankreich
verdankte. In Genf
[* 28] hatte bereits 1534 nach Vertreibung des Bischofs protestantische Religionsübung Platz gegriffen. Seit 1536 schlug
hier Calvin seinen Sitz auf. In Neuchâtel reformierte seit 1530 Farel (s. d.), in Lausanne
[* 29] seit 1531 Viret (s. d.). CalvinsGlaubenslehre
hebt die Verderbnis und Unfreiheit des gefallenen Menschen und als Gegengewicht vor allem die unbedingte
göttliche Vorherbestimmung hervor.
Zwinglis mehr im Geiste des Humanismus gehaltene Auffassung der christlichen Glaubenslehre trat seitdem in der reformierten Kirche
zurück. Die von ihm auf die Bedeutung einer Gedächtnisfeier reduzierte Auffassung des Abendmahls aber, worüber er mit Luther
zerfallen war, wurde von Calvin dahin gewendet, daß die Gläubigen eine von dem verherrlichten Leib Christi
ausgehende Kraft geistig, aber wahrhaft genießen. Daß aber der Mund in Brot
[* 30] und Wein nur Zeichen empfange, stand, im Gegensatz
zu Luther, für beide SchweizerReformatoren fest.
Durch seine Schriften, insbesondere seine »Institutio rel. christ.«, durch seine
Ratschläge und die zahlreichen Schüler, die er sich heranzog, machte Calvin seinen Einfluß bald über
die ganze reformierte Kirche geltend und erhob Genf
zu deren Mittelpunkt. Neben ihm übte TheodorBeza (s. d.) eine bedeutende, sowohl gelehrte
als kirchliche Wirksamkeit aus. Diese weite Verbreitung, welche die in reformierte Kirche Hessen,
[* 31] in der Pfalz, in Norddeutschland (Hamburg,
[* 32] Bremen,
[* 33] Brandenburg,
[* 34] Schlesien),
[* 35] in Polen und Ungarn,
[* 36] in Frankreich, England, Schottland und den Niederlanden
fand, brachte es auch mit sich, daß sie in so verschiedenen Ländern sich auch sehr verschiedenartig entwickelte und gestaltete.
War auch die GenferUniversität die Pflanzschule reformierter Geistlichen, so gelang es Calvin doch nicht, seinem strengen Lehrbegriff
von der Prädestination ganz unbedingte Geltung zu verschaffen. Unter den schweizerischen Bekenntnissen
vertreten in dieser Beziehung seine reine Lehre nur der »Consensus pastorum Genevensis ecclesiae« (1554) und die »Formula consensus
Helvetica« (1675). In den meisten außerschweizerischen Bekenntnissen wird dieses Dogma entweder infralapsarisch (s. Infralapsarii)
behandelt, oder geradezu umgangen.
dann zu London
[* 37] in der »Confessio Westmonasteriensis«
(1648) Bekenntnisse gaben. In denNiederlanden wurde zur Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Arminianern (s. d.) und
Schülern des Gomarus (s. d.) als ökumenisches Konzil der reformierten Kirche die Synode zu Dordrecht
[* 38] bis
abgehalten, deren Beschlüsse jedoch keineswegs ganz ungeteilte Anerkennung in allen reformierten Ländern
fanden. Die »ConfessioBelgica« und die »Confessio Gallicana« wurden auf der Synode unterzeichnet, welche die während des spanischen
Terrorismus nach dem deutschen Niederrhein geflüchteten holländischen Reformierten 1571 in Emden
[* 39] hielten (Emdener Glaubensbekenntnis);
an diese Flüchtlingsgemeinden schloß sich dann mit der Zeit die in reformierte Kirche den jetzigen
preußischen Rheinlanden an. Auch bildeten sich im 19. Jahrh. in Holland, der Schweiz, in Frankreich und Schottland (seit 1843)
Freie Gemeinden (s. d.). In Frankreich hatten die Reformierten (s. Hugenotten) durch Antoine de Chandieu, Prediger zu Paris,
[* 40] ihr
Bekenntnis erhalten, das als »Gallicarum ecclesiarum confessio fidei«
auf einer Synode zu Paris 1559 angenommen und dann auf einer Nationalsynode zu La Rochelle 1571 von neuem
als Bekenntnisschrift der französisch-reformierten Gemeinden anerkannt ward. Nachdem sie durch das Edikt von Nantes
[* 41] 1598 Duldung
erlangt hatten, sahen sie sich infolge der Aufhebung des letztern 1685 neuen heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Erst die
Revolution machte diesen traurigen Verhältnissen ein Ende, und erst 1830 erlangte die in reformierte Kirche Frankreich Gleichstellung mit
der katholischen. Aber jetzt kam es wegen des auch hier ausbrechenden Kampfes zwischen der Orthodoxie und der freien Richtung
zu den
¶