Titel
Polen
(hierzu Karte »Polen und [* 2] Westrußland«),
ehemaliges europäisches Reich, dessen Umfang zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedener war. Ursprünglich nur die Woiwodschaften Posen, [* 3] Gnesen, Kalisch, [* 4] Lublin, Rawa, Sieradz, Podlachien und Plozk umfassend, dehnte es sich bald auch über Schlesien [* 5] und Pommern [* 6] und eine Zeitlang sogar über Böhmen [* 7] und Mähren aus. Obwohl sich letztere Länder sowie Schlesien und Pommern im 12. und 13. Jahrh. unabhängig machten, so erwarb Polen dafür 1386 durch Heirat Litauen, später, wenn auch nur auf kurze Zeit, Livland [* 8] und Esthland, dazu die Lehnsherrschaft über Preußen, [* 9] Kurland mit Semgallen wie über die Moldau und Walachei und die Herrschaft über die Mehrzahl der Kosaken. Am größten war seine Ausdehnung [* 10] und Macht unter der Herrschaft der Jagellonen.
Unter Kasimir IV. (1466) hatte es ein Areal von ca. 1,173,000 qkm mit über 35 Mill. Einw. Selbst nach Verlust der Moldau und Walachei und andrer Gebietsteile umfaßte es unter dem letzten Jagellonen, Siegmund II. (gest. 1572), noch 1,040,000 qkm mit etwa 27 Mill. Einw. und vor seiner ersten Teilung (1772) 750,900 qkm mit über 12 Mill. Einw. Durch die drei Teilungen Polens fiel ein Areal von 483,700 qkm mit fast 6 Mill. Einw. an Rußland, 121,500 qkm mit 3,6 Mill. Einw. an Österreich [* 11] und 145,700 qkm mit 2,7 Mill. Einw. an Preußen. Man unterschied in Polen drei große Provinzen: Großpolen, Kleinpolen und Litauen (s. d.).
Das alte Polen war von 1572 an bis zur dritten Teilung (1795) eine aristokratische Republik mit einem Wahlkönig an der Spitze. Alle Gewalt ruhte in den Händen des Adels, der allein auf den Reichstagen das Volk vertrat. Der Bürgerstand war von denselben ganz ausgeschlossen, und außer dem König bestanden sie nur aus dem Senat, zu dem die Bischöfe, die Woiwoden oder lebenslänglichen Statthalter der einzelnen Landschaften, die Kastellane und die zwölf höchsten Staatsbeamten gehörten, und aus den Landboten (nuntii terrestres), den Repräsentanten des Adels, die von jeder Woiwodschaft in einer gewissen Anzahl gesandt wurden.
Der Reichstag war entweder ein ordentlicher, oder außerordentlicher, oder auch ein solcher, der während eines Interregnums wegen der Königswahl und Krönung gehalten wurde. Die ordentlichen Reichstage wurden vom König ausgeschrieben und alle zwei Jahre zweimal hintereinander in Warschau, [* 12] dann das dritte Mal in Grodno gehalten. Während bei Geldsachen die Mehrheit der Stimmen entschied, war bei Staatssachen Einhelligkeit derselben erforderlich, so daß ein einziger Landbote durch seinen Einspruch (das Liberum veto) den ganzen Beschluß ungültig machen und den Reichstag sprengen konnte.
Was die Königswahl betrifft, so trat nach dem Ableben des Königs eine Zwischenregierung (Interregnum) ein, indem der Primas von Polen und Litauen, der Erzbischof von Gnesen, als Reichsverweser fungierte. Der gewöhnliche Wahlort war auf einem freien, mit Graben und Wall umgebenen Feld bei dem Dorf Wola, unweit Warschau; an der Wahl selbst nahmen sowohl die Senatoren und Landboten als auch die Abgeordneten der Städte Krakau, [* 13] Posen, Wilna, [* 14] Lemberg, [* 15] Warschau, Danzig [* 16] und Thorn [* 17] teil; doch mußten letztere Abgeordnete stets der Wahl des Adels beitreten.
Der gewählte König mußte selbst oder durch Gesandte eine Wahlkapitulation (Pacta conventa) beschwören, welche die königliche Macht außerordentlich beschränkte; sodann wurde er als König ausgerufen und in der Kathedrale zu Krakau vom Erzbischof von Gnesen gekrönt. Von höchst nachteiligem Einfluß waren die sogen. Konföderationen, d. h. gesetzlich erlaubte Sonder- oder Parteibündnisse, welche durch Verteidigung ihrer Meinungen oft blutige Bürgerkriege hervorriefen (s. unten, Geschichte). Das Wappen [* 18] des polnischen Reichs war ein quadrierter Schild, [* 19] das erste und vierte Quartier mit dem weißen gekrönten polnischen Adler [* 20] im weißen Felde, das zweite und dritte mit einem silbernen geharnischten Reiter mit blauem Schild, goldenem Patriarchenkreuz und bloßem Säbel auf einem rennenden Pferde. [* 21] Der Herzschild enthielt das Familienwappen des Königs.
Das heutige, mit der Krone Rußland vereinigte sogen. Königreich Polen, bis 1866 ein selbständig verwalteter Teil des russischen Reichs, seitdem völlig mit demselben verschmolzen, grenzt im N. an die Provinzen Ost- und Westpreußen [* 22] und das russische Gouvernement Kowno, im O. an die Gouvernements Wilna, Grodno und Wolhynien, im S. an das österreichische Kronland Galizien, im W. an die preußischen Provinzen Schlesien und Posen und zerfällt (seit 1867) in zehn (vordem in fünf) Gouvernements: Kalisch, Kjelzy (Kielce), Lomsha, Lublin, Petrokow, Plozk, Radom, Sjedlez (Siedlce), Suwalki und Warschau, welche zusammen 127,311 qkm (2312 QM.) umfassen (näheres s. unter den einzelnen Gouvernements).
Die Bevölkerung [* 23] Polens betrug 1885: 7,960,304 Seelen. In betreff der Nationalität unterschied man 1870: 3,450,000 Polen (65 Proz.), 600,000 Russen (11 Proz.), 693,000 Israeliten (13 Proz.), 289,000 Deutsche [* 24] (5½ Proz.), 284,000 Litauer (5 Proz.), außerdem 3000 Franzosen, Engländer etc., 300 Tataren und 290 Zigeuner. Dem Religionsbekenntnis nach kamen 71,31 Proz. auf Katholiken, 5,67 Proz. auf Evangelische, 4,61 Proz. auf orthodoxe Griechen, 13,10 Proz. auf Juden etc. Die eigentlichen Polen gehören zur westlichen Abteilung der großen lettoslawischen Familie und sind von mittelgroßem, meist hagerm, aber kräftigem Körperbau.
Die hervorstehenden Backenknochen und die etwas eingedrückte Nase [* 25] deuten auf die slawische Abstammung. Man schreibt dem Polen leichte Beweglichkeit, schnelle Fassungsgabe, Sinn für schöne Formen, anderseits aber auch Zügellosigkeit, Leichtsinn, Jähzorn, Unzuverlässigkeit zu. Für frühere Jahrhunderte mag dies im ganzen zutreffend sein, dem genauern Beobachter aber zeigt sich ein großer Unterschied in den von den drei großen Nachbarstaaten erzielten Erziehungsresultaten des polnischen Volkes.
Die beste Bildung haben unzweifelhaft die Posener Polen bekommen, denn ohne gute polnische Eigenschaften aufzugeben, haben sie von den Deutschen Ausdauer und Sparsamkeit angenommen und deutsche Schulen durchgemacht, wodurch sie vorteilhaft von ihren unter russischem Zepter lebenden Brüdern abstechen. Die österreichischen Polen haben mit der Erhaltung größerer nationaler Eigenart auch ihre nationalen Fehler reiner erhalten: in unfruchtbarem Parteihader und kläglicher Pfaffenwirtschaft zersplittern sie ihre besten Kräfte.
Vgl. Andree, Polen in geographischer geschichtlicher etc. Hinsicht (Leipz. 1831);
Possart, Lukaszewicz und Mulkowski, Das Königreich Polen und der Freistaat Krakau (Stuttg. 1840);
Hervet, Ethnographie [* 26] Polens (Wien [* 27] 1871);
Leublfing, Wanderungen im westlichen Rußland (Leipz. 1875);
Janke, Skizzen aus dem europäischen Rußland (Berl. 1877);
Siwonenko, Vergleichende Statistik Polens (russ., Warsch. 1879);
Kolberg, [* 28] Das polnische Volk (poln., Krak. 1871 ff.);
Szuiski, Die Polen und Ruthenen in Galizien (Teschen 1882). ¶
Maßstab [* 30] 1:3700000.
Die Gouvernements-Hauptstädte sind unterstrichen.
Die Gouvernements, welche nicht den Namen ihres Hauptortes führen, sind beschrieben.
Anschluß s. Karte »Ostseeprovinzen« [* 8]
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Geschichte Polens.
(Hierzu die »Geschichtskarte von Polen«.)
Gründung des Reichs und Herrschaft der ersten Piasten.
Nach der sagenhaften Überlieferung gründete Piast, ein Bauer aus Kruswitz in Kujavien, um 840 die Dynastie, welche über das zwischen Warthe, Weichsel und Netze in Großpolen wohnende slawische Volk der Polen (Polänen, Lechen) herrschte. Doch ist das Reich wahrscheinlich durch die Eroberung eines polnischen Stammes entstanden, welcher in demselben sodann als zahlreicher Adel (Szlachta) eine herrschende Stellung einnahm und allein das Recht, Waffen [* 32] zu tragen, hatte.
Ihm unterthan war der Bauernstand, der teils aus Vollfreien oder nur persönlich Freien, dinglich aber Unfreien (Kmeci, Kmetones), teils aus persönlich und dinglich Unfreien (glebae adscripti) bestand. Die Bauern lebten in Schutzdistrikten (vicinia, opole) vereinigt, welche zu gemeinsamer Leistung öffentlicher Dienste, [* 33] namentlich für den Fürsten, verpflichtet und für vorgefallenen Mord gemeinschaftlich verantwortlich waren; ein Kastellan, der auf seiner Burg (Grod) saß, vertrat den Fürsten in Verwaltung und Rechtsprechung. Über den Kastellanen standen anfangs Teilfürsten (in den Landschaften Posen, Kalisch, Sieradz, Lentschiza und Kujavien), später die Palatine oder Woiwoden.
Der vierte Piast, der Überlieferung nach Mieczyslaw (Miesko), ward 963 vom deutschen Markgrafen Gero unterworfen; er ward Lehnsmann des Kaisers und mußte Tribut zahlen. Um 965 nahm derselbe das römisch-katholische Christentum an, und deutsche Priester gründeten das erste, dem Magdeburger Sprengel angehörige Bistum Posen. Sein Nachfolger Boleslaw I. Chrobry (der Kühne, 992-1025) beseitigte durch Gewalt seine Miterben, eroberte Pomerellen mit Danzig und riß bei Gelegenheit eines Thronwechsel in Böhmen die südpolnischen Provinzen Krakau und Sandomir (Kleinpolen) sowie Schlesien an sich. Während er mit Kaiser Otto III., der durch Errichtung des Erzstifts Gnesen Polen von dem Metropolitanverband mit Magdeburg [* 34] löste, in gutem Einvernehmen gestanden, fiel er nach dessen Tod in das Deutsche Reich ein, um die unter dessen Herrschaft stehenden slawischen Reiche und Stämme seiner Botmäßigkeit zu unterwerfen; 1002 erwarb er die Lausitz, 1003 Böhmen.
Kaiser Heinrich II. vermochte ihn trotz mehrerer Feldzüge gegen Polen nicht zu unterwerfen und mußte im Frieden von Bautzen [* 35] 1018 seine Unabhängigkeit anerkennen. Böhmen konnte Boleslaw freilich nicht behaupten, und auch seine Kriegszüge gegen die Russen, auf denen er bis nach Kiew [* 36] vordrang, verschafften ihm nur den Besitz der sogen. czerwenischen Städte (Rotrußland). Die Verbreitung des Christentums, selbst mit grausamer Härte gegen die Widerstrebenden, ließ er sich sehr angelegen sein, und mit Zustimmung des ihm sehr geneigten Klerus nahm er gegen Ende seines Lebens 1025 den Königstitel an.
Sein Sohn und Nachfolger Mieczyslaw (Miesko) II. (1025-34) vertrieb, um Alleinherrscher zu sein, seinen Bruder Otto, der erst zu den Russen, dann zu den Deutschen flüchtete. Nun fielen von allen Seiten die Feinde in Polen ein; die Dänen entrissen ihm Pomerellen, die Ungarn [* 37] die Slowakei, die Russen die czerwenischen Städte. Mieczyslaw richtete alle seine Kräfte gegen Deutschland, [* 38] unternahm verwüstende Heerzüge bis vor Magdeburg und zwang Kaiser Konrad II. zu einem erbitterten, schwierigen Krieg.
Schließlich aber mußte er die deutsch-slawischen Marken wieder an Deutschland abtreten und Polen seinem Bruder Otto überlassen, der als »Herzog« unter deutscher Lehnshoheit regierte. Nach Ottos Ermordung (1032) ward er nach Anerkennung der deutschen Oberhoheit auf dem Hoftag zu Merseburg [* 39] in die Herrschaft Polens wieder eingesetzt, die er bis zu seinem Tod behauptete. Für seinen unmündigen Sohn Kasimir I. (1034-58) führte dessen Mutter Richeza, eine Tochter des Pfalzgrafen bei Rhein, die Regierung, erregte aber durch Begünstigung der Fremden einen Aufstand der Szlachta, welche den jungen König vertrieb. Polen drohte nun in völlige Anarchie zu versinken und zu einem Nebenland des mächtigern Böhmenreichs herabgedrückt zu werden.
Aber Kaiser Heinrich III. begünstigte die Rückkehr Kasimirs auf den polnischen Thron, [* 40] den er nach langen Kämpfen endlich dauernd behauptete. Auch Schlesien gewann er gegen Zahlung eines Tributs von Böhmen zurück. Durch Wiederherstellung der kirchlichen Ordnung erlangte er die Gunst des Klerus und hinterließ die Herrschaft seinem ältesten Sohn, Boleslaw II. Smialy (dem Kühnen, 1058-81), so gefestigt, daß derselbe, begünstigt durch die innern Wirren in Deutschland und durch Thronstreitigkeiten in Ungarn und Böhmen, wieder erobernd auftreten und, wenn auch nur für kurze Zeit, Kiew in Besitz nehmen konnte. Seine Macht war so gestiegen, daß er am Weihnachtsfest 1076 mit großer Feierlichkeit sich die Königskrone aufsetzte. Als er aber im Streit mit dem Bischof Stanislaw von Krakau diesen in der Kirche mit eigner Hand [* 41] erschlug, mußte er Polen verlassen und starb in einem fernen Kloster.
Sein Bruder und Nachfolger Wladislaw I. Hermann (1081-1102) gab den Königstitel wieder auf. Er suchte das Land nördlich der Netze den Pommern wieder zu entreißen, wurde aber daran durch den Aufstand seines natürlichen Sohns Zbygniew gehindert, dem sich später auch sein legitimer Sohn Boleslaw III. Krzywousty (Schiefmaul) anschloß. Beide erzwangen von ihrem Vater die Entfernung seines Günstlings, des Palatins Sieciech, und setzten sich schon bei Lebzeiten desselben in den Besitz großer Teile des Reichs.
Nach Wladislaws Tod (1102) teilten sich die Brüder das Land, gerieten jedoch bald in Streit. Zbygniew unterlag, behielt bloß Masovien als Vasallenherzog und wurde, als er seine Feindseligkeiten fortsetzte, 1111 auf Boleslaws Befehl ermordet. Boleslaw unternahm viele Kriegszüge nach Pommern, Mähren und Rußland führte auch mit Kaiser Heinrich V. nicht unglücklich Krieg, eroberte aber nur Pommern nebst Rügen, für das er 1134 in Merseburg vor Kaiser Lothar die deutsche Oberlehnshoheit anerkennen und sich zu einem zwölfjährigen Tribut verstehen mußte. Bei seinem Tod (1139) teilte er das Reich unter seine vier mündigen Söhne derart, daß der älteste, Wladislaw II., Krakau und Schlesien sowie eine Oberhoheit (Prinzipat) über seine Brüder haben, Boleslaw IV. Kendzierzawy (der Kraushaarige) Masovien und Kujavien, Mieczyslaw Stary Gnesen und Pommern, Heinrich Sandomir erhalten sollte.
Zersplitterung und Neubegründung des Reichs.
Diese Zersplitterung Polens hatte aufreibende innere Kämpfe zur Folge. Wladislaw II., der seine Brüder zu unterdrücken suchte, wurde von Boleslaw IV. zur Flucht nach Deutschland genötigt. Auf seinen Antrieb unternahm Kaiser Friedrich I. einen Zug nach Polen, auf dem er bis Posen siegreich vordrang und Boleslaw zur Anerkennung der deutschen Oberhoheit zwang. Das Prinzipat behauptete Boleslaw ¶