mehr
Die Platonische Philosophie selbst ist so wenig wie irgend eine andre Erscheinung in der Geschichte der Philosophie gleich Pallas aus Zeus' [* 2] Haupt entsprungen, sondern durch Aneignung und Fortbildung der Vorgänger entstanden. Platon hat schon vor seinem Bekanntwerden mit Sokrates durch seinen Lehrer, den Herakliteer Kratylos, Anregungen aus der Schule des »ewigen Flusses«; nachdem Tode des Sokrates durch seinen Aufenthalt in Megara und seine Bekanntschaft mit der eleatischen Philosophie solche aus der Schule des »ewigen Seins« empfangen.
Durch beide wurde er bestimmt, im Gegensatz zu Sokrates, welcher im Kampf gegen die Sophisten die logischen und ethischen Probleme vorangestellt hatte, wieder auf die metaphysischen zurückzugehen und an die Spitze der Philosophie nicht sowohl die Frage nach dem Wahren und Guten, als nach dem wahrhaft Wirklichen (dem schlechthin Seienden) zu stellen. Erstere sollten dadurch keineswegs beseitigt oder zurückgesetzt, sondern vielmehr mit der letztern auf das innigste verschmolzen werden.
Das
Mittel dazu bot die Sokratische
Lehre
[* 3] vom
Begriff, welche dieser der Leugnung eines allgemeinen Wahren
und
Guten durch die
Sophisten entgegengestellt hatte. Der
Begriff als Zusammenfassung der allen
Gliedern einer Art gemeinsamen
Merkmale ist ein Unveränderliches und Bleibendes, das allen individuell verschiedenen Auffassungen desselben, wie der Gattungscharakter
allen individuell verschiedenen
Exemplaren der
Gattung, zu
Grunde liegt. Derselbe besitzt (als Bleibendes)
diejenige
Eigenschaft, welche sowohl Herakliteer, die das »Anderswerden«, als
Eleaten, welche die »Unveränderlichkeit« für das Bleibende erklären,
als
Wesen des Seienden ansehen.
Derselbe besitzt aber ferner (als »Einheit der Vielheit«) jene Eigenschaften vereinigt, deren jede für sich von einer der beiden entgegengesetzten Schulen (von den Eleaten die »Einheit ohne Vielheit«, von den Herakliteern die »Vielheit ohne Einheit«) als Wesen des Seienden ausgegeben wird. Durch erstere Bemerkung wird Platon veranlaßt, den »Begriff« (das Allgemeine, die Gattung) für das wahrhaft Seiende zu erklären. Letztere Bemerkung führt ihn dahin, jedes wahrhaft Seiende als eine »Vereinigung von Gegensätzen«, als eine »Harmonie«, anzusehen. Da nun nach Sokrates der Begriff allein Wissen (Wahrheit),
das Gute (die Tugend) aber »lehrbar«, also selbst Wissen (Begriff) ist, so fallen, nachdem der Begriff durch Platon zum allein wahrhaft Seienden erhoben worden ist, die Umfänge des Wahren und Guten (also des Vernünftigen einer-) und des Seienden (des Wirklichen anderseits) in Eins zusammen. Dieses Vernünftige, welches wirklich, und Wirkliche, welches vernünftig ist (das realisierte Vernünftige), nennt Platon Idee und macht es zum ausschließlichen Gegenstand seiner Philosophie als Ideenlehre.
Dasselbe ist jedoch keineswegs ein einziges (wie das Sein der Eleaten), sondern da es der Begriffe viele gibt (z. B. Begriff des Guten, des Schönen, der Seele, des Staats etc.) und die Ideen eben nichts andres als hypostasierte Begriffe sind, so muß es nicht nur viele Ideen geben, sondern dieselben müssen auch untereinander (wie es bei den Begriffen der Fall ist) in mannigfache Verhältnissen der Über- und Unterordnung, Begründung und Abfolge etc. zu einander stehen, und es muß eine Idee geben, welche als »Sonne [* 4] im Ideenreich« alle übrigen Ideen unter sich befaßt.
Als diese wird von Platon die Idee des Guten bezeichnet und dadurch der streng ethisch vollkommene Charakter des gesamten Ideen- als des schlechthinnigen Vernunftreichs aufs stärkste betont. Ebendarum aber sieht sich auch Platon im Hinblick auf den unvollkommenen Charakter der sinnlich wahrnehmbaren Welt genötigt, zuzugestehen, daß die Welt der Ideen »nicht von dieser Welt«, sondern als metaphysische Welt zwar das Muster- und Vorbild dieser Welt, selbst aber eine »außer«-, bez. »überweltliche« Welt sei. Platon versetzt daher dieselbe, indem er zum mythischen Ausdruck seine Zuflucht nimmt, in eine jenseit des Fixsterngewölbes auf dessen von uns abgekehrter Seite gelegene und deshalb irdischen Blicken unzugängliche Region, das sogen. Empyreum (den Feuerraum der Pythagoreer).
Der Einblick in diese (außer der
Sinnlichkeit gelegene)
Welt ist der
Seele nur, bevor sie in die sinnliche
Welt eintritt
(vor der
Geburt in einen irdischen Leib), oder während des irdischen Daseins
nur in
Momenten und Zuständen gestattet,
wo sie selbst von den
Banden der
Sinnlichkeit frei, also entweder (wie der
Seher und Dichter) von einem »heiligen
Wahnsinn« berauscht,
oder (wie der
Philosoph) über die niedern
Stufen des sinnlichen Wahrnehmens und mathematischen
Denkens
hinaus in den
Besitz der
Philosophie (der Ideenlehre) gelangt ist.
Wie die Ideenwelt die einzige wirkliche Welt, so ist die Ideenlehre die einzige wirkliche Wissenschaft, obgleich niemand ohne Vorbereitung durch das Studium der »Geometrie« (der mathematischen Wissenschaften) zu derselben gelangen kann. Dieselbe ist im Grund als Wissenschaft vom wahrhaft Seienden (nach modernem Sprachgebrauch) ausschließlich Metaphysik, da das Seiende aber mit dem Wahren und Guten identisch ist, zugleich Logik und Ethik. Eine Scheidung der einzelnen philosophischen Disziplinen findet daher bei Platon ebensowenig statt wie (trotz mannigfacher Ansätze) ein eigentliches System.
Dagegen wird von dem ausschließlichen Gegenstand der Philosophie (den Ideen) entweder im allgemeinen (von deren Wesen, Eigenschaften, Zusammenhang etc.) oder im besondern (von Wesen, Eigenschaften, Folgen etc. einzelner Ideen) gehandelt. Jenes geschieht in der sogen. Dialektik, die er die Wissenschaft vom wahrhaft und unwandelbar Seienden nennt, dieses in den gesprächsweise belehrenden Abhandlungen einzelner Ideen (wie z. B. jener des Schönen im Gastmahl, des Guten im Philebos, des Staats in der Republik, der Seele im Phädon, des Weltgebäudes im Timäos u. dgl.), welche die Stelle der einzelnen philosophischen Wissenschaften (Ästhetik, Ethik, Politik, Psychologie, Kosmologie etc.) vertreten.
Die
Methode, die er in diesen befolgt, besteht darin, daß er das Seiende, welches als
Idee eine »Vereinigung
von
Gegensätzen« ist, zuerst in seine
Gegensätze zerlegt und durch ein gemeinsames
Band
[* 5] dieser letztern das richtige
Verhältnis,
die
Harmonie zwischen den
Gegensätzen, herstellt. So ist die
Seele als
Idee zwar ein »Einfaches«; aber sie setzt nichtsdestoweniger
»Teile« voraus, die sich zu einander wie »Vernünftiges«
und »Vernunftloses« (also als
Gegensätze) verhalten, und deren letzterer abermals in zwei Teile, einen bessern (dem Vernünftigen
verwandten) und einen schlechtern (vom Vernünftigen abgewandten),
gespalten ist. Durch den zwar vernunftlosen, aber der Vernunft nicht ab-, sondern zugewandten Teil (den Platon den »Mut« nennt) wird zwischen der Vernunft und ihrem Gegenteil ein Band hergestellt und durch dieses das »Leben«, welches »Eins mit der Seele« ist und zu dieser gehört wie »die Wärme [* 6] zum Feuer«. Da nun das Feuer zu erwärmen nicht aufhören kann, so schließt Platon, daß auch die Seele zu leben nicht aufhören und ebensowenig zu leben angefangen haben könne, und erweist mittels dessen sowohl die Präexistenz der Seele vor der ¶
mehr
Geburt als deren Fortdauer nach dem Tod. Im Anschluß hieran fällt die Tugend als Idee mit der Gerechtigkeit, d. h. mit dem richtigen
Verhältnis der Seelenkräfte, der Staat als Idee mit dem richtigen Verhältnis der Staatskräfte (der Lehr-, Wehr- und Nährkraft),
welche durch die Stände der Philosophen, Wächter (Krieger) und Gewerbtreibenden repräsentiert werden,
zu- und untereinander zusammen. Dieses Platonische Staatsideal, in dessen Verfolg Platon zur Erreichung des Staatszweckes zu den
rücksichtslosesten Folgerungen (Aufhebung der Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen, der Familie, des Eigentums, Einführung
der Weibergemeinschaft, gemeins
chaftliche Erziehung etc.) fortging, ist, wie es selbst in teilweiser Nachahmung des spartanischen
Staatswesens entstanden war, das an Genialität unerreichte Vorbild aller spätern »Utopien«
und »Ikarien« (auch der kirchlichen Hierarchie im Mittelalter) geworden.
Ungeachtet nun Platon die Ideenlehre für die einzige wirkliche Wissenschaft erklärt, hat er es doch so wenig wie die elegischen Philosophen verschmäht, neben dieselbe als Wissenschaft von der übersinnlichen Welt eine Physik als Lehre von der sinnlichen oder Erscheinungswelt zu setzen. Zwar kommt der letztern kein wirkliches, jedoch gewissermaßen ein »zwischen Sein und Nichtsein schwebendes«, aus beiden gemischtes Sein oder »Werden« zu, wie auch die Eleaten die scheinbare Welt für Bewegung erklärten.
Als Substrat derselben läßt eine chaotische Masse (dem Material der Handwerker ähnlich) existieren, aus welcher der Weltbildner (Demiurgos) die sichtbare Welt nach dem Muster der (unsichtbaren) Ideenwelt (wie der Schreiner den Tisch, nach dem Muster der Idee eines solchen, aus Holz) [* 8] gestaltet. Das Band zwischen beiden und zugleich das die sichtbare Welt bewegende Prinzip nennt Platon die Weltseele und betrachtet das Universum als ein aus Leib und Seele bestehendes, mit Vernunft begabtes, weder alterndes, noch vergehendes, sich selbst genügendes Wesen, als einen »seligen Gott«.
Seine Gestalt ist, als die vollkommenste, die Kugelform, seine Bewegung, als die vollkommenste, die Kreisbewegung um die im Mittelpunkt ruhende Erde, welche Mond, [* 9] Sonne, fünf Planeten [* 10] und am äußersten Rande die Fixsternsphäre umkreisen. Nach den Weltkörpern bildete der Demiurg aus demselben Stoff die Seelen nach der Zahl der Gestirne, welche, wenn das Materielle in ihnen das Höhere überwältigte, von diesen zur Erde herabsinken und indische Leiber annehmen mußten, wenn sie aber während des Erdenlebens der Sinnlichkeit zu widerstehen vermocht hatten, nach dem Tod wieder von denselben befreit werden konnten.
Diese (orientalische) Idee der Seelenwanderung ist, mannigfach mythisch ausgeschmückt, von Platon auf seine oft mehr phantastische als philosophischen Nachfolger übergegangen. Dieselben hatten anfänglich ihren Sitz in Gestalt einer förmlichen Korporation unter dem Vorsitz sich nacheinander ablösender Scholarchen zu Athen [* 11] in der Akademie, wo Platon gelehrt hatte, und die seitdem ihren Namen auf Universitäten und Akademien vererbt hat, und werden daher selbst als Akademiker bezeichnet. Der erste Vorsteher der Schule (347-339) war Speusippos, Platons Schwestersohn, auf welchen Xenokrates (339-314), Polemon (314-270), Krates (s. d. 1) und Arkesilaos (316-241) folgten.
Mit letzterm beginnt die sogen. »mittlere«, mit Karneades (214-129) die sogen. »neuere« Akademie (beide im Gegensatz zur »ältern« so unterschieden), in welcher der Platonismus durch Polemik gegen die stoische Erkenntnistheorie in völligen Skeptizismus ausartete und dadurch dem Mystizismus der sogen. Neuplatoniker (s. Neuplatonismus) den Weg bahnte. Durch diese hat derselbe in das Christentum und in die scholastische Philosophie Eingang gefunden, bis nach der Wiederbelebung der klassischen Studien der echte Platonismus wieder entdeckt und in der Philosophie der neuern Zeit in mannigfach modifizierter Gestalt als Idealismus, Rationalismus und Spiritualismus dem Realismus, Empirismus und Materialismus entgegengesetzt wurde.
Vgl. Tennemann, System der Platonischen Philosophie (Leipz. 1792-95, 4 Bde.);
Ast, Platons Leben und Schriften (das. 1816);
Derselbe, Lexicon Platonicum (das. 1834-38, 3 Bde.);
K. F. Hermann, Geschichte und System der Platonischen Philosophie (Heidelb. 1839, Bd. 1);
Bonitz, Platonische Studien (2. Aufl., Berl. 1875);
Susemihl, Die genetische Entwickelung der Platonischen Philosophie (Leipz. 1855-60, 2 Bde.);
Grote, Platon and the other companions of Sokrates (4. Aufl., Lond. 1885);
v. Stein, Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus (Götting. 1869-75, 3 Bde.);
Steinhart, Platons Leben (Leipz. 1873);
Weygoldt, Die Platonische Philosophie für Höhergebildete dargestellt (das. 1885);
Überweg, Über die Echtheit und Zeitfolge Platonischer Schriften (Wien [* 12] 1861);
Teuffel, Übersicht der Platonischen Litteratur (Tübing. 1874).