Anzuerkennen ist der von den Physiokraten zuerst wissenschaftlich begründete
Gedanke, daß die
Steuer nur von Überschüssen
über die
Kosten zu nehmen sei,
Anerkennung insbesondere verdient der ethische
Gehalt ihrer Bestrebungen
und ihr
Kampf gegen die zumal in den obern
Kreisen herrschende Sittenlosigkeit des 18. Jahrh. Eine Sammlung physiokratischer
Schriften gab Daire heraus in Guillaumins »Collection des principaux économistes«
(Bd. 2, Par. 1846).
Vgl.
Kellner, Zur Geschichte des Physiokratismus
(Götting. 1847).
(griech.), die
Lehre
[* 2] vom
Leben oder von dem
Komplex derjenigen
Erscheinungen, welche den
Organismen eigentümlich sind; Aufgabe der Physiologie ist es, diese
Erscheinungen auf ihre
Gesetze zurückzuführen. Der
Natur der Organismen
nach zerfällt die Physiologie in die
Pflanzenphysiologie (Phytophysiologie, s.
Botanik) und in die Tierphysiologie (Zoophysiologie);
von den verwandten Gebieten der
Botanik und
Zoologie unterscheiden sich beide dadurch, daß sie erklärende,
die andern aber nur beschreibende
Naturwissenschaften darstellen.
Auch die
Beschreibung des
Baues der lebenden
Körper gehört nicht in das Gebiet der Physiologie, sondern bildet einen besondern Wissenszweig,
die
Anatomie. Man spricht von allgemeiner Physiologie und von spezieller Physiologie; erstere beschäftigt
sich mit den allen lebenden
Wesen eigentümlichen
Erscheinungen, letztere beschränkt ihre Thätigkeit
auf bestimmte Organismen, z. B. den
Menschen, die
Haustiere oder das gesamte
Tierreich (vergleichende Physiologie). Wie alle
Naturwissenschaften,
so ist auch die eine empirische oder Erfahrungswissenschaft; sie muß zunächst eingehend die Lebenserscheinungen beobachten,
bevor sie nach den
Ursachen derselben forscht.
Charakteristisch für die Physiologie aber ist es, daß sie die
Lehren
[* 3] der
Physik und
Chemie zugleich unter Berücksichtigung der bis
an die
Grenzen
[* 4] des
Erkennens beobachtete morphologischen
Eigenschaften der lebenden
Körper zur Anwendung
bringt. Baut sich so die Physiologie aus den exakten
Naturwissenschaften auf, so gibt sie selbst wieder die Grundlage für zahlreiche
Disziplinen ab. Die praktische
Heilkunde ist zum großen Teil eine angewandte Physiologie; die
Elektrotherapie ist direkt aus der Physiologie hervorgegangen,
die
Augenheilkunde ist allein durch die Physiologie zu ihrem hohen Ansehen in der Gegenwart gelangt.
Die
Heilmittellehre hat nur wissenschaftlichen Wert, soweit sie bestrebt ist, die physiologische
Wirkung der Arzneien zu erklären.
Nicht minder liefert die Physiologie der
Gesundheitspflege die wissenschaftliche
Grundlage. Die
Psychologie würde nur den Wert einer
rein spekulativen
Disziplin besitzen, wäre die Empfindungslehre nicht durch die Physiologie empirisch begründet.
Von allen
Wissenschaften bietet die Physiologie die wichtigsten
Mittel zur Selbstkenntnis und Menschenkenntnis, und ihre Bedeutung für
die
Kulturgeschichte,
Pädagogik etc. ist gar nicht hoch genug anzuschlagen.
Tier- und Pflanzenproduktion endlich, die wichtigsten
Zweige der
Landwirtschaft, finden ihr wissenschaftliches
Fundament in der Physiologie. - Zur Erforschung der Lebenserscheinungen
dienen der Physiologie die
Beobachtung und das
Experiment.
Gegenüber den verwickelte Lebenserscheinungen ist die
Beobachtung allein ein durchaus ungenügendes Hilfsmittel, und die
Physiologie bedarf deshalb in ausgedehntem
Maßstab
[* 5] des
Experiments. Die bei letzterm in Anwendung kommenden
Methoden sind vielfach die
gewöhnlichen
Methoden der
Chemie und
Physik, die allerdings für die speziellen Anforderungen der eine
besondere
Ausbildung erfahren haben. Hierneben finden aber auch chirurgische und anatomische
Technik Anwendung (vgl.
Vivisektion).
Hinsichtlich des
Wertes der
Beobachtung sei noch bemerkt, daß die Physiologie auch durch die Selbstbeobachtung und selbst durch die
Beobachtung am
Krankenbett wertvolle Aufschlüsse erhalten hat.
Letzteres trifft namentlich für die Physiologie des
Gehirns zu; eine sorgfältige klinische
Beobachtung, unterstützt durch eine eingehende Untersuchung der
Leichen, vermochte
regelmäßige Beziehungen zwischen bestimmten, anatomisch scharf begrenzten Teilen und vorher beobachtete Funktionsstörungen
nachzuweisen und gestattete auf diesem Weg wichtige
Schlüsse auf die
Funktion von Körperteilen, die der experimentelle Forschung
aus naheliegenden
Gründen nicht direkt zugänglich sind.
Bei der Unzulänglichkeit alles
Wissens liegt es auf der
Hand,
[* 6] daß eine
Wissenschaft, die sich mit den höchsten Aufgaben,
die der Menschengeist sich überhaupt stellen kann, mit der
Erklärung der Lebenserscheinungen, beschäftigt, zur Zeit noch
keinen irgend abgeschlossenen
Bau aufweist, daß die Physiologie vielmehr neben außerordentlich zahlreichen
Thatsachen,
deren Richtigkeit jederzeit durch logisch-mathematische
Deduktion bewiesen werden kann, noch über bedeutende
Lücken verfügt,
die einstweilen nur durch
Vermutungen ausgefüllt werden können. Die Physiologie unterscheidet sich hierin nicht von andern exakten
Wissenschaften, z. B. von der
Physik oder
Astronomie.
[* 7]
Naturphilosophen etwas eingedämmt und der Erfahrung eine größere Bedeutung für die Würdigung der Lebenserscheinungen
zuerteilt zu haben. Erst Aristoteles (384-322) hat mit der erforderlichen Objektivität physiologische Thatsachen gesammelt,
zahlreiche Beobachtungen angestellt, mancherlei Entdeckungen von Bedeutung gemacht und das Ganze mit seltenem Scharfsinn in
ein System gebracht, welches trotz zahlloser unrichtiger Behauptungen und sonstiger Mängel lange Zeit
hindurch unter dem Namen der Aristotelischen Physiologie sich erhielt.
Aristoteles suchte die Lebensvorgänge im Zusammenhang zu erklären, allerdings auf Grund einer Zweckmäßigkeitslehre, die
jeden exakten Boden vermissen läßt. Man kann Galenos (131-200) als denjenigen bezeichnen, der die Physiologie zuerst zum Rang einer
selbständigen Wissenschaft zu erheben trachtete. Er bildete die Physiologie als die Lehre vom Gebrauch der Organe
aus und stellte sich zahlreiche Fragen, die er durch Tierversuche beantwortete. Er beschrieb und erklärte die Funktionen methodisch
und so vollständig, wie das zu seiner Zeit überhaupt möglich war.
Sein genialer Geist errichtete ein Gebäude, das durch Scharfsinn und Geschlossenheit imponierte, und das
fast 1½ Jahrtausende hindurch in voller Geltung sich erhielt, ein Erfolg, wie er in der Geschichte der Wissenschaften ganz
einzig dasteht, und der nur erklärt werden kann aus dem Umstand, daß Galenos den Anforderungen der Ärzte wie denen der Geistlichen
im gleichen Grad gerecht wurde. Preisen ihn erstere wegen seines Materialismus, so thaten die andern dasselbe
wegen seiner theologischen Auffassung.
Denn so sehr Galenos bemüht war, die Lebensvorgänge auf natürliche Ursachen zurückzuführen, so erblickte er doch überall
eine gewollte Zweckmäßigkeit und bewunderte deshalb die Weisheit des Schöpfers. Die Macht der physiologischen ScholastikGalenos' geriet erst ins Wanken, als Paracelsus (1493-1541) durch die Originalität seiner Ideen die Medizin
neu belebte und zum erstenmal die Physiologie in deutscher Sprache
[* 12] lehrte. Mit noch größerer Schärfe trat Helmont (1577-1644) gegen
Galenos auf, doch vermochten heide Männer trotz erheblicher Fortschritte keine gründliche Reform der Physiologie herbeizuführen.
Erst Harvey (1578-1657) war es vorbehalten, durch die Entdeckung des Blutkreislaufs die Grundlage für eine
methodische Experimentalphysiologie zu schaffen, welche die Physiologie zum Rang einer exakten Wissenschaft erheben und den altersgrauen
LehrsätzenGalenos' die Herrschaft entreißen sollte. Hatte zwar schon letzterer mit Hilfe des Tierexperiments manche wichtige
Thatsache ermittelt, so waren derartige Versuche doch so gut wie völlig in Vergessenheit geraten, und
ein blinder Autoritätsglaube beherrschte fast 1½ Jahrtausende hindurch das Gebiet der Physiologie. Erst Harvey wies in überzeugender
Weise nach, daß das Experiment das wichtigste Hilfsmittel physiologischer Forschung sei, und durch die streng logische Methode,
mit der er auf experimenteller Grundlage vorging, hat er wahrhaft reformatorisch gewirkt. Es ist bezeichnend
für den Scharfsinn des Reformators, daß die im J. 1628 gegebene Darstellung seiner Entdeckung des Blutkreislaufs sachlich und
formal auch heute noch als korrekt angesehen werden kann.
Die neue Richtung wurde wesentlich gefördert durch Descartes (1596-1650). Sein umfassende Geist erkannte zuerst,
daß die lebenden Wesen physisch als Maschinen aufzufassen seien; er lehrte zuerst, daß die Wärme
[* 13] im Körper selbst gebildet
werde; er sprach zuerst von Reflexbewegungen. Außerordentliche Verdienste besitzt
Descartes weiter um die Forderung der Sinnesphysiologie,
er bereicherte die physiologische Akustik und führte die Akkommodation des Auges auf Formveränderungen der Linse
[* 14] zurück. Einen sehr namhaften Fortschritt bekundet noch die scharfsinnige Art und Weise, mit der Borelli (1608-79) die exakten
Untersuchungsmethoden und LehrsätzeGalileis auf die Ortsbewegungen der Tiere in Anwendung brachte.
Leider beharrte die Physiologie nicht auf der exakten Bahn, der sie so hervorragende Fortschritte zu verdanken hatte; sie wurde bald
der Sammelplatz aller möglichen Hypothesen, und sie konnte nur durch den klaren Geist und das umfassende WisseneinesHaller
(1708 bis 1777) vor weiterm Verfall geschützt werden. HatzwarHaller auch als ForscherGroßes geleistet, so liegt seine eigentliche
Bedeutung doch mehr darin, daß er mit scharfem Verstand ein erstaunliches Wissen verband. Er beherrschte
die ganze physiologische Litteratur und hat sich durch eine scharfe Kritik und Zusammenfassung der bis dahin überhaupt ermittelten
Thatsachen bleibenden Ruhm erworben. Er gab die erste vollständige Darstellung der Physiologie auf streng naturwissenschaftlicher Basis.
Nochmals indessen sollte die eine Periode durchlaufen, in der wüste Spekulation über nüchterne Objektivität
siegte. Trotzdem Spallanzani (1729-99) die Verdauungslehre, Hales (1677-1761) die Lehre vom Blutdruck und von der Saftbewegung
in den Pflanzen begründeten, trotzdem der Holländer Ingen-Houß (1730-99) die Atmung der Pflanzen und die Aufnahme der Kohlensäure
durch die Pflanzen entdeckte, trotzdem durch die EntdeckungenPriestleys und Lavoisiers die Basis für eine
Theorie der Respiration geschaffen wurde und Bell (1774-1842) die fundamentale Thatsache von der funktionellen Verschiedenheit
der vordern und hintern Rückenmarksstränge ermittelte, trotzdem Galvani (1737-98) die tierische Elektrizität
[* 15] entdeckte,
neigte die Physiologie mehr und mehr nach der spekulativen Seite hin, und Physiologen der damaligen Zeit, wie Reil, Blumenbach, Burdach
und Oken, sind ausgesprochene Naturphilosophen.
Nunmehr begann auf physiologischem Gebiet allerwärts ein Schaffen, welches die schönsten Früchte zeitigte
und durch die von Magendie (1783-1855), Flourens (1803-1873), ClaudeBernard (1813-78) und Ludwig begründete moderne Experimentalphysiologie
ganz wesentlich gefördert wurde. Schwann (1810-82) und Schleiden (1804-81) begründeten die Zellenlehre, der die Physiologie zahlreiche
Anregung zu dem fruchtbringenden Schaffen verdankt. Der ArztRobertMayer (1814-78) entdeckte das mechanische Wärmeäquivalent,
welches erst der eine streng mathematische Grundlage geben konnte. Chladni, vor allen Dingen jedoch Helmholtz,
begründeten die Lehre von den Tonempfindungen, und letzterer wirkte auf dem Gebiet der Lehre von der physiologischen Optik
geradezu revolutionär. Fechner begründete die Psychophysik, Du Bois-Reymond die
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