Stadt- und Landphysici. Die
Funktionen des Physikus sind hauptsächlich folgende: Er hat über die Gesundheitsverhältnisse seines
Bezirks zu wachen, beim
Ausbruch einer
Seuche über die
Natur derselben, ihre Ansteckungsfähigkeit, ihre
Ursachen,
Tödlichkeit
etc.
Beobachtungen anzustellen, gegen ihre weitere Verbreitung die geeigneten Maßregeln, als
Absperrung etc., anzuordnen;
dasselbe gilt in Bezug auf
Viehseuchen, im Einvernehmen mit
Tierärzten. Auch hat er die Einimpfung der
Schutzpocken zu besorgen und sonstige medizinalpolizeiliche
Funktionen auszuüben. Auch wird der Physikus von der Obrigkeit requiriert,
um über vorgefallene Verwundungen,
Vergiftungen, zweifelhafte
Seelen- und Körperzustände etc.
Gutachten abzugeben. Die
Qualifikation
als Physikus wird durch die
Anstellung nach bestandenem Physikatsexamen erworben. In manchen
Ländern ist statt
Physikus der
NameGerichtsarzt oder Bezirksarzt eingeführt.
Obschon diese
Theorie mit den
Beobachtungen des täglichen
Lebens im augenscheinlichsten
Widerspruch steht, hat sie sich doch
mit merkwürdiger
Zähigkeit erhalten und nicht allein bei den astrologischen und chiromantischen
Zeichendeutern des
Mittelalters,
sondern selbst noch in neuester Zeit Anhänger und Nachahmer gefunden. Als begeisterter
Prophet einer
neuen physiognomischen
Ära trat
Lavater auf, und seine orakelhaften, mit großer Zuversichtlichkeit verkündeten physiognomischen
Urteilssprüche machten bei Gebildeten und Ungebildeten ein gewaltiges Aufsehen, obgleich schon damals
Lichtenberg in sehr
drastischer
Weise die hohle Phrasenhaftigkeit der Lavaterschen
Offenbarungen und Behauptungen geißelte
(»Fragment von
Schwänzen«).
Auf wissenschaftlichen Wert oder praktische Brechbarkeit können dieselben allerdings keinen Anspruch
machen, da für
Lavater nicht logische
Gründe, sondern nur persönliche
Gefühle und die
Institutionen seiner vermeintlichen
physiognomischen Divinationsgabe maßgebend sind.
Beweise und verständliche
Grundsätze wird
man in seinem vierbändigen Werk
»Physiognomische
Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« vergeblich suchen.
Auch die Gallsche
Schädellehre
[* 4] hat den anfänglich von ihr erwarteten Nutzen für die Physiognomik nicht gehabt,
da die phrenologischen
Hypothesen sich als wissenschaftlich unhaltbar herausgestellt haben. Zudem trifft die Voraussetzung,
daß die Hervorragungen der Gehirnoberfläche an der äußern Schädeldecke erkennbar seien, für den untern Teil des Stirnknochens
gar nicht zu, da die Form
desselben von derGröße und Gestaltung der in seinem Innern befindlichen
Knochenhöhlen
abhängig ist.
Th.
Piderit
(»Mimik
[* 5] und Physiognomik«, 2. Aufl.,
Detmold
[* 6] 1886) hat das
Verdienst zuerst die Physiognomik einer wissenschaftlichen Behandlungsweise
zugänglich gemacht zu haben Brauchbare physiognomische Merkmale darf man nicht an den festen Knochenformen, sondern nur
an denjenigen Gesichtsteilen zu finden erwarten, die unter dem Einfluß der Seelenthätigkeit stehen,
d. h. an den beweglichen
Muskeln.
[* 7]
Mimische, durch
Leidenschaften und
Stimmungen hervorgerufene
Züge werden durch häufige Wiederholung
allmählich zu bleibenden physiognomischen
Zügen, und ein physiognomischer Zug
ist anzusehen als ein habituell gewordener mimischer
Zug.
Von diesem
Prinzip ausgehend, benutzt
Piderit die von ihm zur
Erklärung der mimischen Gesichtsmuskelbewegungen
angestellten
Grundsätze, um darauf ein mit logischer
Konsequenz durchgeführtes
System rationeller Physiognomik zu basieren.
Ursprung und Bedeutung der einzelnen physiognomischen
Züge an
Augen,
Mund,
Nase
[* 8] etc. werden eingehend nachgewiesen und dieselben
durch instruktive schematische
Zeichnungen veranschaulicht (s.
Mimik). Aber auch diese durch Muskelspannung hervorgerufenen
physiognomischen
Züge können täuschen und zu falschen
Schlüssen verleiten, da nicht allein durch häufig
wiederholte
Gemütsbewegungen, sondern auch durch mancherlei andre
Ursachen
(Krankheiten, Art der Lebensbeschäftigung etc.)
der physiognomische
Ausdruck beeinflußt und verändert werden kann; als zuverlässigste Hilfsmittel der Physiognomik empfiehlt sich
deshalb die aufmerksame
Beobachtung des Mienenspiels, das theoretische und praktische
Studium der
Mimik.
Vgl. auch
Camper, Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge
(a. d. Holländ., Berl. 1792);
Carus,
Symbolik der menschlichen
Gestalt (2. Aufl., Leipz. 1858);
Reich, Die Gestalt des
Menschen und deren Beziehungen zum Seelenleben (Heidelb. 1878).
Über pathologische Physiognomik
(Pathognomik), d. h. die Beurteilung psychische oder somatischer
Krankheiten aus
den Gesichtszügen und andern äußern Merkmalen des
Patienten, vgl.
Baumgärtner, Krankenphysiognomik (2. Aufl., Stuttg. 1841-43,
mit
Atlas),
[* 9] und Morison, Physiognomik der
Geisteskrankheiten
(a. d. Engl., Leipz. 1853).
System
(Agrikultursystem), dasjenige volkswirtschaftliche Lehrgebäude, welches den
Grund und
Boden und
dessen Bewirtschaftung als Hauptquelle des Nationalreichtums betrachtet. Dasselbe wurde Mitte des 18. Jahrh.
von einem französischen
Arzt,
Fr.
Quesnay (s. d.), und seiner
Schule ausgebildet und ist als eine
Reaktion
gegen die
Auswüchse des
Merkantilsystems (s. d.) und die traurigen Zustände des damaligen
Staats- und gesellschaftlichen
Lebens
anzusehen.
Schon früher zwar waren merkantilische
Forderungen und
Anschauungen bekämpft oder von gemäßigten Merkantilisten
geläutert worden. F.
Th.
Mun und
Bodinus traten für Gewährung derHandelsfreiheit ein,
DudleyNorth bestritt
die Richtigkeit der Handelsbilanztheorie,
JosiasChild, Steuart und
Locke eiferten gegen die weitgehende polizeiliche Bevormundung,
ein
¶
mehr
Spanier (D. Saavedra Faxardo) bezeichnete 1661 die Früchte der Erde, W. Petty die Arbeit als Quelle
[* 11] des Wohlstandes. Erfolgreicher
jedoch war die Opposition der Physiokraten, welche mit ihrem wissenschaftlichen Ernst und ihren humanitären, freisinnige Bestrebungen
in den gebildetern, sich nach Reformen sehnenden Kreisen und selbst bei dem aufgeklärten Despotismus (Katharina
II.) großen Beifall fanden. Die Grundzüge seines Systems teilte Quesnay zuerst in seinen ökonomischen Tafeln (1756) mit,
der NamePhysiokratie (vom griech. physis, Natur, und kratern, herrschen) wurde ihm später (1767) von Dupont de Nemours (s. Dupont
1) beigelegt, weil jenes System die Natur wieder in ihr Recht einsetzen und zur Herrschaft gelangen lassen
wolle.
Denn, so lautete Quesnays dritte Generalmaxime, »que le souverain et la nation ne perdent jamais
de vue que la terre est l'unique source des richesses et que c'est l'agriculture qui les multiplie«. Der Ackerbau bringe etwas
Neues hervor, was noch nicht dagewesen sei, die Manufaktur bewirke nur Trennungen und Verbindungen bereits
vorhandener Stoffe. Auf diese Anschauung gründet sich die Einteilung der Gesellschaft in drei Klassen:
1) die produktive Klasse, der Nährstand; derselbe begreift diejenigen, welche sich mit der Bodenwirtschaft befassen;
3) die sterile Klasse, welche alle übrigen umfaßt. Produktiv wird die erste Klasse deswegen genannt, weil sie Überschüsse
erzeuge. Die Bodenwirtschaft gewähre nach Deckung aller Aufwendungen mit Einschluß der Zinsen einen Reinertrag (produit net),
der einen Zuwachs zum Volksvermögen bilde. Die empirisch beobachtete Thatsache, daß der Boden einen solchen
Reinertrag abwerfe und infolgedessen auch ein Pachtschilling gezahlt werden könne, vermochten die Physiokraten nicht
genügend zu erklären.
Bald wird das produit net als reines Geschenk bezeichnet, welches der Boden seinem Bebauer darreiche, bald aber heißt es wieder,
die Erde gebe dem Eigentümer nicht umsonst ein Einkommen, sondern um den Preis von Auslagen, welche in Form
von Gebäuden, Anpflanzungen, Entsumpfungen etc. gemacht worden seien. Die letztere mit der
Berechnung des Reinertrags in Widerspruch stehende Erklärung erblickt in den Zinsen der avances foncières (Grundkosten für
Urbarmachung, Meliorierung) die Rechtsurkunde für den Bezug des Reinertrags. Darum soll auch »in der Regel
kein Grund vorhanden sein, ein Gut für weniger oder mehr zu verkaufen als für die Erstattung der Grundauslagen und Verbesserungen«
(Schmalz).
Die Manufakturen sollen zwar den Wert des von ihnen bearbeiteten Stoffes erhöhen, aber nur um so viel, als nötig sei, um
zu ersetzen, was bei der Umformung verzehrt wurde. Kapitalisierungen seien ihnen hiernach bei normalen
Verhältnissen nur durch Privation (abkargen, entbehren) möglich, eine Ansicht, welcher die Idee vom natürlichen Preis (Kostenpreis)
zu Grunde liegt. Allerdings wird dabei betont, daß die Manufaktur teils dadurch nützlich sei, daß sie dem Landwirt Arbeiten
abnehme, welche dieser sonst auf Kosten des Bodenbaues verrichten müsse, teils dadurch, daß sie die
Produkte der Landwirtschaft dauerhaft mache (Konservierung, Umformung, Herstellung neuer Werte bei der Verzehrung landwirtschaftlicher
Produkte). Da nur der Boden einen Überschuß abwirft, so wird auch er alle Steuern zu tragen haben, und zwar würde die Grundsteuer
als
einzige Steuer (impôt unique) gleichmäßig die richtigen Quellen treffen und am wenigsten beschwerlich
sein.
Für die Landwirtschaft wird Beseitigung der Lasten und Beschränkungen verlangt, welche damals sehr stark auf sie drückten;
statt dessen soll die Regierung die produktiven Ausgaben und den Handel mit Bodenerzeugnissen begünstigen. GroßeHoffnung setzten
die Physiokraten auf den wohlthätigen Einfluß der freien Konkurrenz. Bei derselben werde das Einzelinteresse
mit dem allgemeinen verbündet sein, denn das vernünftige Interesse der Einzelnen stimme stets genau mit dem allgemeinen
überein.
Deswegen werden Privilegien und Monopole bekämpft, weil sie die Rente des Bodens und damit auch die Mittel für landwirtschaftliche
Verbesserungen verkürzten, und es wird volle Freiheit für Produktion und Handel verlangt. »Laisser faire,
laisser passer« soll darum der WahlspruchGournays gewesen sein; man solle nur den wirtschaftlichen Verkehr sich selbst überlassen,
und es werde der beste, allen Interessen genügende wirtschaftliche Zustand erreicht.
sondern auch praktisch für
das physiokratische System wirkte. Als Generalkontrolleur der Finanzen beabsichtigte Turgot umfassende Reformen in echt physiokratischem
Sinn durchzuführen, fand jedoch bei der feudalen privilegierten Gesellschaft einen unüberwindlichen Widerstand. Auch in Deutschland
[* 13] traten zahlreiche Jünger des physikalischen Systems auf: Iselin, Schlettwein, Springer, Schmalz, Krug u. a. Der MarkgrafKarlFriedrich vonBaden
[* 14] versuchte dasselbe in einem sehr beschränkten Bezirk seines Landes (in den Dörfern Dittlingen, Bahlingen,
Themingen) durchzuführen; doch wurde der Versuch wieder aufgegeben, als die Gemeinden darum einkamen, es möge die Freiheit
der Hantierungen wieder aufgehoben werden.
Der Grundirrtum der Physiokraten bestand in ihrer Anschauung über den Begriff der Produktivität. Es war
ihnen unbekannt, daß die Landwirtschaft ebensogut wie die Industrie durch Arbeit und Benutzung der Naturkräfte lediglich Orts-
und chemische oder physikalische Formveränderungen bewirkt, und daß die Höhe des landwirtschaftlichen Reinertrags nicht
allein von der Fruchtbarkeit des Bodens, sondern auch von Art und Umfang der Bewirtschaftung, von der Lage
des Bodens, dem Stande der Industrie, Entwickelung des Verkehrswesens, überhaupt auch von allgemeinen sozialen Ursachen abhängig
ist.
Ausdehnung
[* 15] der Gewerbthätigkeit u. des Handels, industrielle Verbesserungen, Erfindung landwirtschaftlicher Maschinen können
die Bodenrente steigern, ohne daß dieselbe auf ein Naturgeschenk oder die Grundkosten zurückgeführt werden kann. Indem
die Physiokraten die Gesetze der Preisbildung und der Verteilung des von der Gesamtthätigkeit erzeugten
Einkommens verkannten, kamen sie zu der Forderung einer einseitigen Steuer und zur Bildung unzulässiger Klassenunterschiede.
Nach ihrer Theorie müßten die Grundeigentümer als eine privilegierte Klasse erscheinen, welche ernten, wo sie nicht gesäet
haben, während alle Leistungen der Industrie der Landwirtschaft zu gute geschrieben
¶