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Gefühl und lebhafte Phantasie traten früh als Eigentümlichkeiten des Knaben hervor, während es ihm an nachhaltiger Aufmerksamkeit wie an praktischer Umsicht und Vorsicht fehlte. Im Knaben regte das Vorbild des Großvaters, welcher Pfarrer auf dem Land war, Neigung zum seelsorgerischen und pädagogischen Beruf und warme Liebe zum niedern Volk an. Aus Rousseaus »Émile« (1762) schöpfte diese Richtung seines Geistes neuen begeisternden Antrieb; er beschloß, ein Reformator der Volkserziehung zu werden und für das irre geleitete und bedrückte Volk zu leben.
Das theologische Studium vertauschte er bald, angeblich aus Anlaß eines mißlungenen Predigtversuchs, mit dem der Rechte. Nach seiner Verlobung mit der sieben Jahre ältern Anna Schultheß, der Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns in Zürich [* 2] (1767), mit der er sich 1769 verheiratete, wandte er sich unter dem Einfluß Rousseauscher Ideen dem Landbau zu, den er bei dem unternehmenden Landwirt Tschiffeli erlernte. Als er erfuhr, daß bei dem Dorf Birr, zwischen Lenzburg und Brugg, eine große Strecke Heideland feil war, faßte er den Plan, hier praktisch zu zeigen, wie in der Verbindung der Landwirtschaft mit Fabrikation und häuslicher Erziehung die Mittel gegeben seien, den Nachteilen einer verkünstelnden Kultur entgegenzuwirken und das Volk aus seinem physischen und sittlichen Elend zu wahrer Kultur und Sittlichkeit emporzuziehen. Er kaufte 100 Morgen Wüstung bei Birr, errichtete daselbst ein Haus und nannte die Besitzung Neuhof (1767). Die Unternehmung, besonders auf Krappkultur gegründet, schlug fehl; aber Pestalozzi hielt seinen Plan fest und verband nun mit seiner Wirtschaft eine Erziehungsanstalt für arme Kinder, die er 1775 mit 50 Zöglingen eröffnete.
Auch diese Anstalt scheiterte an Pestalozzis praktischem Ungeschick und ging 1780 ein. Es folgten Jahre der bittersten Not und der empfindlichsten Demütigung für Pestalozzi. Doch sein Stern ging in andrer Weise wieder auf. Er trat als Schriftsteller hervor. Schon 1780 erschien die »Abendstunde eines Einsiedlers« in Iselins, seines treuen Gönners, »Ephemeriden«. Diese Aphorismen enthalten das pädagogische Programm Pestalozzis. »Allgemeine Emporbildung der innern Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit ist allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedrigsten Menschen. Übung, Anwendung und Gebrauch seiner Kraft [* 3] und seiner Weisheit in den besondern Lagen und Umständen der Menschheit ist Berufs- und Standesbildung. Diese muß immer dem allgemeinen Zweck der Menschenbildung untergeordnet sein« (13). Bald darauf erschien sein berühmtes Buch »Lienhardt und Gertrud« (Berl. 1781-89, 4 Bde.; oft aufgelegt), worin der Verfasser an einer mit ungeschminkter Wahrheit vorgetragenen, einfachen Dorfgeschichte nachweist, wie nur durch eine tief eingreifende Verbesserung der häuslichen und der öffentlichen Erziehung, welche die Gesamtheit der Kräfte und Anlagen der Kinder entwickeln und der guten Gesinnung sowie dem Können den Vorzug vor dem bloßen Wissen gebe, den Übeln der Zeit abzuhelfen sei.
Der Erfolg dieses Buches war ein großartiger; die Fortsetzung desselben: »Christoph und Else« (Zürich 1782),
der »Versuch eines Lehrbuches zum Gebrauch der allgemeinen Realschule der Menschheit, ihrer Wohnstube«, sprach weniger an. Auch in den innern Angelegenheiten der Schweiz, [* 4] über rechtliche und gesellschaftliche Fragen (»Gesetzgebung und Kindermord«, 1783) ließ sich Pestalozzi öfters mit ernstem oder launigem Tadel der bestehenden Mängel vernehmen. Dies zog ihm den unbegründeten Verdacht revolutionärer Gesinnung zu, der in gewissen Kreisen nie ganz überwunden worden ist.
Während dieser schriftstellerischen Thätigkeit hatte Pestalozzi sein äußerlich gedrücktes Leben zu Neuhof fortgesetzt. Auch war er damals in den Illuminatenorden getreten, sagte sich aber, enttäuscht, bald wieder davon los. Eine Reise, die er 1792 nach Deutschland [* 5] unternommen, hatte ihn unter andern mit Klopstock, Wieland, Herder, Jacobi, Goethe, das folgende Jahr in der Schweiz ihn mit Fichte [* 6] bekannt gemacht. Des letztern Einfluß zeigt die tiefsinnige Schrift »Nachforschungen über den Gang [* 7] der Natur in der Entwickelung des Menschengeschlechts« (1797). Von der französischen Republik zum Ehrenbürger ernannt, schloß Pestalozzi sich der jungen helvetischen Tochterrepublik mit Begeisterung an und trat als litterarischer Vorkämpfer der neuen Ideen, die er von ihrer edelsten Seite auffaßte, in den Dienst des Direktoriums, dessen Mitglieder Stapfer und Legrand ihm geistverwandt und befreundet waren.
Als im Herbst 1798 infolge der Verwüstung des Kantons Unterwalden durch die Franzosen eine Menge verwaister Kinder sich ohne Obdach umhertrieb, beschloß das Direktorium die Gründung eines Waisenhauses in Stanz und stellte an die Spitze dieses Unternehmens. Dieser sammelte, einzig von einer Haushälterin begleitet, in dem Ursulinerklostergebäude zu Stans bis 80 verwaiste oder verwahrloste, großenteils kranke und unreinliche vier- bis zehnjährige Bettelkinder um sich.
Das Lernen suchte er, wie früher in Neuhof, mit den Arbeiten, die Unterrichts- mit einer Industrieanstalt zu verbinden. Auch machte er den Versuch, Kinder durch Kinder unterrichten zu lassen. Auch dies Unternehmen war mit großer Wärme [* 8] und Hingebung, nach guten und gesunden Grundgedanken, aber im einzelnen mit wenig Umsicht und Klugheit ins Werk gesetzt. Pestalozzi wäre den Anstrengungen unterlegen, hätten ihn nicht schon die Franzosen von denselben befreit, indem sie die Nebengebäude des Klosters in ein Militärspital verwandelte.
Vgl. seine Schrift »Pestalozzi und seine Anstalt in Stanz«. Pestalozzi entließ die Kinder bis auf einige, welche der Pflege des trefflichen Ortspfarrers anvertraut wurden, und suchte bei der Heilquelle auf dem Gurnigel im Berner Oberland Erholung.
Von da ging er nach Burgdorf im Kanton Bern, [* 9] um hier in der sogen. Lehrgottenschule zu unterrichten, wo vier- bis achtjährige Kinder unter der Leitung eines Frauenzimmers (Lehrgotte, d. h. Lehrpatin, genannt) im Lesen und Schreiben Unterricht erhielten, mußte aber schon nach einem Jahr wegen eines Brustleidens zurücktreten. Gleichwohl eröffnete er bald darauf in Verbindung mit Krüsi und Tobler eine Erziehungsanstalt im Burgdorfer Schloß (1800), die bald von der Regierung als öffentliche Anstalt anerkannt und unterstützt wurde. Dazu kam noch die Zusicherung eines Privilegiums für die von Pestalozzi angekündigten Elementarbücher und das Versprechen, daß ihm aus allen Gegenden der Schweiz Schullehrer zugesandt werden sollten, um von ihm in seiner Methode unterrichtet zu werden. 1802 ging Pestalozzi, von zwei Distrikten zum Mitglied der nach Paris [* 10] geladenen Schweizerdeputation gewählt, nach Paris. Vor seiner Abreise veröffentlichte er: »Ansichten über die Gegenstände, auf welche die Gesetzgebung Helvetiens ihr Augenmerk zu richten hat« (Bern [* 11] 1802).
Eine Denkschrift über das, was der Schweiz not thue, übergab er in Paris dem Ersten Konsul, erhielt aber von diesem die Antwort, er könne sich nicht ins ABC-Lehren mischen. Da 1803 das Schloß Burgdorf von der Berner Regierung zum Sitz eines Oberamtmanns ¶
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bestimmt wurde, so mußte Pestalozzi mit seinem Institut es räumen. Während seines Aufenthalt in Burgdorf schrieb er: »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt; ein Versuch, den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten« (Bern u. Zürich 1801) und »Buch der Mütter, oder Anleitung für Mütter, ihre Kinder bemerken und reden zu lehren« (das. 1803).
Die gesunden Grundgedanken der Pestalozzischen Pädagogik finden namentlich in dem letztern Buch eine oft recht wunderliche Anwendung und Ausgestaltung. In Gemeinsamkeit mit den übrigen Lehrern wurden abgefaßt und unter Pestalozzis Namen veröffentlicht: »ABC der Anschauung, oder Anschauungslehre der Maßverhältnisse« und »Anschauungslehre der Zahlverhältnisse«. Die Berner Regierung räumte für Pestalozzis Anstalt das Kloster Münchenbuchsee ein und ließ dasselbe hierzu einrichten.
Pestalozzis Bestrebungen wurden inzwischen in immer weitern Kreisen bekannt und beachtet. Er hatte, namentlich aus Deutschland, Zuspruch von vielen Fremden, die seine Methode durch den Augenschein kennen zu lernen wünschten. Da aber Ordnung in der Hauswirtschaft gerade die Eigenschaft war, welche Pestalozzi am wenigsten besaß, so ging das Institut bald seiner Auflösung entgegen, weshalb die Lehrer der Anstalt Ökonomie und Direktion an den von Pestalozzi angeregten Philanthropen Ph. E. v. Fellenberg, der nahe bei Buchsee, in Hofwyl, wohnte, übergaben. Pestalozzi folgte darauf gern der Einladung, welche von Iferten (Yverdon) aus an ihn erging, eine Erziehungsanstalt für Kinder aus allen Ständen und zugleich eine Anstalt für Lehrerbildung zu übernehmen, und begab sich mit einigen seiner Lehrer, unter andern Niederer, der auf die ganze Entwickelung des neuen Unternehmens den größten Einfluß übte, und acht Zöglingen dahin; ein halbes Jahr später folgten ihm die übrigen Lehrer nach.
Mit dem Eintritt Pestalozzis in Iferten beginnt die Periode, in der Pestalozzi und sein Institut eine europäische Berühmtheit erlangten. Pestalozzische Lehrer unterrichteten in Madrid, [* 13] Neapel [* 14] und Petersburg; [* 15] der Kaiser von Rußland bezeigte ihm persönlich sein Wohlwollen, und Fichte erblickte in Pestalozzi und seinem Wirken den Anfang einer Erneuerung der Menschheit. Dieser außerordentliche Erfolg machte Pestalozzi zu sicher in Bezug auf das, was er erreicht hatte, und verleitete ihn öfters zur Unbilligkeit gegen das, was bereits anderwärts zur Verbesserung des Unterrichts und der Erziehung geschehen war.
Selbsttäuschung konnte bei ihm um so eher Platz greifen, als er immer sehr abhängig von seiner Umgebung blieb und die verwandten Bestrebungen andrer fast gar nicht kannte, überhaupt in den letzten Jahrzehnten seines Lebens wenig oder gar nichts las. Zunächst waren allerdings die Leistungen des Instituts glänzende, zumal in dem von Joseph Schmid selbständig geleiteten Rechenunterricht und in der Sprachfertigkeit der Zöglinge. Doch gehörten diese je länger, desto mehr den höhern Ständen an; die unmittelbare Wirksamkeit für das niedere Volk, die Pestalozzi eigentlich beabsichtigte, trat in den Hintergrund.
Allmählich erhob sich auch Widerspruch gegen die Pestalozzischen Ansichten und zumal gegen sein Institut, in dem allerdings bei Pestalozzis Unfähigkeit zur Leitung und Haushaltung die Ordnung viel zu wünschen übrigließ. In öffentlichen Blättern, namentlich schweizerischen, wurde für und wider Pestalozzi ein heftiger Kampf geführt. Im Einverständnis mit seinen Lehrern stellte daher Pestalozzi 1809 an die schweizerische Tagsatzung den Antrag auf eine öffentliche Prüfung der Anstalt, und der Landammann beauftragte mit derselben eine Kommission, deren bedeutendes Mitglied der Freiburger Pater Girard (s. d.) war.
Der Bericht dieses ebenso wohlwollenden wie sachverständige Beurteilers schließt mit den bezeichnenden Worten: »Schade, daß die Gewalt der Umstände Herrn Pestalozzi immer über die bescheidene Laufbahn hinaustrieb, die ihm sein reiner Eifer und seine innige Liebe vorgezeichnet hatten. Zollen wir der guten Absicht, der edlen Anstrengung, der unerschütterten Beharrlichkeit gerechte Anerkennung; nutzen wir diese heilsamen Ideen, folgen wir dem guten Beispiel, das man uns gegeben, und beklagen wir das Verhängnis eines Mannes, der durch die Gewalt der Umstände stets gehindert wird, gerade das zu thun, was er eigentlich will.« Infolge der Zwistigkeiten unter den Lehrern wich zuletzt aller Segen von der Anstalt und von Pestalozzis Unternehmungen. 1818 schloß Schmid mit Cotta einen Kontrakt zur Herausgabe sämtlicher Werke Pestalozzis. Da bedeutende Subskriptionen einliefen, erwachten in dem immer jugendlichen Geist Pestalozzis neue Hoffnungen für sein Streben; er bestimmte 50,000 franz. Livres, »welche die Subskription ertragen werde«, zu pädagogischen Zwecken und errichtete in demselben Jahr, seinen ursprünglichen Zweck wieder aufnehmend, eine Armenanstalt zu Clindy, in der Nähe von Iferten. 1825 löste Pestalozzi das Institut zu Iferten auf und kehrte als fast 80jähriger Greis nach Neuhof zurück, wo er den »Schwanengesang« und seine »Lebensschicksale« schrieb. In diesen letzten Schriften hat Pestalozzi mit rührender Offenheit die Fehler und Mißgriffe eingestanden, welche das Mißlingen seiner praktischen Versuche mit bedingt haben.
Diese Offenheit gereicht ihm mehr zur Ehre als manchem seiner Biographen und Kritiker die Leichtfertigkeit, mit welcher sie ihm die in mancher Hinsicht offenbar übertriebenen Selbstanklagen nachsprechen. Noch in demselben Jahr ward er zum Vorstand der Helvetischen Gesellschaft zu Schinznach erwählt. Im folgenden Jahr las er noch der Kulturgesellschaft zu Brugg eine Abhandlung vor: »Über die einfachsten Mittel, das Kind von der Wiege an bis ans sechste Jahr im häuslichen Kreis [* 16] zu erziehen«. Er starb zu Brugg im Aargau Bei klarster Kenntnis der menschlichen Natur im allgemeinen war Pestalozzi unfähig, die einzelnen Menschen zu durchschauen und zu leiten;
er sah die schönsten Ideale als Ziel seines Lebens vor sich, war aber blind, wenn er den Weg zu diesen Idealen finden und zeigen sollte. In seinem »Lienhardt und Gertrud« malt er mit unverkennbarer Liebe und im vollen Gefühl ihrer sittlichen Bedeutung die schöne Ordnung des bäuerlichen und bürgerlichen Haushalts;
aber niemand war ferner von einer klaren, haushälterischen Lebensordnung als er.
Die Liebe zu dem armen verlassenen Volk war seines Herzens Leidenschaft, aber es fehlte seiner Liebe der Zügel der Überlegung. Wenn aber auch alle seine äußern Werke wieder zerfielen, so ist doch sein Leben ein großartig fruchtbares und gesegnetes gewesen. Liebe und Begeisterung für die Erziehung der Jugend und des Volkes hat er in weiten Kreisen geweckt. Wenn diese heute in allen zivilisierten Staaten als nationale Angelegenheit von grundlegender Bedeutung anerkannt ist, so ist das nicht am wenigsten Pestalozzi zu danken. Dazu hat er in der Zurückführung alles Unterrichts auf die Grundlage der Anschauung und in der Forderung einer naturgemäßen Entwickelung in jedem Lehrfach sowie endlich in der Beziehung jeder einzelnen unterrichtlichen wie erziehlichen Thätigkeit auf die höchste Aufgabe der Erziehung, »allgemeine Emporbildung der natürlichen ¶