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Waterloo [* 2] rühmlichen Anteil genommen hatten, noch ein bisher französischer Landstrich mit den Festungen Marienburg [* 3] und Philippeville. Von ihren Kolonien erlangten die Niederlande [* 4] bloß die ostindischen Inseln, einen Teil von Guayana und einige kleinere Besitzungen in Amerika [* 5] und Afrika [* 6] zurück; Ceylon, [* 7] das Kapland und Demerara behielt England.
Den durch belgische Notabeln verstärkten Generalstaaten wurde eine neue Verfassung vorgelegt und, obwohl die Mehrheit der Belgier sich dagegen aussprach, für angenommen erklärt; die Generalstaaten wurden in zwei Kammern eingeteilt, in welche Belgien [* 8] und Holland eine gleiche Anzahl Deputierte schickten. Der König widmete sich mit Erfolg vor allem der Regelung der Finanzen und der Hebung [* 9] des Handels, wozu der Bau des Nordholländischen Kanals, die Wiederherstellung des fiskalischen Kolonialsystems in Indien und die Gründung der Niederländischen Handelsgesellschaft (1824) wesentlich beitrugen.
Indes die Schwierigkeit, das neuerworbene Belgien mit den nördlichen Niederlanden zu verschmelzen, vermochte er nicht zu überwinden. Die beiden Teile der Niederlande waren zu lange voneinander getrennt gewesen und hatten sich zu verschieden entwickelt. Die nördlichen Provinzen wollten die Einkünfte aus hohen Grundsteuern und Luxusabgaben ziehen, die südlichen, vorzugsweise Ackerbau und Industrie treibend, die Zölle erhöhen. Die große Schuldenlast der Niederlande (1000 Mill. Gulden) wurde von Belgien nur mit Unwillen getragen.
Der Vorteil der Kolonien kam den südlichen Handelsstädten nur langsam zu gute und wurde von den nördlichen mit Eifersucht beobachtet und möglichst verkümmert. Obwohl die Regierung ein Konkordat mit dem Papst schloß und drei neue Bistümer in Amsterdam, [* 10] Brügge und Herzogenbusch errichtete, vermochte sie doch das Mißtrauen des katholischen Klerus nicht zu beseitigen, während die belgischen Liberalen, überwiegend Wallonen, durch das Streben der Regierung, bei den öffentlichen Geschäften die holländische oder vlämische Sprache zur Herrschaft zu bringen, abgestoßen wurden und zu Frankreich neigten. Durch die Vereinigung der Klerikalen und der französisch gesinnten Liberalen kam es infolge der Julirevolution 1830 zum Ausbruch der belgischen Revolution (s. Belgien, Geschichte, S. 655).
Wilhelm I. versuchte zuerst durch Waffengewalt die südlichen Provinzen wieder unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Dies mißlang im Oktober 1830; im August 1831 aber besiegte der Prinz von Oranien die Belgier bei Hasselt (8. Aug.) und bei Tirlemont (11. Aug.) und drohte Belgien zu unterwerfen. Doch hatten die Mächte sich schon im Londoner Protokoll vom für die Trennung Belgiens von den Niederlanden ausgesprochen, und mit ihrer Genehmigung intervenierte Frankreich zu gunsten Belgiens, drängte die Holländer zurück, nahm die Citadelle von Antwerpen [* 11] und blockierte in Verbindung mit England die niederländischen Küsten. Dem Kriegsstand wurde durch die Londoner Übereinkunft vom ein Ende gemacht. Aber Wilhelm weigerte sich lange, die Unabhängigkeit Belgiens anzuerkennen, obwohl die 24 Artikel vom den Niederlanden das deutsche Luxemburg, einen Teil von Limburg [* 12] und eine von Belgien zu zahlende jährliche Rente von 8,400,000 Gulden als Beitrag zu den Zinsen der Staatsschuld zusprachen.
Erst 1838 erklärte sich der König zu deren Annahme bereit, und kam der Friede zwischen den Niederlanden und Belgien zu stande, durch welchen die belgische Rente auf 5 Mill. verringert wurde. Das östliche Luxemburg und Limburg (ohne Maastricht [* 13] und Venloo) sollten zum Deutschen Bund gehören, und Luxemburg wurde daher bloß in Personalunion mit den Niederlanden vereinigt, Limburg jedoch mit dem neuen Königreich verschmolzen, das nur noch zehn, aber durch Sprache [* 14] und Geschichte innig verbundene Provinzen zählte.
Neueste Zeit.
Das Gefühl der Demütigung, welches Wilhelm I. über dieses Ende des von ihm gegründeten Reichs empfand, die Unzufriedenheit des Volkes mit den erhöhten Geldforderungen der Regierung und das allgemeine Verlangen nach einer durchgreifenden Verfassungsreform bewogen den König, zu gunsten seines Sohns abzudanken und sich mit einem ungeheuern Vermögen, das er durch Handelsspekulationen erworben, nach Berlin [* 15] zurückzuziehen, wo er starb. Wilhelm II. (1840-49) bewilligte sofort die Verantwortlichkeit der Minister und verringerte den Stand des Heers um ein Bedeutendes.
Dadurch erlangte er die Zustimmung der Generalstaaten zu einer außerordentlichen Vermögenssteuer, zur Rentenumwandlung behufs Verminderung der Zinsen und zu einer freiwilligen Anleihe, wodurch die Finanzen in Ordnung gebracht und die Mittel für den Bau von Eisenbahnen und die Trockenlegung des Haarlemer Meers gewonnen wurden. Zu der Verfassungsreform entschloß er sich aber erst nach der Februarrevolution 1848. Eine verdoppelte Zweite Kammer trat zusammen und ließ durch einen Ausschuß unter Thorbeckes Vorsitz einen liberalen Verfassungsentwurf ausarbeiten, der die Einteilung der Provinzialstaaten in Stände abschaffte und für die Zweite Kammer direkte Wahlen, allerdings mit einem hohen Zensus, vorschrieb. Das neue Grundgesetz wurde verkündet. Nicht lange darauf, starb Wilhelm II.
Sein Sohn Wilhelm III. berief den Urheber der neuen Verfassung, Thorbecke, 30. Okt. an die Spitze eines durchaus freisinnigen Ministeriums, das durch wichtige organische Gesetze, wie das über Versammlungsrecht, eine Provinzial- und Gemeindeordnung und eine Gerichtsorganisation, die Grundsätze der Verfassung verwirklichte und durch zweckmäßige Finanzgesetze die materielle Lage des Landes verbesserte. In allzu doktrinärer Ausführung des Verfassungsartikels über die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirchen vom Staat schloß aber Thorbecke 1852 einen Vertrag mit der römischen Kurie, in dem er alle Aufsichtsrechte des Staats über die katholische Kirche preisgab und die Errichtung von fünf neuen Bistümern in den Niederlanden gestattete.
Die päpstliche Allokution vom welche dies verkündete, erregte einen Sturm der Entrüstung in der protestantischen Bevölkerung, [* 16] die der König, des herrschsüchtigen Ministers überdrüssig, in seiner Antwort auf die Adresse von Amsterdam billigte (15. April). Thorbecke forderte und erhielt darauf seine Entlassung, und ihm folgten nun einige konservative Ministerien unter van Hall, [* 17] van der Brugghen, Zuylen u. a., die sich aber nur dadurch im Amt zu halten vermochten, daß sie auf alle reaktionären Wünsche einer Verfassungsrevision verzichteten und 1857 sogar ein ganz liberales Unterrichtsgesetz, welches den Religionsunterricht aus allen staatlichen Elementarschulen ausschloß, in den Kammern zur Annahme brachten. Dafür ließen die Liberalen das bestehende Kolonialsystem unangefochten. Die Liberalen hatten die Mehrheit in den Generalstaaten, waren aber zerfahren und von ¶
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Parteiinteressen beherrscht. Dies zeigte sich, als im Januar 1862 Thorbecke zum zweitenmal an die Spitze der Regierung trat. Dieser reformierte das Steuersystem, indem er die Accise gänzlich abschaffte, erlangte die Zustimmung zu wichtigen öffentlichen Anlagen (direkten Kanälen von Amsterdam und Rotterdam [* 19] bis zur See), scheiterte aber an dem Versuch, die Verwaltung der Kolonien umzugestalten und den 1830 auf Java eingeführten Kulturzwang, ein hartes, aber für den Staat einträgliches Fronsystem, abzuschaffen; nur der Bau der ersten Eisenbahn auf Java wurde genehmigt und die Sklaverei in Westindien [* 20] aufgehoben.
Das neue konservative Kabinett Zuylen van Nyvelt hatte die luxemburgische Frage zu lösen. Während des Kriegs zwischen Preußen [* 21] und Österreich [* 22] 1866 hatten sich die Niederlande neutral verhalten, obwohl die Sympathien der höhern Kreise [* 23] und des Hofs, an dem die Königin Sophie, eine württembergische Prinzessin, als entschiedenste Feindin Preußens [* 24] den Ton angab, auf seiten Österreichs gewesen waren. Bei der Neuordnung der deutschen Angelegenheiten kam es der niederländischen Regierung hauptsächlich darauf an, Limburg von der Verbindung mit Deutschland [* 25] loszulösen. An Luxemburg zeigte sie gar kein Interesse, und als der König sich 1867 veranlaßt sah, Luxemburg an Frankreich zu verkaufen, stieß dieser Plan nirgends auf Widerstand.
Nur die Regierung wollte den Verkauf nicht ohne Zustimmung Preußens genehmigen, weil sie befürchtete, daß dieses dann für Deutschland auf Limburg Anspruch erheben möchte. Daß Zuylen durch seine Mitteilung an Preußen den Verkauf Luxemburgs zum Scheitern brachte und dann den Londoner Garantievertrag über die Neutralität Luxemburgs unterzeichnete, wurde aber von der Kammer, namentlich von Thorbecke, heftig getadelt und das Kabinett Zuylen, obwohl es die Loslösung Limburgs von Deutschland erreichte, durch Verwerfung seines Budgets gestürzt, nachdem es sich vergeblich durch Auflösung und Neuwahlen der Generalstaaten zu halten gesucht hatte.
Erst Fock, dann Thorbecke (Anfang 1871) bildeten neue liberale Ministerien, welche den drückenden Zeitungsstempel und die Todesstrafe abschaffen. Wider Willen sahen sie sich auch genötigt, die Frage der Heeresreform in die Hand [* 26] zu nehmen. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 erregte die Gemüter in den Niederlanden um so mehr, als er deren Interessen nahe berührte. Die leitenden Kreise hatten das Emporkommen Preußens, auf das sie bisher herabgesehen hatten, und mit dem sie nun rechnen mußten, mit Neid und Eifersucht beobachtet und bewirkten es, daß bei Beginn des Kriegs die Armee so aufgestellt wurde, daß sie im Fall des sicher erwarteten Siegs der Franzosen in Deutschland feindlichem Sinn eingreifen konnte.
Die gewaltigen und raschen Erfolge der Deutschen zwangen nun zwar die Niederlande zu einer strengen Neutralität, erregten aber die Furcht vor deutschen Annexionsabsichten auf die Niederlande selbst oder wenigstens ihre Kolonien. Unter diesen Umständen hielt selbst Thorbecke, der bisher sowohl als Abgeordneter wie als Minister stets für die größtmögliche Beschränkung des Militärbudgets eingetreten war, eine Verstärkung [* 27] der Verteidigungsmittel durch neue Festungsanlagen und Vermehrung der Streitkräfte für unvermeidlich.
Aber keinem Ministerium gelang es, die Kammern zu einem entscheidenden Beschluß über die Heeresreform, namentlich die Frage der allgemeinen Dienstpflicht, zu bewegen, da niemand die Verantwortlichkeit für die dem Land aufzuerlegenden Opfer an Geld und Menschen auf sich nehmen wollte. Nur ein Festungsgesetz wurde nach dem Tode Thorbeckes von dem Ministerium Fransen van den Putte durchgebracht. Die gleiche Selbstsucht und Kurzsichtigkeit bewiesen die Liberalen, als es sich um die Einführung einer Einkommensteuer (Kapital- oder Rentensteuer) und um ein neues Wahlgesetz, welches den Zensus herabsetzen sollte, handelte; beide Entwürfe wurden abgelehnt, weil sie die Interessen der herrschenden Klassen zu verletzen schienen.
Das liberale Ministerium Fransen van den Putte scheiterte wiederum an der Kolonialpolitik. Im Dezember 1871 hatten die Niederlande ihre Besitzungen in Guinea an England verkauft und dafür dessen Zustimmung zur Ausbreitung ihrer Herrschaft auf Sumatra erlangt. Die Regierung hatte darauf vom Sultan von Atschin (s. d.) Unterwerfung unter gewisse Bedingungen gefordert und, als er das ablehnte, 1873 Krieg gegen ihn begonnen. Der erste Feldzug scheiterte aber gänzlich, und auch als General van Swieten im Januar 1874 den Kraton, die Hauptfestung der Atschinesen, erobert hatte, war damit wenig gewonnen, während das mörderische Klima [* 28] ungeheure Opfer an Menschenleben forderte und die Rüstungen [* 29] große Ausgaben verursachten.
Fransen machte daher im Juli 1874 einem konservativen Ministerium Heemskerk Platz, welches sich durch geschicktes Lavieren bis zum September 1877 behauptete. Die liberale Mehrheit in den Kammern war inzwischen so angewachsen, daß ihr Führer Kappeyne die Bildung eines liberalen Ministeriums zur Durchführung wichtiger Reformen wagte (November 1877). Aber nur ein neues Schulgesetz, welches das von 1857 durch Erhöhung des Staatszuschusses und Verstärkung der staatlichen Aufsicht bei den Volksschulen ergänzte, setzte er 1878 durch.
Dagegen lehnten die Kammern das Wehrgesetz, die Rentensteuer und ein Kanalgesetz ab, und das Defizit erreichte eine so bedenkliche Höhe (40 Mill.), weil der Krieg in Atschin alle Überschüsse des Kolonialbudgets verschlang, daß Kappeyne 1879 zurücktrat. Das mittelparteiliche Kabinett van Lynden führte nur die Regierung weiter, ohne außer einem neuen Strafgesetzbuch (1881) gesetzgeberische Thaten zu versuchen; unter ihm wurde 1879 der Krieg in Atschin durch General van der Heyden siegreich beendet, wenn auch die völlige Unterwerfung des Landes damit keineswegs erreicht wurde.
Das Verlangen nach einer Verfassungsreform wurde inzwischen immer dringender laut, und Heemskerk, der wegen der Uneinigkeit der Liberalen 1883 ein »außerparlamentarisches« Ministerium bildete, nahm nun die Verfassungsrevision energisch in die Hand. Dieselbe war um so nötiger, als mit dem Tode des Kronprinzen Alexander die männliche Deszendenz des Königs erlosch, auch außer dem hochbetagten König kein andrer männlicher Sproß des Königshauses vorhanden war und daher die Thronfolge gesetzlich geregelt werden mußte.
Heemskerk beantragte, den Wahlzensus herabzusetzen, das Land von neuem in Wahlbezirke einzuteilen, die Mitgliederzahl der Ersten Kammer auf 50, die der Zweiten auf 100 zu bestimmen und die Thronfolge in der Weise zu ordnen, daß zuerst die Tochter des Königs, Prinzessin Wilhelmine, dann seine Schwester, die Großherzogin von Weimar [* 30] und ihre Kinder, zuletzt die Nachkommen der Geschwister seines Vaters erbberechtigt sein sollten; die allgemeine Wehrpflicht ward nicht berührt. Aber bei den Neuwahlen, welche nach der Auslösung der Generalstaaten Anfang 1885 stattfanden, wurden gerade so viel Liberale als Antiliberale (43) gewählt, ¶