Nibelungenlied
(Der Nibelunge Not), deutsches Heldengedicht, die Krone der mittelalterlichen volksmäßigen Poesie und die einzige epische Dichtung der Welt, welche an Bedeutung den Homerischen Epen einigermaßen vergleichbar ist. Der stoffliche Inhalt des in 39 Abenteuer abgeteilten Gedichts ist, knapp zusammengefaßt, folgender: Siegfried, ein Königssohn aus den Niederlanden, kommt mit glänzendem Gefolge nach Worms [* 2] an den Hof [* 3] des Burgundenkönigs Gunther in der Absicht, um dessen Schwester Kriemhild zu freien.
Bei seinem Eintritt erzählt Hagen, [* 4] Gunthers Dienstmann, die frühern Thaten Siegfrieds: daß er das Zwerggeschlecht der Nibelungen (s. d.) überwunden, den unermeßlichen Schatz derselben (den verhängnisvollen Nibelungenhort) samt der unsichtbar machenden Tarnkappe erworben und einen Lindwurm getötet habe, durch dessen Blut die Haut [* 5] des Helden unverwundbar geworden sei. Nachdem Siegfried darauf König Gunther im Sachsenkrieg beigestanden und für denselben Brunhilde, die heldenhafte Königin von Isenland, erkämpft hat, erhält er endlich Kriemhild zur Gemahlin.
Als Brunhilde nach Worms gekommen, erwacht noch einmal ihr unbändiger Sinn; sie wehrt sich in der Hochzeitsnacht mit dämonischer Kraft [* 6] gegen Gunthers Minne und wird erst in der folgenden Nacht durch Siegfried mit Hilfe seiner Tarnkappe für Gunther überwunden. Siegfried nimmt ihr zugleich Gürtel [* 7] und Ring ab und übergibt beides seiner Gemahlin Kriemhild. In einem Streit zwischen den beiden Fürstinnen über den Rang und die Würdigkeit ihrer Gatten zeigt Kriemhild der Gemahlin Gunthers jene Schmucksachen [* 8] zum Beweis, daß sie von Siegfried überwunden worden sei.
Die tödlich beleidigte Brunhilde sinnt Rache und beredet Hagen zum Mord Siegfrieds. Hagen läßt durch falsche Boten eine Kriegserklärung der Sachsen [* 9] bringen, und Siegfried sagt seinen Beistand zu. Kriemhild, um ihren Gemahl besorgt, bittet Hagen, demselben im Kampfgetümmel beizustehen, und damit er ihn besser schützen könne, näht sie auf sein Gewand ein Kreuz [* 10] auf die Stelle zwischen den Schultern, wo Siegfried beim Bad [* 11] im Blute des Drachen durch ein darauf gefallenes Lindenblatt verwundbar geblieben war.
Hagen läßt nun neue falsche Boten erscheinen, welche friedliche Nachrichten bringen, worauf eine große Jagd im Wasgenwald (oder Odenwald) veranstaltet wird. Am Schluß derselben schlägt Hagen einen Wettlauf nach der nahen Quelle [* 12] vor. Siegfried siegt, wird aber, während er sich zum Trinken niederbeugt, von Hagen meuchlings an der verwundbaren Stelle mit dem Speer durchbohrt. Als Kriemhild beim Erscheinen Hagens während der Leichenfeierlichkeit aus der Wunde des toten Gatten aufs neue Blut fließen sieht, erkennt sie in ihm Siegfrieds Mörder. In tiefster Trauer lebt sie nun 13 Jahre in Worms.
Ihre Brüder lassen, um die Schwester zu erfreuen, den Nibelungenhort nach Worms bringen; doch Hagen, fürchtend, sie möchte durch ihre Freigebigkeit zu viele für sich gewinnen, versenkt den Schatz heimlich in den Rhein. Endlich erscheint Markgraf Rüdiger von Bechelaren, um für König Etzel (Attila) von Ungarn, [* 13] dessen Gattin Helche gestorben, Kriemhilds Hand [* 14] zu erwerben, und letztere sagt nach längerm Bedenken zu in der Hoffnung, daß sie dann sich an Hagen rachen könne.
Wiederum nach 13 Jahren ladet sie die Burgunden, ihre Brüder und Hagen nach Ungarn zu einem Fest an Etzels Hof, und sie folgen der Einladung. Kriemhild fragt Hagen, ob er ihr den Nibelungenhort mitgebracht, worauf er mit höhnender Rede antwortet. Da fordert Kriemhild ihre Mannen zur Rache auf, und in einem furchtbaren Kampfe fallen Gernot und Giselher nebst den burgundischen Helden, Rüdiger von Bechelaren und die Mannen Dietrichs von Bern, [* 15] der bei Etzel weilt. Gunther und Hagen werden von Dietrich gefangen genommen und Kriemhild übergeben. Diese läßt Gunther das Haupt abschlagen und tötet mit eigner Hand Hagen, der das Geheimnis des Horts fest bewahrt, mit dem Balmung, Siegfrieds Schwert, und wird dafür von Hildebrand, Dietrichs Dienstmann, erschlagen. Die Trauer um die gefallenen Helden bildet den Inhalt der Klage (s. d., S. 803), eines Anhanges zum Nibelungenlied.
Der in vorstehendem im dürftigsten Umriß dargelegte Inhalt des Nibelungenliedes ist in dem Gedicht mit wundervoller epischer Kraft, Anschaulichkeit und in hoher, oft freilich furchtbarer Schönheit verarbeitet. Der Geist, der in der Dichtung waltet, ist ein grunddeutscher; eine hochsittliche Idee, wenn auch eine im wesentlichen heidnisch-sittliche, beherrscht die Handlung, die in echt epischer Objektivität und großartiger Plastik sich entfaltet. Die Sagen, welche in dem Nibelungenlied vereinigt sind (denn daß hier verschiedene altdeutsche Sagenkreise ineinander verschmolzen sind, unterliegt längst keinem Zweifel), waren »Gemeingut des deutschen Volkes in weitester Bedeutung des Ausdrucks«. Die älteste poetische Fassung der Siegfriedsage ist in den Liedern der ältern Edda, welche etwa ins 9. Jahrh. zurückreicht, aufbewahrt (s. Edda). Daß jedoch die Sage nicht ursprüngliches Eigentum des Nordens war, sondern von Deutschland [* 16] dahin getragen worden, hat W. Grimm (»Die deutsche Heldensage«, 2. Aufl., Götting. 1868) aus den mit hinübergenommenen Örtlichkeiten sehr wahrscheinlich gemacht.
Die bis ins 12. Jahrh. in lebendigem Wachstum begriffene Sage besteht teils aus mythischen, teils aus historischen Elementen. Zu den erstern gehörten die Gestalten Siegfrieds und der Brunhilde; die historische Grundlage bildet die Zeit der Völkerwanderung, insbesondere die vernichtende Niederlage, welche der Burgundenkönig Gundikar 437 durch die Hunnen erlitt. Zur Geschichte der Nibelungensage vgl. besonders Lachmann, Zur Kritik der Sage von den Nibelungen (in seinen Anmerkungen zu der Ausgabe des »Nibelungenlieds«);
Müllenhoff, Zur Geschichte der Nibelungensage (in der »Zeitschrift für deutsches Altertum«, Bd. 10);
Heinzel, Über die Nibelungensage (»Sitzungsberichte der Wiener Akademie«, Bd. 109);
W. Müller, Mythologie der deutschen Heldensage (Heilbr. 1887).
Das während der ersten Jahrhunderte nach seiner Abfassung vielgelesene Nibelungenlied besitzen wir in zahlreichen Handschriften, von denen drei Pergamenthandschriften des 13. Jahrh. sind und unter der Bezeichnung A (Hohenems-Münchener), B (St. Galler) und C (Hohenems-Laßbergsche, jetzt in Donaueschingen) als die wichtigsten betrachtet werden. Während des 16. und 17. Jahrh. war das Nibelungenlied verschollen; nur ein einziger deutscher Gelehrter, der Österreicher Wolfgang Lazius, hat es gekannt und daraus einige Strophen in seine »Geschichte der Völkerwanderung« aufgenommen.
In den 50er Jahren des 18. Jahrh. entdeckte, angeregt durch Bodmer, der praktische Arzt Hermann Obereit auf dem Schloß Hohenems im vorarlbergischen Rheinthal eine Handschrift des Nibelungenlieds (vgl. Crueger, Der Entdecker der Nibelungen, Frankf. 1883), und Bodmer ließ aus derselben (der oben C genannten) den zweiten Teil unter dem Titel: »Kriemhildens Rache« (Zürich [* 17] 1757) abdrucken. Eine vollständige Ausgabe, deren erster Teil auf der andern ¶
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Hohenemser Handschrift (A) beruht, erschien in des Schweizers Ch. H. Myller »Sammlung deutscher Gedichte aus dem 12.-14. Jahrhundert« (Berl. 1782). Indes wurde die Bedeutung des Gedichts damals nur von sehr wenigen, unter denen der Historiker Johannes v. Müller obenan steht, erkannt. Erst durch Fr. Heinr. v. d. Hagens verdienstvolle Bemühungen wurde das Nibelungenlied Gegenstand allgemeinern Interesses und wissenschaftlicher Forschung. Auf dem Gebiet der letztern waren besonders K. Lachmanns Untersuchungen epochemachend.
Durch F. A. Wolffs Theorie von der Entstehung der Homerischen Gedichte angeregt, unterzog Lachmann auch das Nibelungenlied einer mit eminentem Scharfsinn angestellten Prüfung in Bezug auf seine Urheberschaft. Er kam zu dem Resultat, daß in den verschiedenen erhaltenen Handschriften eine dreifache Gestalt des Gedichts vorliege, eine verhältnismäßig älteste, um 1210 entstandene und in der einen der Hohenemser Handschriften (der Münchener, A) bewahrte Dichtung, eine erste erweiternde Bearbeitung derselben in der St. Galler Handschrift (B) und eine zweite vor 1225 verfaßte, wiederum erweiternde Bearbeitung in der andern Hohenemser (Laßbergschen) Handschrift (C).
Lachmann suchte ferner zu erweisen, daß auch jene älteste Rezension der Handschrift A aus verschiedenen Stücken von ungleichem Alter bestehe. Einzelne Rhapsodien seien darin zu einem Ganzen zusammengeflossen und mit Unechtem gemischt worden. Bei der Auffindung dieses Unechten legte er ein bestimmtes Zahlensystem zu Grunde, da er erkannt haben wollte, daß kleinere Abschnitte von je 7 Strophen ein Lied von 28 Strophen bildeten. Solcher von verschiedenen Verfassern unabhängig gedichteten Lieder nahm er 20 an, sie nach sachlichen und sprachlichen Unterscheidungsmomenten ausscheidend und einzelne Strophen spätern Interpolatoren zuweisend.
Jene 20 Lieder sollte dann ein andrer Poet (Bearbeiter und Anordner) zu Einem Gedicht, unserm »Lied von der Nibelunge Not«, zusammengefügt haben. Diese Theorie war zum unumstößlich erachteten Dogma der Lachmannschen Schule geworden. Da trat 1854 A. Holtzmann gegen dasselbe mit scharfen Waffen [* 19] auf, behauptete die Einheit des Gedichts, widerlegte mit schlagenden Gründen Lachmanns Annahme, daß die Handschrift A die älteste Fassung des Nibelungenlieds überliefere, behauptete vielmehr, diese sei in C erhalten, stellte die Notwendigkeit der Annahme eines uralten, zusammenhängenden, aber verloren gegangenen Gedichts auf und nahm als den Verfasser dieses letztern einen gewissen Konrad, Schreiber des Bischofs Pilgrim von Passau, [* 20] an, auf welchen die »Klage« hinweist. Zu gleicher Beurteilung der Handschriften gelangten F. Zarnckes Nibelungenforschungen, und die neuen Ausgaben des Nibelungenlieds von dem eben genannten Gelehrten (1856) und von Holtzmann (1857) sind, jener Wertschätzung entsprechend, auf den Text C gegründet. In ein ganz neues Stadium trat die Nibelungenfrage, als Fr. Pfeiffer 1862 die von ihm geteilte Ansicht Holtzmanns von der einheitlichen Schöpfung des Gedichts dahin präzisierte, bez. abänderte, daß er eine ganz bestimmte Persönlichkeit als den Dichter des Nibelungenlieds bezeichnete.
Die Grundlage dieser Annahme besteht in dem notorischen Verhältnis, daß in Bezug auf die strophischen Formen der Poesie in Deutschland bis gegen 1250 ein streng beobachtetes Gesetz galt: nämlich, daß der Erfinder einer Strophe zugleich ihr Eigentümer war und allein sich ihrer bedienen durfte. Das Versmaß des Nibelungenlieds aber, die Nibelungenstrophe (s. unten), entspricht in ihrem Bau genau der strophischen Form, welcher sich der älteste deutsche Liederdichter, der unter dem Namen Kürenberg (s. d.) bekannte Minnesinger, in den von ihm überlieferten Liedern bedient hat.
Demnach ist, so schließt Pfeiffer, die Nibelungenstrophe Eigentum des Kürenbergers, und dieser (dessen schöpferische Zeit etwa zwischen 1120 und 1140 fällt) ist auch der Verfasser des Nibelungenlieds. Zwar kann letzteres die Gestalt, in welcher es heute vorliegt, aus formellen Gründen erst nach 1190 empfangen haben; allein dies widerlegt nicht die Identifizierung seines Urhebers mit dem fraglichen Minnesinger. Danach wäre, wie schon Holtzmann nachzuweisen versuchte, unser Nibelungenlied nicht das ursprüngliche Werk des Dichters, sondern die spätere, nach dem verfeinerten Geschmack der höfischen Welt vorgenommene Umarbeitung eines ältern Gedichts, und die älteste Gestalt dieser Umarbeitung läge in der Laßbergschen Handschrift (C) vor.
Von spätern Forschern trat namentlich K. Bartsch der Ansicht Pfeiffers bei, während Rieger, Müllenhoff, v. Liliencron, Zacher, Scherer, v. Muth und Henning Lachmanns Standpunkt festhielten. Bartsch stützt die Resultate seiner Studien vornehmlich auf Untersuchungen metrischer und sprachlicher Eigentümlichkeiten, insbesondere des Reims, [* 21] wobei ihm die genaue mit andern mittelalterlichen Dichtungen angestellt Vergleichung das Ergebnis lieferte, daß die ursprüngliche Abfassung des Nibelungenlieds in die Jahre 1140-1150 zu setzen sei, und daß wir weder in der von Lachmann bevorzugten Handschrift A noch in der von Holtzmann und Zarncke für die älteste erklärten Handschrift C den frühsten Text der spätern Bearbeitung zu suchen haben, sondern daß zwei Bearbeitungen des uns verlornen, in Assonanzen gedichteten Originals erhalten seien, deren eine durch C, die andre durch B (die St. Galler Handschrift) am besten vertreten sei, während A von letzterer nur einen gekürzten Text enthalte.
Dieser Annahme von zwei verschiedenen Rezensionen eines ältern Textes hat sich neuerdings, besonders nach den Untersuchungen von Paul (»Zur Nibelungenfrage«, in den »Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache«, [* 22] Bd. 3), auch Zarncke angeschlossen. Die Ansicht dagegen, daß jenes Original in die Mitte des 12. Jahrh. hinaufreiche und von dem Kürenberger herrühre, wird nur noch von wenigen geteilt. So hat die Lehre [* 23] von der Einheit des Gedichts, welche aus ästhetischen Gründen schon weit früher, unter andern durch L. Bauer und L. Uhland, vertreten wurde, auch vom Standpunkt der Wissenschaft aus eine schwer zu erschütterte Befestigung erhalten, wenn auch der Name des Dichters sich niemals mit Sicherheit wird feststellen lassen. - Die sogen. Nibelungenstrophe besteht aus vier paarweise gereimten Verszeilen, deren jede in zwei Hälften mit je drei Hebungen, aber von ungleichartiger Beschaffenheit zerfällt, indem die erste Hälfte einen weiblichen, die zweite einen männlichen Schluß hat, die zweite Hälfte der vierten Zeile aber vier Hebungen enthält. Im Auftakt können zwei Kürzen stehen, die Senkungen können auch ganz fehlen, so daß zwei Hebungen nebeneinander zu stehen kommen.
Vgl. Simrock, Die Nibelungenstrophe (Bonn [* 24] 1858).
[Ausgaben, Übersetzungen etc.] Unter den ältern Ausgaben des Nibelungenlieds sind die noch jetzt wichtigen: »Der Nibelungen Lied«, zum erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Handschrift herausgegeben von v. d. Hagen (Berl. 1820);
»Der Nibelunge Not und die Klage«, von K. Lachmann (das. 1826, 10. Abdruck des Textes 1881).
»Zwanzig Lieder von den Nibelungen«, von Lachmann (das. 1840); ¶