mehr
bedeutenden Einfluß auf die als
Wissenschaft gewann dann zu Anfang unsers
Jahrhunderts jene
Richtung der
Philosophie der Geschichte,
die von der
Annahme eines Urvolkes im
Orient
(Indien,
Ägypten,
[* 2]
Hochasien etc.) ausgeht, das im
Besitz einer Urreligion, d. h.
einer reinen Gotteserkenntnis, gewesen sei. Von dort sei diese Urweisheit durch
Priester unter den rohen
Völkern der
Erde und namentlich auch bei dem unkultivierten
Volk der Griechen ausgebreitet worden, und zwar wegen der unzulänglichen
Bildung und Erkenntniskraft der
Völker auf allegorische
Weise, in einer absichtlich erfundenen
Bildersprache (d. h. in Form
des
Mythus), während die abstrakte
Lehre
[* 3] der reinen
Religion sich esoterisch in den
Mysterien (s. d.) erhalten
habe. Zu den Vertretern dieser
Richtung gehören unter andern die
Romantiker
Fr.
Schlegel (Ȇber die
Sprache
[* 4] und
Weisheit der
Inder«, 1808) und
Görres (»Mythengeschichte der asiatischen
Welt«, 1810), auch
Schelling.
Andre
Forscher suchten in der Fabelwelt
der Alten die bildliche
Überlieferung einer bestimmten positiven
Wissenschaft, besonders der
Astronomie
[* 5] oder der
Chemie. Am meisten
Förderung ist der Mythologie
(besonders der griechisch-römischen) von seiten der
Philologie geworden.
Der unter
Herders Einfluß stehende
Christian Gottlob
Heyne (gest. 1812) war der erste, welcher die als einen Teil der Realphilologie
behandelte und den
Mythus als die Ausdrucksweise einer bestimmten Zeit betrachtete, der ebensosehr das
Hineintragen moderner
Ideen in die alten
Mythen als die Herleitung derselben aus Einer Urquelle ablehnte. Er geht allerdings
in seinen
Ansichten über die frühsten Zustände
Griechenlands noch ganz von der gewöhnlichen
Überlieferung aus, daß die
Pelasger höhlenbewohnende, tierisch-einfältige
Menschen gewesen, zu denen durch
Kadmos,
Danaos,
Kekrops
[* 6] der
Same uralter
Weisheit und Gotteserkenntnis gekommen sei.
Diese lassen sich absichtlich herab zu dem Naturvolk, mit dem sie sich nicht anders verständigen können als durch Bildnisse
und Gleichnisse, und so ist eine symbolische und mythische
Sprache die künstliche
Erfindung jener
Männer aus dem
Orient. Aus
den auf diese
Weise erfundenen Bildern und
Typen gestalten sich dann durch
Homer und Hesiod die im engern
Sinn so genannten
Mythen: die epischen
Erzählungen von den
Göttern und
Heroen. Aber trotz dieser schiefen
Ansicht von bewußten
Schöpfern und Erfindern von
Mythen hat
Heyne zuerst durch
Klassifikation der
Schichten
Licht
[* 7] und
Ordnung in die
Mythologie
gebracht, und dieselbe war als
Wissenschaft durch ihn gewonnen.
Aus der
Schule
Heynes ist
Creuzer
(»Symbolik und Mythologie
der alten
Völker«, Leipz. 1810-1812 u. öfter) hervorgegangen,
auf den jedoch später die
Ansichten von
Görres und der geistesverwandten
Richtungen großen Einfluß gewannen. Eine
Reaktion
gegen das
Heyne-Creuzersche
System ging von J. H.
^[Johann
Heinrich]
Voß aus, welcher in seinen »Mythologischen
Briefen« (Stuttg. 1794, 2 Bde.)
und in seiner »Antisymbolik« (das. 1824-26, 2
Tle.) die
Forderungen der
Kritik und der philologischen
Methode verfocht, indessen
nicht ohne
Einseitigkeit, insofern er im höhern
Alter des Schriftstellers
(Berichterstatters) jeweilig auch eine größere
Gewähr für echte, unverfälschte Mythologie
erblickte und konsequenterweise
Homer an die
Spitze der
Entwickelung
stellte, außerdem auch durch seinen
Rationalismus am wahren Verständnis der
Mythen als Gebilden naiver Volksanschauung verhindert
war.
Dieselben
Licht- und Schattenseiten zeigt
Lobecks berühmtes Werk »Aglaophamus, sive de theologiae mysticae Graecorum
causis« (Königsb. 1829). Auch Gottfr.
Hermann
(»De antiquissima Graecorum mythologia« und
»De historiae
graecae primordiis«,
»Briefe über
Homer und Hesiod«, 1817) hielt daran fest, daß die
Mythen eine von
Priestern geschaffene
bildliche
Rede seien; das
Volk und auch die Dichter hätten dieselbe wörtlich genommen. Um die wahre Bedeutung der
Mythen zu
erforschen, müsse auf dem Weg der
Etymologie der
Sinn der mythischen
Namen erkundet werden. Auf die neuern
Ansichten über Mythologie
hat
Otfried
Müller (besonders in seinen
»Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie«
,
Götting. 1825) besondern
Einfluß gewonnen.
Indem er das
Prinzip der Autochthonie aller griechischen
Entwickelung mit
Konsequenz und Erfolg geltend machte, hat
er den volkstümlichen
Ursprung und
Inhalt der Mythologie
zuerst systematisch durchgeführt und begründet und ist zu der
Annahme einer
mythenproduzierenden Zeit gekommen, in der das griechische
Volk nach innerer
Notwendigkeit seiner damaligen Bildungszustände
in den
Mythen die natürlichen
Formen seines
Denkens und Dichtens besaß. Ziemlich dieselbe
Richtung finden wir allerdings schon
vorher bei
Buttmann (»Mythologus«, Sammlung seiner ausgezeichneten, seit 1794 erschienenen
mythologischen
Aufsätze, Berl. 1828), nur daß dieser das lokale Gepräge, auf welches
Müller in erster
Linie ausgeht, weniger
berücksichtigt, dafür aber bereits vergleichenden (orientalischen)
Stoff herbeizieht. Auch
Welcker vertritt einen verwandten
Standpunkt, namentlich in seiner ausgezeichneten
»Griechischen Götterlehre«
(Götting. 1858-60, 3 Bde.),
desgleichen
Preller
(»Griechische Mythologie«
, Berl. 1854, 2 Bde.; 3. Aufl.,
besorgt von E.
Plew, 1872-75).
Auch die
Archäologie ist für das
Studium der Mythologie
von Wichtigkeit geworden. Verdient machten sich in dieser Beziehung
Zoëga
und besonders
Ed.
Gerhard durch den
Versuch, eine systematische Kunsterklärung zu begründen. Auch O.
Müller gibt in
seinem »Handbuch der
Archäologie« eine vorzügliche Übersicht der Kunstmythologie.
Durch Kunstsinn zeichnete sich auch
Emil
Braun
(»Griechische Götterlehre«, Gotha
[* 8] 1854) aus. Ein großartiges kunstmythologisches Werk ist die von
Overbeck begonnene
»Griechische Kunstmythologie«
(Leipz. 1871-87, Bd.
1-3),
neben welcher wir noch Conzes Buch »Heroen und Göttergestalten der griechischen Kunst« (Wien [* 9] 1874-75) anführen.
Vom Standpunkt der neuern Philosophie und Theologie ward die Mythologie der Alten betrachtet von Solger, Hegel, Chr. Herm. Weiße, Stuhr (»Religionssysteme der heidnischen Völker des Orients«, Berl. 1836; »Religionssysteme der Hellenen«, das. 1838). Mehr in theologischer Beziehung ist Baurs vom Schleiermacherschen Standpunkt bearbeitete »Symbolik und oder die Naturreligion« (Stuttg. 1824-25, 2 Tle.) wichtig. An einer unberechtigten Hineintragung des christlichen Standpunktes in die griechischen Mythen leiden bisweilen die Ansichten von Nägelsbachs »Homerischer Theologie« (Nürnb. 1840, 3. Aufl. 1884) und »Nachhomerischer Theologie« (das. 1857). Denselben Fehler begeht auch Lasaulx (»Studien des klassischen Altertums«, Regensb. 1854), der von einer nahen Verwandtschaft der antiken Religionsideen mit denen der Offenbarung des Alten und Neuen Testaments ausgeht. Am folgenreichsten ist in neuester Zeit der Einfluß der vergleichenden Mythologie geworden. Wie der Name sagt, beruht dieselbe auf Vergleichung der Mythen; diese Vergleichung aber erstreckt sich nicht auf die Mythen aller möglichen, sondern im wesentlichen nur auf die der zum ¶
mehr
indogermanischen (oder arischen) Stamm gehörigen Völker. Sie ist eine Tochter der vergleichenden Sprachwissenschaft. Zwar hatte sich schon vor 100 Jahren der englische Orientalist William Jones viel mit Mythenvergleichung abgegeben, aber diese bestand nur in einer kritiklosen Zusammenstellung indischer Mythen mit denen andrer arischer oder semitischer Völker. Als der eigentliche Vater der vergleichenden ist (von dem oben genannten Buttmann abgesehen) Adalbert Kuhn, ein Schüler Bopps, des Vaters der vergleichenden Sprachwissenschaft, anzusehen, obwohl darüber nie zu vergessen ist, daß bereits Jakob Grimm sehr gute Blicke in das Wesen der vergleichenden Mythologie gethan hat. Außer zahlreichen Aufsätzen in der »Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung«, der »Zeitschrift für deutsches Altertum«, »Zeitschrift für deutsche Mythologie«, den »Abhandlungen der Berliner [* 11] Akademie« (1873) etc. sind von ihm besonders zu nennen: »Zur ältesten Geschichte der indogermanischen Völker« (Berl. 1845) und »Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks« (das. 1859; wiederholt in den »Mythologischen Studien«, Bd. 1, Gütersloh 1886). In ähnlichem Sinn, wenn auch mit Unterschieden im einzelnen, haben gearbeitet: Max Müller (»Essays«, Bd. 2: »Beiträge zur vergleichenden und Ethnologie«, Leipz. 1869; »Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft«, Straßb. 1874);
F. L. W. Schwartz (»Der Ursprung der Mythologie«, Berl. 1860; »Die poetischen Naturanschauungen der Griechen, Römer [* 12] und Deutschen«, das. 1864-79, 2 Bde.; »Indogermanischer Volksglaube«, das. 1885);
Mannhardt (»Wald- und Feldkulte«, das. 1875-1877, 2 Bde.; »Klytia«, das. 1876; »Mythologische Forschungen«, Straßb. 1884);
Bréal (»Mélanges de mythologie et de linguistique«, Par. 1877);
Benfey, Cox, E. H. Meyer (»Indogermanische Mythen«, Bd. 1 u. 2, Berl. 1883-87) u. v. a.
Wie die vergleichende Grammatik die Sprachen der Indogermanen oder Arier (Inder, Perser, Griechen, Italer, Kelten, Germanen, Slawen und Letten) untersucht, um die von diesen Völkern gemeinsam gesprochene Grundsprache zu rekonstruieren, so geht die vergleichende oder Religionswissenschaft den Mythen dieser Völker nach, um die religiösen Vorstellungen und Gebräuche, den Glauben und Kultus der indogermanischen Urzeit zu erforschen. Für diese Rekonstruktion der indogermanischen Religion liefert die Mythologie eines jeden der stammverwandten Völker Bausteine; keine aber sind gewichtiger als die der indischen Mythologie, wie sie namentlich in den heiligen Liedern derselben, den Wedas, niedergelegt sind.
Denn wenigstens einem großen Teil dieser Lieder ist unter allen Urkunden des indogermanischen Geistes das höchste Alter zuzusprechen; vielfach zeigen sie das Volk noch ganz auf der Stufe der indogermanischen Einheit, d. h. auf der Stufe des Nomadenlebens mit Anfängen des Ackerbaues, der Viehzucht und [* 13] eines Gemeindewesens. Die Mythen sind daher hier noch am durchsichtigsten, ja selbst die Erklärer der Wedas haben sich vielfach noch das Verständnis der in ihnen vorkommenden mythischen Redeweisen bewahrt.
Überdies sind sie in verhältnismäßig treuer Gestalt überliefert. Nächst diesen erweisen sich die griechischen und germanischen Mythen für die oben bezeichnete Rekonstruktion der arischen Religion am ergiebigsten. Wer sich nun an die Vergleichung der Mythen dieser Völker macht, nimmt eine solche Übereinstimmung oft gerade bis in die unscheinbarsten Nebendinge oder in die aufallendsten Details hinein wahr, daß er sich des Gedankens entschlagen muß, diese Übereinstimmung auf psychologischem Weg daraus erklären zu können, daß unter ähnlichen Umständen allezeit ähnliche Mythen entstehen. Ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel für die Rekonstruktion der indogermanischen Religion bietet aber auch die Ethnologie, insofern sie von dem religiösen und sittlichen Zustand andrer noch auf gleicher oder ähnlicher Stufe befindlicher Völker Kunde gibt.
Was war es nun, was zuerst die religiösen Empfindungen und deren Äußerungen bei den Indogermanen anregte? Die Untersuchung der Götternamen und Göttersagen bei den verwandten Völkern gibt in Übereinstimmung mit der Ethnologie darauf die Antwort, daß dies die Vorgänge in der Natur waren: die Erscheinungen der Sonne [* 14] und des Mondes, der Morgen- und Abendröte, des Blitzes und Donners, des Sturmes und Windes. Die Menschen fühlten sich abhängig von der Macht dieser Naturerscheinungen und stellten sich diese Naturwesen belebt und zwar, ihrer kindlich-naiven Anschauung folgend, als Wesen wie sie selbst oder wie die Wesen ihrer Umgebung, nur, den Wirkungen entsprechend, mit übermenschlicher Kraft [* 15] ausgestattet vor.
Erst als ihnen der Unterschied zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Geist und Körper aufging, trennten sie den Gegenstand selbst von dem in ihm lebenden Träger [* 16] oder Urheber der Wirkung, z. B. den Sonnenkörper von dem Sonnenlenker. Alles, was in der Natur vorging, schauten sie im Spiegel [* 17] ihres eignen Lebens. Die Naturkörper benannten sie nach gewissen Ähnlichkeiten mit den Namen der Gegenstände ihres eignen Lebens. Wie das Leben der Menschen auf jener Stufe ein nur von natürlichen, nicht von sittlichen Prinzipien getragenes war, so ließen sie auch die Naturgötter rein nach natürlichen Trieben, nicht mit sittlichem Bewußtsein handeln.
Daher begegnet uns in den aus dieser Zeit mit herübergenommenen Redeweisen vieles, was einer in sittlicher Beziehung fortgeschrittenen Zeitanschauung nicht nur absonderlich, sondern geradezu ungeheuerlich und abstoßend erscheint. Zwar blieb der sittliche Fortschritt nicht ohne Einfluß auf die Vorstellungen von den Göttern, insofern auch diese allmählich mehr und mehr in sittlicher Beziehung vervollkommt wurden; aber alle jene uralten Züge von natürlicher Roheit zu verwischen, ist keinem Fortschritt gelungen.
Obwohl jedoch die vergleichende Mythologie nicht nur den Glauben an »Dyaus«, den Himmel, [* 18] als den höchsten Gott, sondern auch noch eine beträchtliche Summe andrer religiöser Vorstellungen als indogermanisches Eigentum erwiesen hat, so stellt sich doch ebenso zweifellos heraus, daß die Periode der Mythenbildung mit dem Eintritt der Trennung der arischen Völkerfamilie nichts weniger als abgeschlossen gewesen ist, daß dieselbe vielmehr, nur in andern Formen, stetig fortgeschritten ist.
Mit Recht erkennt es daher die Wissenschaft der Mythologie in neuester Zeit als ihre Aufgabe, die verschiedenen Mythenschichten zu scheiden und die Frage nach ihrem Eintritt und Alter aufzuwerfen. Mithin wird es auch fortgesetzte Aufgabe der Wissenschaft bleiben, sich in die Mythologie jedes einzelnen der stammverwandten Völker zu versenken, und dieser Zweig der Forschung wird durch die Mythenvergleichung in keiner Weise beeinträchtigt, im Gegenteil gefördert. Aber auch noch eine besondere Art der Mythenvergleichung muß Platz greifen. Es steht nämlich fest, daß die Trennung der acht arischen Völker nicht mit einemmal, sondern allmählich und gruppenweise erfolgt ist, wenn auch über das Wie und Wann der Trennung bei weitem noch keine ¶