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Flug der Phantasie oder der ernsten Arbeit des Musikers hinderlich zu sein, seiner schaffenden Thätigkeit vielmehr einen neuen und reichen Wirkungskreis eröffnet. Und noch nach einer dritten Richtung hin erstreckt sich der von Liszt auf die Musik der Gegenwart geübte heilsame Einfluß: das oberflächliche Instrumental-Virtuosentum, welches in den 20er und 30er Jahren vornehmlich von Paris [* 2] aus unter Führung von Kalkbrenner und Henri Herz in ganz Europa [* 3] seine Triumphe feierte, fand in ihm einen energischen Gegner. Selbst der größte Virtuose aller Zeiten, zog Liszt es doch vor, seine gewaltige Reproduktionskraft ausschließlich in den Dienst der idealen Kunst zu stellen, und das von ihm gegebene Beispiel der Selbstverleugnung wirkte so heilsam, daß die falschen Propheten des Klavierspiels bald nach seinem Erscheinen vom Schauplatz abtreten mußten.
Angesichts des wahrhaft kunstförderlichen Einflusses der von Liszt gegründeten, gegenwärtig durch Hans v. Bülow repräsentierten Schule des Klavierspiels darf man es kaum beklagen, daß dasselbe in unsern Tagen zu fast unbeschränkter Herrschaft gelangt ist; doch bleibt immerhin zu wünschen, daß das unverhältnismäßig vernachlässigte Studium der übrigen Instrumente und vor allem des Gesanges einen ähnlichen Aufschwung in baldiger Zukunft nehmen möge.
Bei aller Anerkennung der mit Ausbildung des Klaviers für die gesamte Musik der Neuzeit gewonnenen Vorteile (es sei hier noch an Friedr. Chopin [1809-49] erinnert, dessen in den 30er und 40er Jahren entstandene Klavierkompositionen weit über das Gebiet dieses Instruments hinaus anregend und veredelnd gewirkt haben) darf doch nicht vergessen werden, daß, wie der Gesang die Grundlage aller musikalischen Bildung, so das Studium des Kunstgesanges für die Ausbildung des Musikers unerläßlich ist; und wenn die musikalischen Errungenschaften früherer Jahrhunderte (bis zu Beethovens Zeit) vorwiegend dem Umstand zu danken sind, daß damals jeder Musiker, mochte er mehr oder weniger stimmbegabt sein, auch ein tüchtiger Sänger war, so erscheint eine jenen Zeiten analoge Pflege des Kunstgesanges, d. h. seine Einführung als obligatorischer Unterrichtsgegenstand in die Musikschulen, als unerläßliche Bedingung einer gesunden Weiterentwickelung der Musik. Als vereinzelte Bestrebungen, dem Gesangstudium die ihm gebührende Bedeutung wieder zu erringen, verdient die Thätigkeit Eduard Grells und Heinrich Bellermanns (Berlin), [* 4] Wüllners (Köln), [* 5] Riedels (Leipzig), [* 6] besonders auch des durch Beispiel und Lehre [* 7] wirkenden größten Kunstsängers unsrer Zeit, Jul. Stockhausens (Frankfurt [* 8] a. M.), hervorgehoben zu werden. Sie zu unterstützen, wäre um so mehr Aufgabe der deutschen Kunstkreise, als die bisherige Heimat des Gesanges, Italien, [* 9] diesen Namen gegenwärtig kaum mehr verdient, seitdem die von sinnlichem Reiz erfüllte Oper Rossinis und seiner nächsten Nachfolger, Bellini (gest. 1835) und Donizetti (gest. 1848), der Verdis und damit der zur Zeit des erstgenannten durch einen Rubini, einen Tamburini, eine Catalani, Pasta, Grisi vertretene Kunstgesang dem eigentlich dramatischen hat weichen müssen.
Für diese Kunstgattung nun hat sich Frankreich wie im 17. und 18. Jahrh., so auch in neuerer Zeit besonders befähigt gezeigt, und schwerlich werden die dramatischen Gesangsleistungen der dort in den 30er Jahren aufgetretenen Nourrit, Duprez, Roger anderswo übertroffen werden. Aber auch auf allen andern Gebieten der ausübenden Tonkunst hat Frankreich eine musikalisch bildende Kraft [* 10] bewährt, die den Wetteifer der übrigen Nationen herauszufordern wohl geeignet ist.
Denn wenn man erwägt, daß das Pariser Konservatorium seit seiner Begründung inmitten der politischen Stürme von 1792 neben dem dramatischen auch den Kunstgesang mit überraschendem Erfolg gepflegt hat, wie das Beispiel Stockhausens zeigt, der dort seine Ausbildung genossen; daß es Pianisten und Symphoniker von der klassischen Richtung eines Saint-Saëns zu seinen Schülern zählt; daß das Violinspiel sich unter Alard auf der ihm durch Baillot errungenen hohen Stufe erhalten hat, ja, sofern man die von Baillots Schüler de Bériot gestiftete und durch ihn wie durch seine Schüler Vieuxtemps und Léonard berühmt gewordene belgische Violinschule als einen Zweig der französischen betrachten darf, noch weit über jene Stufe hinausgeschritten ist; daß das Studium der übrigen Streich- sowie der Blasinstrumente im Gegensatz zu den meisten deutschen Konservatorien dort mit gleichem Eifer betrieben wird; daß endlich die Unterrichtsgrundsätze des Pariser Konservatoriums für die Pflanzschulen (succursales) desselben in den größern Provinzialstädten maßgebend und somit für das ganze Land fruchtbringend sind: so darf man das Musikunterrichtswesen der Franzosen als musterhaft bezeichnen.
Um jedoch noch einmal nach Italien zurückzublicken, so wäre es ungerecht, die musikalischen Fortschritte zu ignorieren, welche auch dort in neuester Zeit gemacht worden sind. Mit der politischen Wiedergeburt des durch jahrhundertelanges Mißgeschick erschöpften Landes hat auch das italienische Musikleben wieder einen ernsten Charakter gewonnen, wozu die in den großen Städten der Halbinsel entstandenen Quartettgesellschaften, deren erste in Florenz [* 11] 1861 vom Musikschriftsteller Basevi und vom Verleger Guidi gegründet wurde, vornehmlich beigetragen haben.
Die von diesen Gesellschaften gegebene Anregung, den Kreis [* 12] des nationalen Musikempfindens durch das Studium der Kammer- und Orchestermusik fremden, namentlich deutschen, Ursprungs zu erweitern, hat bis zur Gegenwart außerordentlich fruchtbringend gewirkt, selbst auf den Geschmack des Opernpublikums, wie aus der günstigen Aufnahme, welche das Musikdrama R. Wagners in mehreren Städten Italiens [* 13] gefunden hat, mit Recht gefolgert werden darf. Weit geringeres Interesse bietet das Musikleben der übrigen Nationen Europas. England hat ungeachtet der idealen Bestrebungen einzelner seiner Komponisten, wie Sterndale-Bennett (gest. 1875), G. A. Macfarren (gest. 1887), A. C. Mackenzie (geb. 1847), A. Sullivan (geb. 1842) u. a., sowie der materiellen Opferwilligkeit des Publikums, noch nicht wieder zu der tonkünstlerischen Selbständigkeit gelangen können, die es namentlich zur Zeit der Königin Elisabeth besessen und mit dem Tod seines begabtesten Komponisten, Henry Purcell (gest. 1695), eingebüßt hat.
Und wie infolgedessen die englische Tonkunst überwiegend auf die Hilfe des Auslandes angewiesen ist, so auch und noch mehr die der Vereinigten Staaten [* 14] Amerikas, die während ihrer verhältnismäßig kurzen Geschichte zu sehr vom Kampf ums Dasein in Anspruch genommen waren, um die Ausbildung einer nationalen Kunst ins Auge [* 15] fassen zu können. Einstweilen aber muß anerkannt werden, daß Amerika [* 16] den regsten Anteil an der musikalischen Entwickelung Europas nimmt, und daß es, besonders seitdem Männer wie Thomas und Damrosch in New York, Hamerick und Fincke in Baltimore [* 17] das ¶
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musikalische Zepter schwangen, bezüglich seiner Reproduktionsfähigkeit hinter der Alten Welt nicht zurücksteht. Ungleich produktiver als diese beiden Länder zeigt sich Rußland, wo schon Ende des 18. Jahrh. mit dem als Reformator der russischen Kirchenmusik höchst verdienstvollen Bortniansky (gest. 1825) ein nationales Musikelement zur Geltung gelangte, welches, durch seinen Nachfolger Lwow (gest. 1870) und den Opernkomponisten Glinka (gest. 1857) weiter entwickelt, zur Ausbildung einer selbständigen Tonkunst führte.
In den Arbeiten der jüngern, stark von Berlioz und Wagner beeinflußten Schule, eines Tschaikowski, Asantschewsky, Dargomyschsky, Rimski-Korsakow, zeigt sich bereits eine so energische Originalität, daß man Rußland nach Überwindung seiner jetzigen staatlichen wie künstlerischen Sturm- und Drangperiode eine bedeutende musikalische Zukunft voraussagen darf. Weniger originell, weil mehr nach Deutschland [* 19] gravitierend, zeigt sich die skandinavische Musik der Gegenwart, obwohl an den Arbeiten der ältern Meister, der Dänen J. P. ^[Johann Peter] Hartmann und Gade, wie auch des durch Emil Hartmann, den Sohn des eben Genannten, ferner durch die Norweger Svendson und Grieg vertretenen jüngern Geschlechts eine nationale Eigenart nicht zu verkennen ist.
Was endlich Spanien [* 20] betrifft, so müßten die Musikzustände dieses Landes hoffnungslos genannt werden, wenn nicht die Thätigkeit des Violinisten Monasterio, der in Madrid [* 21] die klassischen Konzerte des Konservatoriums leitet, des Komponisten Soriano-Fuertes, der 1841 in Barcelona [* 22] die erste spanische Musikzeitung ins Leben rief, und andre vereinzelte Symptome darauf deuteten, daß auch in diesem abgelegenen Teil Europas der musikalische Geist der Neuzeit seinen Einfluß auszuüben beginnt.
Wie in allen diesen Ländern, so steht gegenwärtig auch in Deutschland die Vokalkomposition, namentlich die dramatische, hinter der Instrumentalkomposition zurück. Zwar hat es uns nicht an Komponisten gefehlt, die unter dem schon hervorgehobenen Einfluß Wagners ihre Kräfte der Bühne widmeten; doch vermochte keiner von ihnen einen entschiedenen Erfolg zu erringen, da sie sich sowohl in der Wahl der Stoffe als in der dichterischen und musikalischen Gestaltung zu eng an ihr Vorbild anschließen, um über die bloße Nachahmung hinauszukommen. Nur diejenigen, welche das Wagnersche Pathos zu vermeiden und einen mehr volkstümlichen Ton zu treffen wußten, wie Peter Cornelius (1824 bis 1874) mit seinem »Barbier von Bagdad«, Hermann Götz (1840-76) mit seiner »Bezähmten Widerspenstigen«, auch Viktor Neßler (geb. 1841) mit seinem musikalisch wertlosen, aber auf die Menge wirkenden »Trompeter von Säckingen«, konnten allgemeinen Beifall finden. Auch diejenigen Vokalkomponisten haben nicht vergebens gestrebt, welche, wie Adolf Jensen (1837-79), Eduard Lassen (geb. 1830) und Alexander Ritter (geb. 1835), das deutsche Lied nach Franz Schuberts Beispiel mit reicherm Inhalt erfüllten, als ihn die zwar sangbaren und melodiösen, aber der Tiefe ermangelnden Lieder ihrer Vorgänger, eines Heinr. Proch (1809-78), Friedr. Kücken (1810-82) und Ferd. Gumbert (geb. 1818), aufweisen. Gleichwohl liegt, wie schon erwähnt, der Schwerpunkt [* 23] der musikalischen Produktion Deutschlands [* 24] in der Instrumental-Komposition, unter deren Vertretern Rob. Volkmann (1815-83), Joachim Raff (1822-82), Johannes Brahms (geb. 1833) und Felix Dräseke (geb. 1835) hervorragen, wobei zu bemerken ist, daß die größern Chorwerke der Genannten, neben denen auch die der gleichen Gattung angehörigen Arbeiten Albert Beckers (geb. 1834) ehrenvoll zu nennen sind, sich den Instrumentalwerken größtenteils ebenbürtig anschließen.
Litteratur.
Überreich ist das 19. Jahrh. an theoretischen und musikwissenschaftlichen Arbeiten gewesen, von denen die hervorragendsten im folgenden zusammengestellt sind.
Kompositionslehre: Die Werke von Albrechtsberger (»Gründliche Anweisung zur Komposition«, 1790; vermehrte Ausg. von Seyfried, Wien [* 25] 1826, 3 Bde.),
Abt Vogler (»Harmonielehre«, Prag [* 26] 1802),
A. B. Marx (»Lehre von der musikalischen Komposition«, 4 Bde., Leipz. 1837-47 u. öfter),
Sechter (»Grundzüge der musikalischen Komposition«, das. 1853-54),
Dehn (»Kontrapunkt«, Berl. 1859),
Lobe (»Lehrbuch der musikalischen Komposition«, 4 Bde., 1855-67 u. öfter),
E. F. Richter (»Lehrbuch der Harmonie«, 17. Aufl., Leipz. 1886; »Lehrbuch der Fuge«, 5. Aufl., das. 1886),
H. Bellermann (»Kontrapunkt«, Berl. 1862),
Cherubini (»Cours de contrepoint«; deutsch von Stöpel, Leipz. 1835),
Berlioz (»Traité d'instrumentation«, 1844; deutsch, Leipz. 1864) u. a.
Geschichte der Musik. a) Allgemeine Geschichte: Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen Musik (2. Aufl., Leipz. 1846);
Ambros, Geschichte der Musik (unvollendet, 2. Aufl., 1880-81, 4 Bde.);
Fétis, Histoire générale de la musique (Brüssel [* 27] u. Par. 1868-76, 5 Bde.);
Reißmann, Allgemeine Geschichte der Musik (Münch. 1863-65, 3 Bde.);
Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich (Leipz. 1851, 7. Aufl. 1887);
A. v. Dommer, Handbuch der Musikgeschichte (2. Aufl., das. 1878);
H. A. Köstlin, Geschichte der Musik im Umriß (3. Aufl., Tübing. 1883);
Langhans, Die Musikgeschichte in zwölf Vorträgen (2. Aufl., Leipz. 1878). - b) Musik des Altertums: Fr. Bellermann, Die Hymnen des Dionysius und Mesomedes (Berl. 1840);
Derselbe, Die Tonleitern und Musiknoten der Griechen (das. 1847);
Westphal, Die Musik des griechischen Altertums (Leipz. 1883) und andre Schriften des Verfassers, besonders über die Rhythmik und Harmonik der Griechen;
Weitzmann, Geschichte der griechischen Musik (Berl. 1855);
Gevaert, Histoire et théorie de la musique de l'antiquité (Brüssel 1875-81, 2 Bde.). - c) Musik des Mittelalters: Coussemaker, Histoire de l'harmonie au moyen-âge (Berl. 1852);
v. d. Hagen, [* 28] Minnesinger, Bd. 4 (Leipz. 1838);
Schubiger, Die Sängerschule St. Gallens (Einsiedeln 1858);
Kiesewetter, Die Verdienste der Niederländer (Amsterd. 1829);
Jacobsthal, Die Mensuralnotenschrift des 12. und 13. Jahrh. (Berl. 1871);
H. Bellermann, Die Mensuralnoten des 15. und 16. Jahrhunderts (das. 1858);
Schelle, Die Sixtinische Kapelle (Wien 1872). - d) Musik der neuern Zeit: K. F. Becker, Die Hausmusik in Deutschland im 16., 17. und 18. Jahrhundert (Leipz. 1840);
Langhans, Die Geschichte der Musik des 17., 18. und 19. Jahrhunderts (das. 1882-87, 2 Bde.);
Reißmann, Geschichte des deutschen Liedes (Berl. 1874);
Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter (Leipz. 1834);
Derselbe, Der evangelische Kirchengesang (das. 1843 bis 1847, 3 Bde.);
Lindner, Die erste stehende deutsche Oper (Berl. 1855);
Fürstenau, Zur Geschichte der und des Theaters am Hofe zu Dresden [* 29] (Dresd. 1861-62, 2 Bde.);
Castil-Blaze, L'académie impériale de musique (Par. 1847-55, 2 Bde.);
Chouquet, Histoire de la musique dramatique en France (das. 1873);