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genannten Oper gelten, so wurde der Schauplatz ihrer ersten und wichtigsten Entwickelungsjahre Venedig. [* 2] Durch seine geographische Lage den das übrige Italien [* 3] beherrschenden politischen und kirchlichen Einflüssen entzogen, denen der Nachbarnationen, namentlich des Orients, dagegen um so leichter zugänglich, hatte sich die Republik bei wachsendem Wohlstand auch nach geistiger Seite eigenartig entwickeln können, hatte das dortige Leben jenen glänzenden, farbenprächtigen Charakter gewonnen, welcher nicht nur die Werke der bildenden Kunst, sondern auch seit Willaerts Zeit, namentlich aber unter dessen Schülern, den Gabrieli, die Kirchenmusik der Venezianer von denen der andern italienischen Schulen unterscheidet. Die hier waltende Freiheit im Gebrauch der künstlerischen Ausdrucksmittel, verbunden mit ausgeprägtem, dem Phantastischen zugeneigtem Schönheitssinn, mußte auch der Oper in ihrer weitern Ausbildung wesentlich zu statten kommen, und in der That nimmt dieselbe hier mit Claudio Monteverde (gest. 1643) einen Aufschwung, welchen die Florentiner [* 4] Akademiker schwerlich geahnt hatten.
Monteverdes Streben ging in erster Reihe dahin, die musikalischen Hilfsmittel zur Charakteristik und Darstellung leidenschaftlich erregter Gemütszustände zu vermehren, und er erreichte dies teils durch freieste Verwendung der Dissonanzen, teils durch Benutzung der Orchesterinstrumente je nach ihrer Individualität zur Charakterisierung der handelnden Personen und der darzustellenden Situationen. Auch für diese Neuerungen war in Venedig gewissermaßen schon der Boden bereitet, denn hier hatte 1544 ein Schüler Willaerts, Cyprian de Rore, mit seinen »Chromatischen Madrigalen« das Signal gegeben zur Durchbrechung der strengen Diatonik der Kirchentöne, während der ebenfalls aus Willaerts Schule stammende Theoretiker Zarlino in seinen »Istituzioni harmoniche« (1557) die Einführung der zur Ausbildung des modernen Harmoniesystems notwendig gewordenen temperierten Stimmung angebahnt hatte.
Endlich war auch die Instrumentalmusik mit den Toccaten des Claudio Merulo (1557 Organist an der Markuskirche) hier zuerst als selbständige Kunst ins Leben getreten, nachdem sie bis dahin die Formen von der Vokalmusik hatte borgen müssen. So fand Monteverdes Thätigkeit, wenn auch anfangs heftig bekämpft, doch einen im allgemeinen günstigen Boden und war schließlich von solchem Erfolg gekrönt, daß Venedig ein volles Jahrhundert hindurch als hohe Schule der Oper gelten konnte.
Unter den zahlreichen dramatischen Werken, die er hier zur Aufführung brachte, fand die »Arianna« den meisten Beifall. In die Zeit seines Wirkens fällt auch ein für den Fortschritt der Oper wichtiges Ereignis, als dessen mittelbarer Urheber jedenfalls er anzusehen ist: die Gründung des ersten öffentlichen Opernhauses (San Cassiano, 1637), infolgedessen die Oper ihren Charakter als bloße Hoffestlichkeit verlor und dem großen Publikum zugänglich gemacht wurde.
Der Geschmacksveränderung gegenüber, welche die Verbreitung der dramatischen Musik im Gefolge hatte, mochte sich auch die Kirche nicht länger mit den bis dahin gebräuchlichen Darstellungsmitteln begnügen, und es beginnt nunmehr für die geistliche eine Bewegung, welche geradeswegs zur Passion Bachs und zum Oratorium Händels führte. Die Leidensgeschichte Christi war zwar schon im Mittelalter ein Gegenstand der dramatisch-musikalischen Darstellung gewesen, doch war die sie begleitende Musik entweder durch rituelle Vorschriften oder (sofern die Passionsspiele von Laien veranstaltet waren) durch Vorherrschen eines derb-volkstümlichen Elements gehindert, zu künstlerischer Bedeutung zu gelangen. Eine freiere Bewegung war ihr bei den Zusammenkünften gestattet, welche während der Fastenzeit behufs geistlicher Erbauung in den italienischen Klöstern veranstaltet wurden (nach dem Betsaal, in dem sie stattfanden, Congregazioni del oratorio genannt), besonders nachdem der römische Priester Filippo Neri (gest. 1595) auf den Gedanken gekommen war, seine Erklärung der Schrift durch beziehungsvoll eingeflochtene Chorgesänge gleichsam illustrieren zu lassen, und in dem päpstlichen Kapellmeister Animuccia, nach dessen Tod aber in seinem Nachfolger Palestrina willige Gehilfen gefunden hatte.
Inzwischen hatte auch die bei der kirchlichen Darstellung der Passion mitwirkende eine dramatische Färbung erhalten, wie dies unter anderm die Passionschöre (turbae) des Spaniers Vittoria (1575 Kapellmeister an der Apollinariskirche zu Rom) [* 5] deutlich erkennen lassen, und es bedurfte nur noch des von Florenz [* 6] gegebenen Impulses, um neben dem weltlichen auch das geistliche Musikdrama (nun Oratorio genannt, indem man den Namen des Schauplatzes auf die Sache selbst übertrug) ins Leben zu rufen. In demselben Jahr (1600), welches die moderne Oper entstehen sah, wurde auf einer Bühne im Betsaal des Klosters Santa Maria in Vallicella zu Rom das geistlich-allegorische Musikdrama »La rappresentazione di anima e di corpo« von Cavaliere zum erstenmal aufgeführt und damit der dramatischen Musik ein neues Gebiet eröffnet, auf welchem sie ihre Macht um so mehr bewähren konnte, als sie im Oratorium die Aufgabe hatte, durch Lebhaftigkeit der Schilderung für die (wenigstens von Händels Zeit an) mangelnden szenischen Zuthaten Ersatz zu leisten. Ein weiteres Eindringen des dramatischen Elements in die Kirche bewirkten ^[bewirkte] Viadana (gest. 1645 in Gualtieri) durch seine »Kirchenkonzerte«, geistliche Stücke für eine und mehrere Singstimmen, von einem Orgelbaß begleitet, dem sogen. Basso continuo (s. d.),
und Carissimi (gest. 1674),
dessen Oratorien: »Jephtha«, »Das Urteil des Salomo« etc. an Belebtheit des Ausdrucks, namentlich der Chöre, den Händelschen bereits nahekommen.
Nach dem Tode dieses Meisters beginnt die geistliche Musik Italiens [* 7] unter dem Einfluß der Oper immer mehr zu verweltlichen. Dagegen widmet sich von nun an Deutschland [* 8] mit um so größerm Eifer der Pflege der kirchlichen Tonkunst, und hier verdient Heinrich Schütz (gest. 1672 in Dresden) [* 9] in erster Reihe genannt zu werden. Schütz, zwar in der venezianischen Schule der Gabrieli ausgebildet, dessenungeachtet aber durchaus als Deutscher empfindend, begnügt sich nicht mehr mit der bloßen Darstellung der Leidensgeschichte, sondern er fügt ihr, wenn auch nur in beschränktem Maß, jene Betrachtungen der Gemeinde hinzu, in welchen wir bei Bach neben dem epischen und dramatischen Element noch das lyrische zur reichsten Entfaltung gelangen sehen.
Als Mittelglieder zwischen ihm und Bach sind noch zu erwähnen: der brandenb. Kapellmeister Sebastiani, in dessen noch in Schütz' Todesjahr erschienenem Passionswerk zuerst der protestantische Choral mit der musikalischen Darstellung der Leidensgeschichte beziehungsreich verflochten erscheint; ferner der Hamburger Dichter Brockes als Verfasser eines Passionstextes (1712), welcher seiner Anlage nach den Kunstansprüchen der Zeit allseitig Genüge leistete. Die kunstgeschichtliche Bedeutung dieses Textes, der von ¶
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den damals berühmtesten Komponisten Keiser, Mattheson, Telemann, ja sogar von Händel in Musik gesetzt, teilweise auch von Seb. Bach (für seine »Johannes-Passion«) benutzt worden ist, liegt hauptsächlich in der Gruppierung des Stoffes: den Szenen der biblischen Geschichte sind die Betrachtungen einer idealen Gemeinde gegenübergestellt, und zu diesen beiden Gruppen gesellt sich noch als dritte die wirkliche Gemeinde, vertreten durch den protestantischen Choral.
Damit war die dichterische Form der Passion endgültig festgestellt, und indem diese Form durch Seb. Bachs (1685-1750) musikalischen Riesengeist belebt wurde, erhob sich die Passion zu einer künstlerischen Höhe, welche von keiner spätern Zeit wieder erreicht, geschweige übertroffen wurde. Der andre Zweig der geistlich-dramatischen Musik aber, das Oratorium, gelangte um dieselbe Zeit durch Georg Friedr. Händel (1685-1759) zu der gleichen bis heute unübertroffenen Stufe der Vollendung: drei Jahre nach der ersten Aufführung der Bachschen »Matthäus-Passion« zu Leipzig [* 11] (1729) trat Händel in London [* 12] mit seinem ersten Werk dieser Gattung: »Esther«, vor die Öffentlichkeit und dies mit solchem Erfolg, daß er sich einige Jahre später von der Oper, für die er bis dahin vorwiegend thätig gewesen, völlig zurückzog, um seine ganze Kraft [* 13] dem Oratorium zu widmen.
Wenden wir uns nun zur Oper zurück, so sehen wir dieselbe schon zu Lebzeiten Monteverdes ihren Einfluß auch außerhalb Italiens geltend machen; zuerst in Deutschland, wo schon 1627 zu Torgau, [* 14] bei Gelegenheit der Vermählung der Tochter des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen, [* 15] die erste Opernaufführung stattfand. Man hatte für diese Veranlassung die früher genannte »Euridice« von Rinuccini und Peri gewählt, welche von Opitz ins Deutsche [* 16] übersetzt und, da Peris Musik zu dieser Bearbeitung nicht mehr paßte, von Schütz mit neuer Musik versehen war.
Über den Erfolg dieses Versuchs ist indessen nichts bekannt geworden; er mußte auch schon deshalb ohne künstlerische Nachwirkung bleiben, weil die zunehmenden Wirren des Dreißigjährigen Kriegs die Pflege der Kunst in Deutschland überhaupt unmöglich machten. Unter weit günstigern Bedingungen hielt die Oper ihren Einzug in Frankreich, denn zu der Zeit, wo auf Veranlassung des Kardinals Mazarin die erste italienische Operntruppe in Paris [* 17] erschien (1645), war die Epoche politischer und religiöser Unruhen längst abgeschlossen, und es hatten sich neben dem materiellen Wohlstand die künstlerischen Triebe der Nation frei entfalten können.
Die Teilnahme, mit welcher hier die Oper aufgenommen wurde, war selbstverständlich eine lebhafte. Da jedoch der Geschmack des Publikums für dramatische Darstellungen durch Männer wie Corneille und Molière bereits in hohem Grad verfeinert war und die italienische Oper hinsichts des Textes demselben nicht zu genügen vermochte, so that sich bald das Bestreben kund, sie dem nationalen Kunstempfinden entsprechend um- und auszubilden. Allerdings hielten die tonangebenden Dichter, an ihrer Spitze Boileau, die französische Sprache für ungeeignet, sich im Drama mit der Musik zu verbinden, doch ließen sich der Abbé Perrin und der damals angesehenste Komponist Frankreichs, Robert Cambert, dadurch nicht abschrecken, den Versuch zu wagen, und traten 1659 mit einem Singspiel: »Pastorale, première comédie française en musique«, hervor, welches durch die ihm zu teil gewordene günstige Aufnahme die Vorurteile der Dichter gründlich widerlegte.
Nun ruhte Perrin nicht eher, als bis er vom König ein Privilegium erhalten hatte, Opernakademien nach Art der italienischen zu veranstalten, und 1671 konnte das erste Pariser Opernhaus mit der von den beiden Genannten verfaßten »Pomona« eröffnet werden. Mittlerweile aber war dem jungen Unternehmen ein gefährlicher Gegner herangewachsen: der Florentiner Lully (1633-87),
welcher erst als Violinist, dann als Komponist, endlich auch als Schauspieler sich mehr und mehr bei Ludwig XIV. in Gunst gesetzt hatte und, auf den Erfolg der »Pomona« eifersüchtig, schon im nächsten Jahr das Perrin erteilte Privilegium an sich zu bringen wußte. Damit wurde er der unumschränkte Beherrscher des gesamten französischen Opernwesens, und er war es auch, welcher der französischen sogen. großen Oper die bis auf die Gegenwart für sie charakteristisch gebliebene Form gab.
Dabei ist zu bemerken, daß die Wirkung seiner Opern, die sich noch fast ein Jahrhundert nach seinem Tod bis zum Auftreten Glucks (1774) auf dem Repertoire erhielten, weniger seiner musikalischen Begabung zuzuschreiben ist als vielmehr seiner Fähigkeit, durch geschickte Benutzung aller künstlerischen Darstellungsmittel die Vorstellung zu verwirklichen, welche man sich in Frankreich vom antiken Drama gebildet hatte. Einen wesentlichen Anteil an Lullys Erfolgen hatte demnach auch sein Dichter Ph. Quinault, dessen Texte sich streng an das antike Muster anschließen und übrigens an poetischem Werte den gleichzeitigen Arbeiten der italienischen Operntextdichter weit überlegen sind.
Die musikalische Richtung Lullys auf ausdrucksvolle Rhythmik und wortgetreue Deklamation verfolgte auch J. ^[Jean] Philippe Rameau (1683-1764), der einzige, dessen Werke sich während des erwähnten langen Zeitraums neben denen Lullys an der Großen Oper behaupten konnten. Dabei aber zeigte seine Musik einen ungleich größern melodischen und harmonischen Reichtum, was sich schon dadurch erklärt, daß er mit seiner Thätigkeit als Opernkomponist eine nicht minder erfolgreiche als Organist und Theoretiker verband. In letzterer Eigenschaft wurde er der Begründer des noch heute gültigen Harmoniesystems, nach welchem der Dreiklang die Grundlage aller harmonischen Verbindungen bildet, und er war es auch, der mit seiner Schrift »Génération harmonique« (1737) die schon ein Jahrzehnt zuvor durch J. S. Bach in seinem »Wohltemperierten Klavier« praktisch demonstrierte gleichschwebende Temperatur, d. h. Einteilung der Oktave in zwölf gleichgroße Halbtöne, zur allgemeinen Anerkennung brachte.
Verfolgen wir endlich die französische große Oper bis zum Höhepunkt ihrer Entwickelung, so treffen wir auf das Musikdrama von Christoph Wilibald Gluck (1714-87), der, von deutschem Ernst erfüllt und in der italienischen Schule gebildet, dennoch in Paris den einzig geeigneten Boden zur Ausführung seiner Reformen finden konnte und hier den in seiner Vorrede zur Oper »Alceste« ausgesprochenen, wieder im wesentlichen denen Lullys folgenden Kunstprinzipien ungeachtet heftiger Opposition durch seine 1774 zum erstenmal aufgeführte »Iphigenia in Aulis« zu entscheidendem Sieg verhalf.
Wiewohl Frankreich schon seit Mitte des 17. Jahrh. Italien den Rang der künstlerisch tonangebenden Nation streitig gemacht hatte, so konnte das letztere Land auf musikalischem Gebiet zu dieser Zeit noch keineswegs für geschlagen gelten; vielmehr gewinnt gerade im 18. Jahrh. die italienische Oper eine das gesamte Musikwesen dominierende Stellung. ¶