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die Textessilben, wie in der ausdrucksvollen Rede, nach Belieben zu dehnen und zu verkürzen. »Indem so die Melodie von den Fesseln der Metrik befreit war«, sagt Ambros, »zerriß das Band, [* 2] welches bis dahin die christliche Musik noch mit der antiken verknüpft hatte, und darin liegt die hohe Bedeutung der musikalischen Reform des heil. Gregor, daß sich nun die Tonkunst thatsächlich von der Wortdichtung emanzipierte, in welcher jene bisher fast als integrierender Bestandteil unselbständig aufgegangen war.«
Nach Gregors Tod mußten wiederum Jahrhunderte vergehen, bevor die Musik in ein neues Stadium ihrer Entwickelung treten konnte, bevor dasjenige Element zur Ausbildung gelangen sollte, welches recht eigentlich das Unterscheidungsmerkmal der antiken von der modernen Musik bildet: die Mehrstimmigkeit oder Harmonie (im heutigen Sinn des Wortes). Der erste, welcher es unternahm, feste Regeln für das gleichzeitige Erklingen zweier oder mehrerer Tonreihen aufzustellen, war Hucbald (Ubaldus), ein Mönch des Klosters St.-Amand in Flandern (gest. 930). Er folgte dabei teils der antiken Musiklehre, welche in der lateinischen Bearbeitung des Boethius (gest. 525 n. Chr.) zu seiner Zeit wiederum Gegenstand des Studiums geworden war, teils den bereits vor ihm an musikalischen Instrumenten gemachten praktischen Erfahrungen; die von ihm seinen mehrstimmigen Tonsätzen gegebenen Namen Diaphonie (»Zusammenklang«) und Organum (»Musikinstrument«) deuten auf die eine wie auf die andre Quelle. [* 3] Das Verfahren Hucbalds bestand zunächst darin, daß er zu einer Tonreihe eine zweite in der schon von den Griechen als vollkommenste Konsonanz anerkannten Quinte hinzufügte; sodann gewinnt er durch Oktavenverdoppelung der tiefen Stimme Quartenparallelen in den beiden Oberstimmen; endlich durch Oktavenverdoppelung der zweiten Stimme einen vierstimmigen Satz, z. B.
^[img] Tu pa-tris sem-pi-ter-nuns es fi-li-us
Neben dieser rein mechanischen Tonkombination empfiehlt er aber noch eine andre von nur zwei Stimmen, deren eine meist auf derselben Tonhöhe verweilt, während die andre sich in verschiedenen Intervallen um sie herum bewegt:
^[img] Tu pa-tris sem-pi-ter-nuns es fi-li-us
Indessen war auch mit dieser Art des Organums, wiewohl es schon eine annähernd kunstmäßige Gestalt zeigt, für die Ausbildung der mehrstimmigen Musik noch nicht viel gewonnen, und man wird die begeisterten Äußerungen Hucbalds bezüglich der Wirkung dieses »lieblichen Zusammenklanges« mit Vorsicht aufnehmen müssen. Auch dem ein Jahrhundert später wirkenden, als Musikreformator zu hohem Ruhm gelangten Guido von Arezzo (gest. 1050) sollte es nicht gelingen, die Kunst des mehrstimmigen Tonsatzes wesentlich zu fördern; dagegen ist ihm ein andrer wichtiger Fortschritt zu danken, die Ausbildung einer den erhöhten Bedürfnissen der Musik entsprechenden Notenschrift.
Als solche waren von den Griechen die 24 Buchstaben des Alphabets (für die Instrumente in verkehrter Stellung) benutzt worden, von Gregor d. Gr. aber die des lateinischen Alphabets und zwar, in richtiger Erkenntnis der Notwendigkeit einer Vereinfachung der antiken Notation, nur die sieben ersten als zur Bezeichnung der diatonischen Tonleiter hinreichend. Beide Notierungsarten aber litten an dem Fehler, daß sie das Steigen und Fallen der [* 4] Melodie nicht anschaulich darstellten.
Dies vermochte eine dritte schon zu Gregors Zeit bekannt gewesene und auch von ihm neben den Buchstaben benutzte Tonschrift, die Neumen [* 5] (s. d.), bestehend in einer großen Zahl von Zeichen, Punkten, Strichelchen und Schnörkeln, deren Ursprung in den Accenten der griechischen Schriftsprache zu suchen ist, bis zu einem gewissen Grade; doch war die Stellung der einzelnen auf- und absteigenden Tonzeichen, solange man dieselbe nicht mit Hilfe eines Liniensystems präzisierte, zu unbestimmt, um nicht die verschiedensten Lesarten zuzulassen.
Diesem Übelstand nun half Guido ab, indem er die Versuche seiner Vorgänger mit erst einer, dann zwei bald schwarzen, bald farbigen Linien dadurch zum Abschluß brachte, daß er vier Linien nebst den dazwischenliegenden Spatien benutzte und so die Möglichkeit gewann, den Neumen im Umfang einer Oktave (genau einer None) ihren bestimmten Platz anzuweisen. Von den mancherlei weitern Erfindungen, welche die Zeitgenossen und Nachfolger des gefeierten Mannes ihm zum Teil mit Recht, zum Teil mit Unrecht zugeschrieben haben, verdient namentlich seine Gesanglehrmethode Erwähnung, vermittelst welcher er in Jahresfrist oder höchstens in zwei Jahren die Ausbildung eines Sängers vollenden zu können behauptete. Diese Methode bestand darin, daß der Schüler die Intervallverhältnisse eines zu erlernenden Gesanges durch Vergleichung mit einem ihm schon bekannten schneller erfaßte; als einen zu solchen Vergleichen geeigneten Melodientypus empfahl Guido eine Hymne des Paulus Diaconus, in welcher die Sänger bei Heiserkeit von Johannes dem Täufer, dem »Patron der hellen Stimme« (vox clamantis), Heilung erflehten:
^[img] Ut que-ant la-xis re-so-na-re fi-bris mi-ra ge-sto-rum fa-mu-li tu-o-rum sol-ve pol-lu-ti la-bi-i re-a-tum Sanc-te Jo-han-nes.
Der Vorteil, den gerade diese Hymne dem Schüler bot, war ein doppelter: einmal, weil ihre einzelnen Melodiephrasen (nach heutiger Ausdrucksweise »Takte«) die für die Kirchentonarten charakteristischen Intervallverhältnisse darstellten, sodann, weil die Anfangstöne dieser Phrasen eine aufsteigende diatonische Skala bilden, welcher zufällige Umstand später die romanischen Völker veranlaßte, die Töne der Tonleiter mit den Silben ut re mi fa sol la zu bezeichnen. (Das si für die siebente Stufe wurde erst später, nachdem das Oktavensystem allgemein angenommen war, in Frankreich hinzugefügt.)
Ungeachtet aller Fortschritte, welche die Musik bisher ¶
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gemacht, mußte ihre nunmehr wichtigste Aufgabe, die Vervollkommnung des mehrstimmigen Gesanges, so lange ungelöst bleiben, als es dem Belieben der Sänger überlassen war, die Dauer der Töne zu bestimmen, und es an Mitteln fehlte, wie die Höhe und Tiefe, so auch den Zeitwert des Tons durch die Schrift dem Auge [* 7] kenntlich zu machen. Dieser Mangel gab Veranlassung, dem cantus planus einen cantus mensurabilis (»gemessenen Gesang«, Mensuralmusik) gegenüberzustellen, dessen Regeln zuerst von Franco von Köln (um 1200) festgestellt wurden.
Wie seine Vorgänger, geht auch Franco von den Griechen aus, indem er zunächst nur zwei Notenwerte, die Longa und die Brevis, annahm, entsprechend der langen und kurzen Silbe der antiken Prosodie. Die Vereinigung dieser beiden Notengattungen, deren letztere die Hälfte der erstern galt, ergibt den Modus, der entweder als Trochäus oder als Iambus erscheint, selbstverständlich aber stets dreiteilig ist; so erklärt es sich, daß in den frühsten Zeiten der Mensuralmusik der dreiteilige Rhythmus allein Anwendung fand und, als später auch der zweiteilige in Gebrauch kam, der vollkommene genannt wurde, letzterer aber der unvollkommene. Im weitern Verlauf seiner Darstellung freilich verläßt Franco die Traditionen des Altertums, denn hier erscheinen als neue Notenwerte die doppelte Longa (Maxima) und die halbe Brevis (Semibrevis).
Mit diesen Zeichen, zu denen noch das für die Pause (s. d.) kommt, war es schon möglich, eine rhythmisch mannigfaltige Musik zu notieren; nur litt die Mensuralnotation des Mittelalters an dem Übelstand, daß der Wert der Noten nicht durch ihre Gestalt allein, sondern auch durch ihre Stellung zur Nachbarnote bedingt war, was ihre Entzifferung sehr erschwerte. Die Schwierigkeiten häuften sich noch bei den sogen. Ligaturen, d. h. Gruppen von mehreren in ein Zeichen zusammengezogenen Noten, welche auf einer Silbe gesungen wurden, und in denen der Wert der einzelnen Noten sich nach dem rechts oder links befindlichen auf- oder absteigenden Strich etc. bestimmte. Zudem war das wichtige Hilfsmittel zur exakten Wiedergabe der Mensural- oder, wie sie auch genannt wurde, [* 6] Figurenmusik, der Taktstrich, um diese Zeit noch unbekannt; erst im 16. Jahrh. erscheint er hier und da, bis er im Anfang des 17. Jahrh. allgemein in Gebrauch kommt.
Auf einer ungleich höhern Stufe zeigt sich die neue Kunst des mehrstimmigen Tonsatzes zur Zeit des Marchettus von Padua und des Johannes de Muris Doktors der Theologie an der Universität zu Paris [* 8] (um 1300). In den Schriften dieser Männer erscheint zuerst das Verbot der noch von Hucbald ihres Wohlklangs wegen gepriesenen Quinten- und Oktavenparallelen nebst verschiedenen andern für den mehrstimmigen Tonsatz noch bis heute gültig gebliebenen Lehren. [* 9] Auch findet sich bei de Muris schon das Wort Kontrapunkt statt des bis dahin gebräuchlichen Ausdrucks Discantus als Bezeichnung eines zweistimmigen Tonsatzes.
Zur vollen Entfaltung aber gelangt die mehrstimmige Musik erst Ende des 14. Jahrh. mit Guillaume Dufay, der als Mitglied der päpstlichen Sängerkapelle nach Zurückverlegung des heiligen Stuhls von Avignon nach Rom [* 10] hier die für Ausbildung des Kontrapunktes erfolgreichste Periode eröffnete, welche nach der hauptsächlich dabei beteiligten Nation die niederländische genannt wird. Von hoher Bedeutung wurde es für die Wirksamkeit der niederländischen Tonsetzerschule, daß inzwischen neben der geistlichen auch die weltliche Musik zum Leben erwacht war.
Die Ausbildung der Vulgärsprachen, die pädagogischen Bemühungen der seit der Zeit Karls d. Gr. blühenden Universitäten und Klosterschulen, von welch letztern namentlich die zu St. Gallen auch die Musik mit Eifer pflegte, endlich die Einflüsse des Morgenlandes teils von dem maurischen Spanien [* 11] her, teils während der Kreuzzüge, alles dies hatte zur Entfesselung der künstlerischen, im besondern der dichterischen und musikalischen, Triebe der abendländischen Völker mitgewirkt. Im südlichen Frankreich erklingt zuerst der Gesang der Troubadoure und erweckt bald darauf bei den germanischen Völkern die Kunst des Minnegesanges.
Waren es in beiden Fällen vorwiegend die höhern Gesellschaftsklassen, welche sich der Pflege des Gesanges annahmen, so traten die bürgerlichen Elemente der Bevölkerung [* 12] und die bis dahin gering geachtet gewesenen Instrumentalmusiker in gleicher Absicht zu zunftmäßig geordneten Genossenschaften zusammen und förderten, wenn auch in beschränkter Weise, das Verständnis für Dicht- und Tonkunst. Die Schulen der Meistersinger in Nürnberg, [* 13] Ulm, [* 14] Straßburg, [* 15] die Instrumentalgenossenschaften: Nikolai-Bruderschaft zu Wien [* 16] (1288) und Confrérie de Saint-Julien des ménestriers zu Paris (1330, s. Musikantenzünfte) dürfen in diesem Sinn musikgeschichtliche Bedeutung beanspruchen, wie tief auch ihre Leistungen an Kunstwert unter denen der Troubadoure und Minnesänger stehen und nicht minder unter den Erzeugnissen des Volksgesanges, von dessen hoher Blüte [* 17] zu damaliger Zeit das neuerdings in der Bibliothek zu Wernigerode [* 18] aufgefundene, im 15. Jahrh. verfaßte sogen. Lochheimer Liederbuch unzweideutige Kunde gibt.
Weit entfernt, der ausschließlich von der Kirche gepflegten Kunstmusik hinderlich in den Weg zu treten, gewährte vielmehr dieser Aufschwung des weltlichen Gesanges den niederländischen Kontrapunktisten eine schätzbare Unterstützung zur Lösung ihrer Aufgabe, im allgemeinen durch die ermutigende Teilnahme, welche nun auch aus weitern Kreisen ihren Arbeiten entgegengebracht wurde, im besondern, indem ihnen der Volksgesang das melodiöse Material zu ihren Kompositionen lieferte; denn auf selbständige Erfindung von Melodien mußte die Kunstmusik verzichten, solange der Kampf mit der Technik des mehrstimmigen Tonsatzes die Kraft [* 19] des Komponisten für sich allein in Anspruch nahm.
Dies erklärt die der heutigen Zeit befremdliche Verwendung volkstümlicher Melodien zum thematischen Inhalt der Messen, Motetten und andrer Kirchenkompositionen der niederländischen Schule sowie die noch auffallendere Praxis jener Zeit, die dem Volksgesang entnommene Melodie, sofern sie als Gegenstimme zu einer Melodie des Gregorianischen Gesanges ertönte, mit ihrem weltlichen Text zu dem lateinischen der andern Melodie singen zu lassen. Das ausschließliche Streben nach Beherrschung der Form und die Freude an der Überwindung der kontrapunktischen Schwierigkeiten war endlich auch noch die Ursache der für die niederländische Schule charakteristischen Neigung, die früher erwähnte Verwickeltheit der Mensuralnotation nicht nur nicht zu vermindern, sondern geflissentlich zu erhöhen. Namentlich schienen die Nachahmungen in Kanonform bestimmt, den Scharfsinn des Tonsetzers wie des Ausführenden auf die Probe zu stellen, und wenn man sich anfangs begnügte, wie auch heute bei Notierung eines Kanons nur eine Stimme hinzuschreiben und den Eintritt der übrigen Stimmen durch ein Zeichen anzudeuten, so unternahm man es später, selbst gleichzeitig eintretende Stimmen mit nur einer Notenreihe ¶