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jeden Mormonen gilt, sich zu verehelichen und Kinder zu zeugen. Wie viele Frauen sich einer nimmt, hängt von seinem Einkommen und seiner Stellung in der Hierarchie ab; Präsident Young hatte 19 Frauen. Aber verhängnisvoll mußte das Institut der Vielweiberei schon darum werden, weil es allein der Regierung der Vereinigten Staaten [* 2] eine gesetzliche Handhabe zum Einschreiten bot. Seit 1874 sollten nur nichtpolygamistische Persönlichkeiten als Richter und Geschworne zugelassen werden, und 1875 wurde das Eingehen polygamistischer Verbindungen mit Zuchthausstrafe belegt.
Auch innerhalb des Mormonentums selbst erstand eine von Youngs erstgebornem Sohn geführte Partei zu gunsten der Monogamie. Die hierarchische Organisation erzielt eine vollständige geistige Unterjochung der Anhänger der Sekte; die Priesterschaft gilt den als eine göttliche, unfehlbare Autorität, und es wird für eine Todsünde erachtet, andrer Meinung zu sein als die Priester. Nach vorhergegangener Weihe durch Johannes den Täufer, der sich hierzu mit Petrus, Jacobus und Johannes vom Himmel [* 3] herabließ, setzte Joe Smith die Priesterschaft ein, und zwar teilt sich diese in zwei Stufen: die höhere Stufe Melchisedeks und die niedere Aarons.
Zur erstern gehören: die Präsidentschaft (fünf Mitglieder);
das Kollegium (Quorum) der zwölf Apostel, die einen reisenden Hohen Rat bilden;
das Kollegium der Hohenpriester (Zahl unbeschränkt);
das Kollegium der Siebziger, Reiseprediger;
Die zweite Stufe der »Aaronschen Priesterschaft« bilden die gewöhnlichen Priester, Lehrer und Diakonen; als ihre Vorstände sind Bischöfe eingesetzt, in deren Hände auch die niedere Zivilgerichtsbarkeit gelegt ist. Diese besorgen den Gottesdienst (»verwalten die Schlüssel des Dienstes der Engel«) wie die äußern Kirchenangelegenheiten, das Einsammeln der Zehnten, das Armenwesen, die Verteilung der Arbeitskräfte etc. Eine Besonderheit ist der Mangel jeglicher Kleiderabzeichen für die Priester.
Neben diesen hierarchischen Körpern läuft die geheime Verbindung der Daniten oder »Engel der Zerstörung«, einer im Dienst Youngs stehenden geheimen Polizei, der mit Grund viele Ermordungen, ja die Niedermetzelung ganzer Karawanen zur Last gelegt werden; diese Verbrechen verstärken die Abneigung, welche man in Amerika [* 4] gegen die Mormonen hegt. Missionäre der Mormonen haben nahezu alle Gegenden der Welt besucht, und auch an Zuzug fehlt es nicht, besonders aus Schottland, Skandinavien und Württemberg. [* 5] Die Gesamtzahl aller Mormonen auf der Erde beträgt höchstens 200,000, wovon die Mehrzahl (132,000 im J. 1887) in Utah lebt. Der Gottesdienst besteht in Spendung der Gnadenmittel (Taufe, Abendmahl, Handauflegen) und in Predigt; dabei werden geheime furchtbare Schwüre verlangt.
In Utah hat der Bienenfleiß der aus Wüsteneien fruchtbare Ackerfelder geschaffen; aber die Grundlage ihrer Religion, die ganze innere Organisation, ihr Kommunismus und das despotische Auftreten ihrer Führer passen so wenig in einen staatlichen Organismus wie der nordamerikanische, der seinen Bürgern Freiheit der Person und des Eigentums gewährleistet, daß die gänzliche Auflösung des Mormonenstaats nicht mehr aufzuhalten ist, zumal seitdem die 1869 eröffnete Pacificbahn das früher von der Welt abgeschlossene Utah leicht zugänglich gemacht und damit dem Mormonenstaat die erste seiner Existenzbedingungen abgeschnitten hat.
Seit 1874 geschahen daher seitens der Vereinigten Staaten Schritte nicht bloß zur Abschaffung der Vielweiberei, sondern auch zur Verantwortlichmachung der Führer für Ermordungen, und der Mormonenbischof Lee ist, als bei einer 1857 verübten großen Mordthat beteiligt, noch fast 20 Jahre später dem Galgen verfallen, und den greisen Präsidenten Young selbst entriß nur sein am erfolgter plötzlicher Tod der irdischen Gerichtsbarkeit. Ein Nachfolger wurde nicht gewählt, sondern die oberste Leitung dem Kollegium der zwölf Apostel mit dem Senior John Taylor (1887) an der Spitze übertragen.
Unter ihm kam es aus Anlaß der die Vielweiberei verurteilenden Gesetzgebung der Vereinigten Staaten (Edmunds Gesetz von 1882, das aber infolge der Unterscheidung von »Polygamie« und »Kohabitation« seine Wirkung zu verfehlen scheint) endlich zu der Katastrophe von 1885, infolge deren die Mormonen sich vor die Alternative gestellt sehen, entweder dieses Institut aufzugeben, oder abermals den Wanderstab zu ergreifen.
Vgl. Hyde, The Mormonism, its leaders and designs (2. Aufl., New York 1857);
Busch, Geschichte der Mormonen (Leipz. 1870);
Stenhouse, The Rocky Mountains Saints (New York 1873);
R. v. Schlagintweit, Die Mormonen (2. Aufl., Leipz. 1878), mit ausführlichen Litteraturnachweisen.