wohl auch als Sittenkenner, dieser dagegen als Sittenrichter bezeichnet. Sittenbeobachter, wie
Montaigne,
Larochefoucauld,
Vauvenargues,
La Bruyère u. a., welche die faktischen
Sitten (mores hominum) schildern, sind Moralisten; Sittenbeurteiler,
welche die faktischen
Sitten an einer (von ihnen oder andern) aufgestellten obersten
Norm der
Sittlichkeit (oberster sittlicher
Grundsatz, Moralgesetz) messen, wie
Kant, Fichte,
[* 2]
Herbart u. a., sind Moralphilosophen. Moralisieren, s. v. w.
Betrachtungen über
Sitten anstellen, dieselben mögen theoretische (deren Thatsächlichkeit) oder praktische (deren sittlichen
Wert betreffende) sein.
Alle Moralitäten sind gereimt, in unregelmäßigen
Stanzen, und schließen mit einem
Gebet. Im 15. Jahrh. waren sie
in
England und
Schottland sehr gebräuchlich und erhielten sich hier auch nach der
Reformation in der Form von theologisch-polemischen
Schauspielen; erst unter
Cromwell wurden sie förmlich abgeschafft. In
Frankreich finden wir sie gleichzeitig mit
den
Mysterien unter
Philipp dem
Schönen (wahrscheinlich im
Gegensatz zu den letztern, für welche die Passionsbrüderschaft
privilegiert war) von der
Brüderschaft der
Bazoche (s. d.) aufgeführt; sie hatten hier mehr einen komischen
Charakter und
arteten bald aus. In
Deutschland
[* 4] wurden die Moralitäten durch die seit dem 15. Jahrh. üblichen
Schulkomödien ersetzt.
Vgl.
Genée, Die englischen Mirakelspiele und Moralitäten (Berl. 1878).
derjenige Teil der
Statistik, welcher sich mit den aus freier sittlicher Entschließung hervorgehenden
Handlungen der menschlichen
Gesellschaft befaßt. Könnten alle diese
Handlungen genau verzeichnet und im Zusammenhalt mit den
sie bedingenden
Beweggründen beurteilt werden, so würde die Moralstatistik ein getreues
Bild der
Sittlichkeit einer
Gesellschaft liefern und einen
Vergleich zwischen
Ländern und
Zeiten gestatten. Doch sind die wirklichen
Beweggründe für Dritte
nicht erforschbar, man muß sich mit dem keineswegs immer zuverlässigen Rückschluß aus äußern
Erscheinungen und
Handlungen
auf dieselben begnügen.
Aber auch diese
Erscheinungen und
Handlungen liegen nicht immer offen zu
Tage, und bei vielen derselben
ist nicht festzustellen, ob sie wirklich aus freien Entschließungen hervorgegangen oder ob sie als
Wirkungen andrer
Ursachen
zu betrachten sind
(Selbstmord oder Ermordung durch Dritte, z. B. bei Vergiftungsfällen, oder unglücklicher
Zufall, z. B.
Fall ins
Wasser etc.). Die Moralstatistik beschränkt sich demgemäß
auf solche
Erscheinungen, welche an die
Öffentlichkeit treten; auf die Einzelfälle geht sie, wie überhaupt die
Statistik,
nur so weit ein, als dies für eine richtige Gruppierung erforderlich ist.
Die Sittenzustände werden nun nicht allein durch die guten, sondern auch durch die sittlich schlechten
Handlungen gekennzeichnet.
Die Moralstatistik befaßt sich darum mit beiden, ja sie ist sogar vorwiegend eine
Statistik der Unsittlichkeit, weil
das sittlich
Gute sich mehr der
Öffentlichkeit entzieht
und, wenn auch dies nicht der
Fall, oft schwer als solches zu erkennen
ist (z. B.
Wohlthätigkeit aus
Ehrgeiz, aus Berechnung, aus
Furcht oder aus reiner Menschenliebe). Infolgedessen dient die
positive Sittlichkeitsstatistik
(Entwickelung des Sparkassenwesens, gemeinnütziger Anstalten und
Vereine, Gestaltung des geistigen
und religiösen
Lebens) im wesentlichen nur als eine mit Vorsicht zu behandelnde Ergänzung der Unsittlichkeitsstatistik.
In den Bereich der letztern gehört zunächst die
Kriminalstatistik (insbesondere Zahl, Art der strafbaren
Handlungen, welche
vor
Gericht anhängig wurden;
Alter,
Geschlecht, Stand der Angeschuldigten und der Verurteilten, verhängte
Strafen etc.), dann aber auch die
Statistik von
Handlungen, welche zwar als unsittlich angesehen werden, aber nicht strafbar
sind oder nicht bestraft werden können
(Selbstmord, bei dem die
Strafe, wie schimpfliches
Begräbnis, doch nur als Strafdrohung,
im übrigen als eine Bestrafung der
Angehörigen wirken würde).
Außer dem
Selbstmord gehört hierher insbesondere die auf geschlechtliche Verhältnisse sich beziehende
Statistik wie die
der
Ehescheidungen, der
Prostitution, des Findelwesens und der unehelichen
Geburten. Die
Zahlen, zu welchen die Massenbeobachtung
auf diesem Gebiet führt, weisen gewisse Regelmäßigkeiten auf. So schwankte die Zahl der unehelichen
Geburten im
DeutschenReich in den einzelnen
Jahren von 1879 bis 1885 nur zwischen den
Grenzen
[* 5] 150,645 (in 1872: 3,66pro Mille.
der
Bevölkerung)
[* 6] und 170,688 (in 1884: 3,68pro Mille). Die Zahl der unehelichen
Geburten, welche auf je 10,000 Lebendgeborne
kamen, war im
Durchschnitt der Jahre in
Im Gebiet des
DeutschenReichs kamen auf 1000 Geborne im
Durchschnitt jährlich 1841-50: 108, 1851-60: 114, 1866-70: 115, 1871-80: 89 und
1881-85: 93 uneheliche. Zu ähnlichen Ergebnissen führte die auch in andern
Ländern. Auch die Selbstmordstatistik,
dann die
Statistik der Verehelichungen, der
Ehescheidungen etc. weisen
Zahlen auf, deren Schwankungen als verhältnismäßig
klein erscheinen. Bereits
Süßmilch (»Göttliche
Ordnung in den Veränderungen des Menschengeschlechts«, Berl. 1741, 4. Aufl.
1775) hatte solche Regelmäßigkeiten beobachtet und als Ergebnis einer göttlichen
Ordnung erklärt.
Quételet
(»Sur
l'homme«,
Brüssel
[* 7] 1835) faßte diese Regelmäßigkeiten als etwas Naturgesetzliches auf, eine
Anschauung, welche unter andern
Buckle, dann auch früherAd.
Wagner (»Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen
Handlungen«, Hamb. 1864) teilten.
Dieselbe führt folgerichtig zur Verleugnung der
Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine
Handlungen,
denn das
»Budget der
Schafotte und Gefängnisse«
(Quételet) müßte naturnotwendig erfüllt werden.
Nun
lassen aber gerade die
oben mitgeteilten
Zahlen über die unehelichen
Geburten eine bemerkenswerte
Erscheinung wahrnehmen. Die
relative Häufigkeit dieser
Geburten nahm ab, als durch die
Gesetzgebung die Niederlassung und die Eheschließung erleichtert
wurden und für die Zahl der Eheschließungen, welche auf 1000 Einwohner entfallen, berechnet sich für
die Jahre 1841-85 ein Bestreben zur
Erhöhung, wenngleich diese Zahl im übrigen naturgemäß eine gewisse
Grenze nicht überschreiten
kann. Hier trat also der
¶
mehr
freie Wille in Bethätigung, während z. B. für die wenig schwankende Relativzahl der Totgebornen
(Verhältnis der Totgeburten zur Zahl aller Geburten) im DeutschenReich im gleichen Zeitraum sich zwar eine mäßige Tendenz
zur Minderung berechnet, welche aber nach den Regeln der mathematischen Statistik als zweifelhaft zu bezeichnen ist. Ebenso
kann auch die Moralstatistik auf andern Gebieten darthun, daß die Menschen thatsächlich, wenn sie nicht gerade als
krank anzusehen sind, nach Beweggründen handeln, daß die Willensrichtung nicht eine notwendig gegebene ist, sondern sich
ändern kann (z. B. bei einer Änderung der Strafgesetzgebung).
Die Moralstatistik kann wohl zeigen, daß äußere Umstände (Naturumgebung, gesellschaftliche Verhältnisse)
einen großen Einfluß auf Entschließungen und Handlungen ausüben, doch vermag sie eine zwingende Notwendigkeit für solche
Handlungen weder für den Einzelnen noch eine solche für die Masse nachzuweisen. Das ist auch in der neuern Zeit allgemein
als Thatsache anerkannt worden.