wohl auch als Sittenkenner, dieser dagegen als Sittenrichter bezeichnet. Sittenbeobachter, wie Montaigne, Larochefoucauld,
Vauvenargues, La Bruyère u. a., welche die faktischen Sitten (mores hominum) schildern, sind Moralisten; Sittenbeurteiler,
welche die faktischen Sitten an einer (von ihnen oder andern) aufgestellten obersten Norm der Sittlichkeit (oberster sittlicher
Grundsatz, Moralgesetz) messen, wie Kant, Fichte, Herbart u. a., sind Moralphilosophen. Moralisieren, s. v. w.
Betrachtungen über Sitten anstellen, dieselben mögen theoretische (deren Thatsächlichkeit) oder praktische (deren sittlichen
Wert betreffende) sein.
(franz. Moralités, engl. Moralities), im
spätern Mittelalter geistliche Schauspiele, welche, den Mysterien (s. d.) nachgebildet, besonders in Frankreich und England,
auch in Italien vielfach üblich waren. Sie sind ernsthafterer Art als die Mysterien und haben meist eine
moralische Tendenz, daher der Name. In zwei der ältesten Stücke dieser Art, »Every man« und »Hick-Scorner«,
sind die Hauptpersonen: Jedermann (Repräsentant des menschlichen Geschlechts) und ein Freigeist, neben denen verschiedene Tugenden
und Laster als allegorische Figuren auftreten.
Alle Moralitäten sind gereimt, in unregelmäßigen Stanzen, und schließen mit einem Gebet. Im 15. Jahrh. waren sie
in England und Schottland sehr gebräuchlich und erhielten sich hier auch nach der Reformation in der Form von theologisch-polemischen
Schauspielen; erst unter Cromwell wurden sie förmlich abgeschafft. In Frankreich finden wir sie gleichzeitig mit
den Mysterien unter Philipp dem Schönen (wahrscheinlich im Gegensatz zu den letztern, für welche die Passionsbrüderschaft
privilegiert war) von der Brüderschaft der Bazoche (s. d.) aufgeführt; sie hatten hier mehr einen komischen Charakter und
arteten bald aus. In Deutschland wurden die Moralitäten durch die seit dem 15. Jahrh. üblichen Schulkomödien ersetzt.
Vgl. Genée, Die englischen Mirakelspiele und Moralitäten (Berl. 1878).
derjenige Teil der Statistik, welcher sich mit den aus freier sittlicher Entschließung hervorgehenden
Handlungen der menschlichen Gesellschaft befaßt. Könnten alle diese Handlungen genau verzeichnet und im Zusammenhalt mit den
sie bedingenden Beweggründen beurteilt werden, so würde die Moralstatistik ein getreues Bild der Sittlichkeit einer
Gesellschaft liefern und einen Vergleich zwischen Ländern und Zeiten gestatten. Doch sind die wirklichen Beweggründe für Dritte
nicht erforschbar, man muß sich mit dem keineswegs immer zuverlässigen Rückschluß aus äußern Erscheinungen und Handlungen
auf dieselben begnügen.
Aber auch diese Erscheinungen und Handlungen liegen nicht immer offen zu Tage, und bei vielen derselben
ist nicht festzustellen, ob sie wirklich aus freien Entschließungen hervorgegangen oder ob sie als Wirkungen andrer Ursachen
zu betrachten sind (Selbstmord oder Ermordung durch Dritte, z. B. bei Vergiftungsfällen, oder unglücklicher
Zufall, z. B. Fall ins Wasser etc.). Die Moralstatistik beschränkt sich demgemäß
auf solche Erscheinungen, welche an die Öffentlichkeit treten; auf die Einzelfälle geht sie, wie überhaupt die Statistik,
nur so weit ein, als dies für eine richtige Gruppierung erforderlich ist.
Die Sittenzustände werden nun nicht allein durch die guten, sondern auch durch die sittlich schlechten Handlungen gekennzeichnet.
Die Moralstatistik befaßt sich darum mit beiden, ja sie ist sogar vorwiegend eine Statistik der Unsittlichkeit, weil
das sittlich Gute sich mehr der Öffentlichkeit entzieht
und, wenn auch dies nicht der Fall, oft schwer als solches zu erkennen
ist (z. B. Wohlthätigkeit aus Ehrgeiz, aus Berechnung, aus Furcht oder aus reiner Menschenliebe). Infolgedessen dient die
positive Sittlichkeitsstatistik (Entwickelung des Sparkassenwesens, gemeinnütziger Anstalten und Vereine, Gestaltung des geistigen
und religiösen Lebens) im wesentlichen nur als eine mit Vorsicht zu behandelnde Ergänzung der Unsittlichkeitsstatistik.
In den Bereich der letztern gehört zunächst die Kriminalstatistik (insbesondere Zahl, Art der strafbaren Handlungen, welche
vor Gericht anhängig wurden; Alter, Geschlecht, Stand der Angeschuldigten und der Verurteilten, verhängte
Strafen etc.), dann aber auch die Statistik von Handlungen, welche zwar als unsittlich angesehen werden, aber nicht strafbar
sind oder nicht bestraft werden können (Selbstmord, bei dem die Strafe, wie schimpfliches Begräbnis, doch nur als Strafdrohung,
im übrigen als eine Bestrafung der Angehörigen wirken würde).
Außer dem Selbstmord gehört hierher insbesondere die auf geschlechtliche Verhältnisse sich beziehende Statistik wie die
der Ehescheidungen, der Prostitution, des Findelwesens und der unehelichen Geburten. Die Zahlen, zu welchen die Massenbeobachtung
auf diesem Gebiet führt, weisen gewisse Regelmäßigkeiten auf. So schwankte die Zahl der unehelichen Geburten im Deutschen
Reich in den einzelnen Jahren von 1879 bis 1885 nur zwischen den Grenzen 150,645 (in 1872: 3,66 pro Mille.
der Bevölkerung) und 170,688 (in 1884: 3,68 pro Mille). Die Zahl der unehelichen Geburten, welche auf je 10,000 Lebendgeborne
kamen, war im Durchschnitt der Jahre in
Preußen
Bayern
Sachsen
Württemberg
1866-70
812
1991
1439
1429
1871-75
740
1378
1273
960
1876-80
752
1286
1249
831
1881-85
811
1362
1305
923
Im Gebiet des Deutschen Reichs kamen auf 1000 Geborne im Durchschnitt jährlich 1841-50: 108, 1851-60: 114, 1866-70: 115, 1871-80: 89 und
1881-85: 93 uneheliche. Zu ähnlichen Ergebnissen führte die auch in andern Ländern. Auch die Selbstmordstatistik,
dann die Statistik der Verehelichungen, der Ehescheidungen etc. weisen Zahlen auf, deren Schwankungen als verhältnismäßig
klein erscheinen. Bereits Süßmilch (»Göttliche Ordnung in den Veränderungen des Menschengeschlechts«, Berl. 1741, 4. Aufl.
1775) hatte solche Regelmäßigkeiten beobachtet und als Ergebnis einer göttlichen Ordnung erklärt. Quételet (»Sur
l'homme«, Brüssel 1835) faßte diese Regelmäßigkeiten als etwas Naturgesetzliches auf, eine Anschauung, welche unter andern
Buckle, dann auch früher Ad. Wagner (»Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen
Handlungen«, Hamb. 1864) teilten.
Dieselbe führt folgerichtig zur Verleugnung der Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Handlungen,
denn das »Budget der Schafotte und Gefängnisse« (Quételet) müßte naturnotwendig erfüllt werden. Nun
lassen aber gerade die oben mitgeteilten Zahlen über die unehelichen Geburten eine bemerkenswerte Erscheinung wahrnehmen. Die
relative Häufigkeit dieser Geburten nahm ab, als durch die Gesetzgebung die Niederlassung und die Eheschließung erleichtert
wurden und für die Zahl der Eheschließungen, welche auf 1000 Einwohner entfallen, berechnet sich für
die Jahre 1841-85 ein Bestreben zur Erhöhung, wenngleich diese Zahl im übrigen naturgemäß eine gewisse Grenze nicht überschreiten
kann. Hier trat also der
mehr
freie Wille in Bethätigung, während z. B. für die wenig schwankende Relativzahl der Totgebornen
(Verhältnis der Totgeburten zur Zahl aller Geburten) im Deutschen Reich im gleichen Zeitraum sich zwar eine mäßige Tendenz
zur Minderung berechnet, welche aber nach den Regeln der mathematischen Statistik als zweifelhaft zu bezeichnen ist. Ebenso
kann auch die Moralstatistik auf andern Gebieten darthun, daß die Menschen thatsächlich, wenn sie nicht gerade als
krank anzusehen sind, nach Beweggründen handeln, daß die Willensrichtung nicht eine notwendig gegebene ist, sondern sich
ändern kann (z. B. bei einer Änderung der Strafgesetzgebung).
Die Moralstatistik kann wohl zeigen, daß äußere Umstände (Naturumgebung, gesellschaftliche Verhältnisse)
einen großen Einfluß auf Entschließungen und Handlungen ausüben, doch vermag sie eine zwingende Notwendigkeit für solche
Handlungen weder für den Einzelnen noch eine solche für die Masse nachzuweisen. Das ist auch in der neuern Zeit allgemein
als Thatsache anerkannt worden.
Vgl. hierüber insbesondere Drobisch, Die moralische Statistik und die menschliche
Willensfreiheit (Leipz. 1867);
v. Öttingen, Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Sozialethik (3. Aufl., Erlang. 1882);
Knapp,
Die neuern Ansichten über Moralstatistik (Jena 1871);
Lexis, Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft (Freiburg
1877).