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Lesen des Korans. Das zweite Gebot fordert die Abhaltung der fünf täglichen Gebete. Dem Gebet voran geht eine Waschung der Hände und des Angesichts. Die Stellung beim Gebet wie die (arabischen) Worte desselben sind genau bestimmt; das Gesicht [* 2] ist dabei nach Mekka gewandt. Der Tag der gemeinsamen Gottesverehrung, nicht aber leiblicher Ruhe, ist der Freitag. Außerdem feiern die Moslems noch die beiden Beiramfeste und die Geburt des Propheten (Mewlud). Das dritte Gebot betrifft das Almosen, welches übrigens geradezu zur zwangsweise erhobenen Armensteuer geworden ist.
Kein Moslem erfüllt das Gebot, der nicht den zehnten Teil seines Einkommens zu Almosen verwendet. Übrigens ist das Vermögens-, besonders das Erbrecht reich ausgebildet; nur Hypotheken- und Verjährungsrecht sind unbekannte Dinge. Bäder, Brunnen, [* 3] Brücken, [* 4] Mausoleen, Spitäler, Speiseanstalten für die Armen, Hospitäler, Irrenhäuser, Schulen, Bibliotheken, selbst Festungswerke werden durch Stiftungen erhalten. Das vierte Gebot fordert die gewissenhafte Beobachtung der Fasten.
Zwar verwarf Mohammed die freiwilligen Bußübungen, aber dem alten Herkommen seines Volkes zuliebe blieb der Monat Ramasan in Geltung, während dessen der Moslem, solange die Sonne [* 5] am Himmel [* 6] steht, fasten muß. Hinsichtlich des fünften Gebots, das die Bestimmungen über die Wallfahrten enthält, ist eine Dispensation möglich, insofern man einen Ersatzmann stellt oder die Kosten für diesen an die Armen verteilt. Nach dem Gesetz soll jeder Moslem wenigstens einmal in seinem Leben die Kaaba besuchen. In Wirklichkeit aber wird ein solcher Besucher (Hadschi) als Merkwürdigkeit betrachtet.
Neben diesen Geboten existiert eine große Reihe von Verboten, die sich vielfach auf die körperliche Reinheit beziehen, aber auch das Verbot des Weintrinkens, des Glücksspiels und Lottos (nur das Schachspiel ist erlaubt), des Genusses von Schweinefleisch und von ersticktem Vieh, des Wuchers, der Wahrsagerei und Anwendung gewisser Zauberformeln. Einen Unterschied zwischen Staat und Kirche kannte Mohammed nicht; wie der ganze Orient den Staat sich nur als Theokratie denken kann, so regelt auch der Koran das Staats-, Justiz-, Sanitäts-, Polizeiwesen.
Die Begriffe von Recht und Religion treten durchaus ungeschieden auf; die Juristen sind Theologen und umgekehrt. Die in den Staatsschulen bei den Moscheen studierenden Jünglinge, welche in der Türkei [* 7] Softas, anderswo Talebe (»Begierige«, d. h. nach Wissen) genannt werden, reflektieren sowohl auf geistliche als auf weltliche Ämter und Würden. Der Padischah oder Großherr zu Konstantinopel [* 8] ist nicht bloß weltlicher Regent, sondern auch Kalif. In ersterer Beziehung vertritt ihn der Großwesir, in letzterer, als Glaubensoberhaupt, Nachfolger und Stellvertreter des Propheten, der Großmufti, gewöhnlicher Scheich ul Islam (»Glaubensältester«) genannt.
Ihm steht die höchste Entscheidung in Glaubenssachen zu, und unter ihm steht die ganze Gilde der Ulemas oder der zur Kirche und Justiz gehörenden Personen. Das Recht spricht in sehr summarischer Art und ohne Möglichkeit des Appells der Kadi, ein unbesoldeter, ebendeshalb in der Regel auch durchaus bestechlicher Beamter. Das Strafrecht selbst läßt sich auf kein Prinzip zurückführen. Jahrelange Kerkerhaft gehört zu den unbekannten Dingen; um so grausamer sind in den östlichen Islamländern (wie ehedem auch in der Türkei) die körperlichen Strafen.
Die Priestergenossenschaft ergänzt sich aus frei sich heranbildenden Mitgliedern. Der Eintritt in die Gemeinde geschieht durch die Beschneidung, die in religiöser Beziehung ganz dasselbe ist, was bei den Christen die Taufe. Sie findet meist zwischen dem siebenten und achten Jahr statt, kann aber selbst im spätesten Alter nachgeholt werden. Auch die Ehe erhält einen religiösen Charakter, indem der Vollzug des Ehekontrakts vor dem Imam geschieht. Der Koran hat die Vielweiberei aus den bestehenden Sitten der Völker, für die er bestimmt war, einfach aufgenommen, aber eben dadurch in die geheiligtsten Traditionen des Mohammedanismus für immer verwoben: einer der vielen Nachteile der theokratischen Verquickung des Zivilrechts mit den Glaubensregeln.
Übrigens sind nur vier rechtmäßige Frauen gestattet. Das an den ursprünglichen Kaufvertrag erinnernde Kaufgeld ist jetzt bei den seßhaften Moslems der Türkei, Persiens, Arabiens und Indiens zur bloßen Formalität geworden. Scheidungen sind leicht und häufig. Wenn eine Sklavin dem Herrn ein Kind geboren hat, so ist dieser dadurch verbunden, sie bei sich zu behalten; nach seinem Tod wird sie frei. Kinder folgen durchaus dem Stande der Mutter. Obgleich Mohammed selbst ein Gegner der orientalischen Askese war, so hat diese dennoch auch im Islam Platz gegriffen. Ausgebildet hat sich ihr System zu den drei Gelübden der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams in den Vereinen der Derwische, und ihre höchste Anstrengung hat sie in den Büßungen der Fakire entfaltet.
Vgl. van den Berg, De beginselen van het Mohammedaansche recht, volgens de imâms Aboe Hanêfat en asj-Sjâfê (Batav. 1874);
John P. Brown, The Derwishes or Oriental spiritualism (Lond. 1868);
E. H. Palmer, Oriental mysticism (Cambridge 1867).
Der Islam, heute über ein Siebentel des Menschengeschlechts gebietend, war ursprünglich die Religion von Hirten und Nomaden, paßte sich aber bald jeder geistigen und moralischen Eigentümlichkeit der Einwohner von West- und Zentralasien [* 9] an. Die schnelle Auffassung der Sinne, das wilde Spiel der glühenden Phantasie, die Gegensätze des scharfen Verstandes und der Sehnsucht nach dem Übernatürlichen: alles findet hier gleiche Befriedigung. Die Gottesidee ist weniger sympathisch als die christliche, aber ebenso erhaben und namentlich begreiflicher.
In der That muß als Hauptgrund des schnellen Siegs, den der Islam über so große Ländermassen davontrug, neben der durch Fanatismus, Eroberungs- und Beutesucht gehobenen Volkskraft der Araber, neben der Größe seiner Staatsmänner und Feldherren die damalige Verkommenheit des Christentums im Morgenland betrachtet werden. Im Gezänk über die Geheimnisse der Dreieinigkeit und der Natur Christi war alles christliche Leben erstorben; die Parteien haßten und verfluchten einander und waren meist willige Werkzeuge [* 10] des elenden byzantinischen Despotismus. Da traf die Wetterwolke der jugendfrischen, begeisterten Araber auf das morsche Gebäude; auf seinen Trümmern erhob sich ein neuer Bau.
Die Araber entwickelten sich schnell zu hoher Blüte [* 11] und überragten bald die Europäer weit an Bildung und Wissenschaftlichkeit; doch ebenso rasch erstarrte auch die mohammedanische Kultur wieder, sobald die Eroberungen zum Stillstand gebracht waren. Der Mohammedanismus vermag nicht aus der religiösen Kulturentwickelung in die politische hinüber- und hinaufzuschreiten, denn er ist noch mehr als der Katholizismus auch der Theorie nach unwandelbar; Neuerung (bida) ist dem Moslem der schwerste Frevel. Trotzdem konnte er sich bei seiner Verbreitung über so verschiedenartige Völker dem Einfluß der von diesen aus auf ihn ¶
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einwirkenden Bildungselemente nirgends ganz entziehen, daher die große Anzahl von mohammedanischen Sekten. Ein vollständiges Verzeichnis derselben findet sich in Aschschahrastanis »Religionsparteien und Philosophenschulen« (arabisch, Lond. 1842-46; deutsch von Haarbrücker, Halle [* 13] 1850-51).
Die streitigen Fragen waren teils dogmatischer, weit häufiger aber zugleich politischer Natur. Der Streit über die Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens rief die Gegensätze der Kadarija, später meist Mutazila genannt, und der Dschabarija hervor. Es folgten Streitigkeiten über die Ewigkeit oder Geschaffenheit des Korans, die Eigenschaften und Attribute Gottes, die von den einen wörtlich genommen, von andern allegorisch gedeutet wurden. Seit die Araber die Philosophie der Griechen kennen gelernt, gewannen die theologischen Streitigkeiten ein wissenschaftlicheres, spekulatives Gepräge.
Die dogmatisch-politischen Kämpfe drehen sich hauptsächlich um das Imamat (Kalifat) oder die Vorsteherschaft der Gemeinde aller Moslems. Nach dem Tode des Kalifen Othman wählte man in Medina Mohammeds Schwiegersohn Ali, in Syrien dagegen Muawija zum Kalifen, während eine dritte Partei, die Chawaridsch (»Aufständischen«),
beide Bewerber als Gewaltherrscher des Throns für unwürdig erklärte. Fortan stehen sich nun drei Parteien: die Schia (eigentlich Schiat Ali, »Anhängerschaft Alis«, Schiiten),
sodann die Anhänger der gerade herrschenden Kalifen, welche sich selbst »Leute der Sunna«, d. h. der Tradition (Sunniten), nennen (an 96 Proz. aller Mohammedaner), und die Chawaridsch, welche fortan einem weitgehenden Independentismus huldigen, gegenüber. Näheres über die weitern Kämpfe s. Kalifen. In der Folge entwickelte sich unter den Schiiten die mystische Lehre [* 14] von der Gottähnlichkeit der Imame, der Übertragung ihres Geistes auf ihre Nachfolger etc., welche dem Geiste des Islam offenbar entgegen ist.
Diese große Abweichung vom ursprünglichen Islam machte es leicht, daß sich auch rein heidnische Ideen mit schiitischen vermengten, so daß z. B. die Ismaeliten (s. d.) nur noch ganz lose mit dem Islam zusammenhängen. Sunniten und Schiiten sind bis auf den heutigen Tag die erbittertsten Gegner. Die vier großen theologisch-juristischen Schulen der Sunniten, nämlich die Schafiiten, Hanefiten, Malikiten und Hanbaliten, weichen nicht im Dogmatischen voneinander ab, sondern nur in den Bestimmungen über die zahllosen Einzelheiten der Rechtsgelehrsamkeit und der religiösen Gebräuche.
Eine Restauration des ursprünglichen Islam beabsichtigt die im vorigen Jahrhundert in Arabien aufgetauchte Sekte der Wahabiten. Gegenwärtig ist der Islam nur in Afrika [* 15] und in der Tatarei im Wachstum begriffen; überall sonst hat er, von europäischer Kultur umlagert, ein Gift aufgenommen, welches ihn mit der Zeit notwendig zersetzen muß. Verschieden vom Juden- und Christentum, hat der Islam den Umfang der Alten Welt nicht überschritten und trieb selbst hier, ungeachtet aller Kriege um Gewinnung neuer Sitze, nur in den Ländern der heißen Zone oder eines südlichen Klimas üppig weiter.
Nur zwei nichtorientalische Staaten zählen größere Mengen von Mohammedanern zu ihren Unterthanen. Im russischen Reich wohnen 8 Mill. und in Ostindien, [* 16] im englischen Reichsgebiet, 45 Mill., in den Vasallenstaaten 6 Mill. Mohammedaner. Die staatsbürgerliche Stellung der Bekenner des Islam den Bekennern andrer Religionen, speziell der christlichen, gegenüber ist in Indien eine völlig gleiche, in Rußland sind aber die staatsbürgerlichen Rechte der Mohammedaner durch Ausnahmegesetze beschnitten. In innern Religionsangelegenheiten wird ihnen jedoch volle Freiheit gelassen; nur gegen die Ordensbrüder, welche sich zu Heiligen zu stempeln wissen, geht die russische Regierung mit größter Strenge vor und verbannt sie in Gouvernements, wo keine Mohammedaner wohnen.
Die mohammedanischen Schulen sind dem russischen Reichsunterrichtsministerium unterstellt. In Ostindien gewährt die englische Regierung in Religionsfragen die freieste Bewegung und hat auch die Hindernisse beseitigt, welche die mohammedanische Bevölkerung [* 17] über Gebühr von Staatsämtern zurückhielt. Die Zahl sämtlicher Mohammedaner auf der Erde beträgt gegenwärtig etwa 218 1/5 Mill., wovon 6,7 Mill. auf Europa, [* 18] 121 1/5 Mill. auf Asien, [* 19] der Rest auf Afrika entfällt. Im einzelnen verteilen sie sich in folgender Weise:
Europäisches Rußland | 2830000 |
Griechenland, Serbien, Montenegro, Rumänien | 44000 |
Asiatisches Rußland: | |
- Kaukasus | 2900000 |
- Zentralasien | 4700000 |
- Sibirien | 58000 |
Nichtrussisches Zentralasien | 2650000 |
Türkisches Reich in Europa | 3850000 |
[Türkisches Reich in] Asien | 12750000 |
Persien, Afghanistan, Belutschistan | 12300000 |
Unabhängiges Arabien | 3690000 |
China | 3000000 |
Vorderindien | 50200000 |
Hinterindien | 550000 |
Ostindische Inseln | 28700000 |
Afrika | 90000000 |
Zusammen: | 218222000 |
Nimmt man die Gesamtbevölkerung der Erde zu 1495 Mill. Menschen an (s. die statistische Tabelle bei Art. »Bevölkerung«, mit Karte), so entfallen davon auf Mohammedaner 14,6 Proz.
Vgl. Kremer, Geschichte der herrschenden Ideen des Islam (Leipz. 1868);
Deutsch, Der Islam (Berl. 1873);
Arnold, The Islam, its history, character and relation to christianity (3. Aufl., Lond. 1874; deutsch, Gütersl. 1878);
Garcin de Tassy, L'islamisme (Par. 1874);
Vambéry, Der Islam im 19. Jahrhundert (Leipz. 1875);
Lüttke, Der Islam und seine Völker (Gütersl. 1878);
Pischon, Der Einfluß des Islam auf das häusliche, soziale und politische Leben seiner Bekenner (Leipz. 1881);
Hauri, Der Islam in seinem Einfluß auf das Leben seiner Bekenner (Preisschrift, Leiden [* 20] 1882);
A. Müller, Der Islam im Morgen- und Abendland (geschichtlich, Berl. 1885);