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In den festlich geschmückten Kirchen oder Rathaussälen begann vor zahlreicher Zuhörerschaft das Schulesingen. Die Meister bestiegen der Reihe nach den Singestuhl; den Singenden wurde von den drei Merkern scharf aufgepaßt, ob sie sich kein »Versingen«, d. h. keinen Verstoß gegen die Regeln der Tabulatur, zu schulden kommen ließen. Solche Fehler konnten begangen werden durch Abweichungen von der strengen Verslehre, durch sprachliche Inkorrektheiten (wobei die Bibelübersetzung Luthers maßgebendes Vorbild war), durch Verstöße gegen die hergebrachte Sitte etc. Wer »versungen« hatte, mußte den Stuhl verlassen, während derjenige, der »in der Kunst glatt« war, von dem Kronmeister gekrönt wurde, wobei der erste Preis, der sogen. Davidsgewinner, in einem silbernen Gehänge mit einer Schaumünze, auf der König David, die Harfe spielend, abgebildet war, der zweite Preis in einem Kranz von seidenen Blumen bestand.
Beide Auszeichnungen wurden jedoch nur für den einen Tag des Schulesingens verteilt. Zahllos waren die aus dreiteiligen Strophen gebildeten Töne, die zum Teil nach ihren Erfindern, zum Teil aber auch mit frei gewählten, unglaublich wundersamen und meist überaus lächerlichen Namen bezeichnet wurden. So gab es einen Marners Hofton, einen Hofton des Tannhäusers, den roten Ton Peter Zwingers, den Blütenton Frauenlobs, den abgeschiedenen Ton Lienhard Nunnenbecks, eine Hans Sachsens Spruchweis etc., daneben eine Gestreiftsafranblümleinweis, eine Fettdachsweis, Vielfraßweis, Cliusposaunenweis, Offenehelmweis, geblümte Paradiesweis, Schwarztintenweis u. a. Es versteht sich von selbst, daß der Meistergesang seiner ganzen Entstehung und Übung nach nicht dazu angethan war, wirkliche Poesie ins Leben zu rufen.
Schon daß die Erfindung neuer Töne, und was damit zusammenhing, neuer Strophenformen eine Hauptsache bei der Kunst des Meistersingens war, brachte Überkünstelung, mühseliges Reimezusammenschweißen, gänzliches Vorwalten formeller Handwerksmäßigkeit mit sich. Durchgängig ist den Meisterliedern lehrhaft hausbackenes Wesen eigentümlich, Fabeln und Gleichnisse bieten sich als beliebteste Stoffe. Um neue Verse zu bilden, häufte man Vers auf Vers zu abenteuerlicher Unförmlichkeit der Strophengebäude; kurz, ein ästhetischer Gehalt ist im M. so gut wie gar nicht vorhanden.
Um so erfreulicher ist die kulturhistorische Seite dieser merkwürdigen Erscheinung der deutschen Geistesgeschichte. Ein Kind des kräftig aufblühenden Städtewesens, trägt der Meistergesang in seinen Übungen und Erzeugnissen durchweg die Merkmale ehrsam bürgerlicher Tüchtigkeit, Sittenstrenge und frommer Anhänglichkeit an das von den Vätern Überlieferte. Mitten in einem sittlich versunkenen Zeitalter erhebt sich in ihm ein zwar poesieloses, künstlerisch dürftiges, aber von wackerstem, treuherzig biederm Sinn erfülltes Streben nach edlem geistigen Thun. Es ist dabei charakteristisch, daß die Pfleger des Meistersingens zumeist der neuen reformatorischen Kirchenlehre zugethan waren.
Das geistige Leben des Meistergesangs hat sogar das Reformationszeitalter nicht überdauert, wenn auch einzelne Schulen ihre Thätigkeit still und treu bis tief ins 18. Jahrh. und später fortgesetzt haben, wie denn z. B. in Ulm [* 2] noch 1830 zwölf alte Singmeister vorhanden waren, von denen die vier zuletzt Übriggebliebenen den alten Meistergesang feierlich beschlossen und ihr Inventar dem Ulmer Liederkranz vermacht haben. Unter den ältern Meistersingern galten für besonders kunstfertig: Heinrich von Müglin, Muskatblüt, Michael Behaim, Hans Rosenplüt, Hans Folz, Hans Sachs und Adam Puschmann.
Von den in Handschriften überaus zahlreich vorhandenen Meistergesängen sind ihres geringen poetischen Wertes wegen nur wenige durch den Druck veröffentlicht. Proben derselben enthalten: Görres, Altdeutsche Volks- und Meisterlieder (aus der Heidelberger Handschrift, Frankf. 1817), und Bartsch, Meisterlieder der Kolmarer Handschrift (Stuttg. 1862). Von den ältern Schriften und Berichten über den Meistergesang sind hervorzuheben: Adam Puschmann, Gründlicher Bericht des deutschen Meistergesangs zusamt der Tabulatur etc. (Görlitz [* 3] 1571), und Wagenseil, Buch von der Meistersinger holdseliger Kunst (Altd. 1697).
Vgl. J. Grimm, Über den altdeutschen Meistergesang (Götting. 1811);
Schnorr v. Carolsfeld, Zur Geschichte des deutschen Meistergesangs (Berl. 1872);
Liliencron, Über den Inhalt der allgemeinen Bildung in der Zeit der Scholastik (Münch. 1876);
Jacobsthal, Die musikalische Bildung der Meistersinger (in der »Zeitschrift für deutsches Altertum«, Bd. 20);
Lyon, [* 4] Minne- und Meistersang (Leipz. 1882).
Eine künstlerische Darstellung erfuhr der Meistergesang durch R. Wagner in seinem Musikdrama »Die Meistersinger zu Nürnberg« [* 5] (1868).