mehr
Jünger der Naturphilosophie zu schulden kommen ließen, hat der Geist derselben höchst wohlthätig und belebend auf die Heilkunde, namentlich auf die Physiologie, eingewirkt, welch letztere jetzt von Troxler, J. J. ^[Johann Joseph] Dömling, Ph. F. v. Walther, J. B. ^[Johann Bernhard] Wilbrand, Ign. Döllinger u. a., auf Schellingsche Prinzipien basiert, mit Erfolg bearbeitet ward. Die Theorien der Heilkunde, welche auf die Naturphilosophie folgten, sind meist nichts als Ausgeburten der Lehre [* 2] Browns und der Erregungstheorie und deshalb von geringer historischer Bedeutung.
Hervorzuheben ist nur die Homöopathie (s. d.), deren Begründer Samuel Hahnemann (1755-1843) den Dynamismus auf die Spitze trieb durch die Annahme, daß jede Krankheit nicht ein organischer Entwickelungsprozeß, sondern nur eine dynamische Verstimmung des Körpers, jede Ursache der Krankheit nur dynamisch aufzufassen, die Naturheilung deshalb unstatthaft und Krankheit nur durch Krankheit zu vertreiben sei. Als eine Modifikation dieser Homöopathie ist auch eine Isopathie aufgekommen, welche, das Prinzip der Schule in aequalia aequalibus curantur umwandelnd, nicht durch das Ähnliche, sondern durch das Gleiche, die Krankheit also durch ihre eignen Ursachen heilen will.
In den ersten drei Dezennien unsers Jahrhunderts hat sich die Heilkunde unverkennbar in ein harmonischeres Verhältnis zu den Naturwissenschaften gesetzt, aber in kaum geringerm Grad machte sich die Einwirkung philosophischer Anschauungen und Systeme noch auf die Medizin geltend. Ganz besonders wurden eigentlich erst jetzt die Anatomie und Physiologie der Medizin dienstbar gemacht. Das ungeheure Feld der Anatomie wurde nach allen Richtungen hin mit unglaublichem Eifer angebaut.
Die allgemeine Anatomie, begründet von Bichat (1801), trat sofort wirksam in das Leben ein; die vergleichende Anatomie wurde bei der geistreichen Bearbeitung, welche sie in allen gebildeten Ländern Europas fand, eine der einflußreichsten und bedeutungsvollsten Wissenschaften, und die pathologische Anatomie ist eine reiche Fundgrube geworden, aus welcher die praktische Medizin wie die Physiologie den größten Gewinn ziehen. Die Physiologie, im engen Anschluß an ihre Schwesterwissenschaft, die Anatomie, gelangte mit Hilfe des Mikroskops, der chemischen Analyse und des Experiments zu wichtigen Entdeckungen.
Wenn die Philosophen unter den damaligen Ärzten diese Physiologie beschuldigten, zum Teil allzu materiell geworden zu sein, so fehlte es auf der andern Seite nicht an Bemühungen, z. B. von seiten Burdachs, diese Doktrin wieder auf den Standpunkt zu versetzen, wo sich Körper- und Seelenleben an Einem Gedanken aufbauen, und wo der Körper als das Resultat der in ihm wohnenden Seele erscheint. Eine neue Richtung entwickelte sich in der Pathologie durch die naturhistorische Schule, an deren Spitze Schönlein (gest. 1864) stand.
Auf die schon von Platon und Paracelsus mehr oder weniger deutlich ausgesprochene und in den Schulen der Naturphilosophie wiederholte Ansicht, daß die Krankheit nicht bloß ein Mangel der Gesundheit, sondern eine eigentümliche, aber niedere Lebensform, ein im Organismus parasitisch wurzelnder Lebensprozeß sei, gründete Schönlein ein nosologisches System, welches, analog dem Linnéschen Pflanzensystem, die Krankheiten gruppierte, ihre anatomischen und physiologischen Charaktere in möglichster Vollständigkeit berücksichtigte und ihre geographische Verbreitung etc. ins Auge [* 3] faßte.
Durch die experimentellen Arbeiten eines Orfila, Magendie u. a. erhielt auch die Toxikologie eine neue Bedeutung, während Diätetik und Hygieine nur spärlich angebaut wurden. Was die Therapie betrifft, so hat sich diese in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts nur selten in einer Achtung und Vertrauen einflößenden wissenschaftlichen Richtung gezeigt, obschon es nicht an Gelegenheit zur Vervollkommnung fehlte, da die Zahl alter und neuer Krankheiten, besonders epidemischer, vorzugsweise groß gewesen ist. In jener Periode trat auch eine neue medizinische Doktrin, nämlich die Seelenheilkunde, in die Geschichte ein.
Sie gelangte bald zu einer imponierenden Selbständigkeit, ihre Theorie aber nahm eine zweifache Richtung an. Die eine, jetzt allgemein als allein richtig anerkannte Richtung hält die Seelenkrankheiten für körperlichen Ursprungs, für eine materiell begründete Krankheit des Leibes; die andre findet deren Ursache lediglich in dem psychischen Prinzip, in moralischer Gesunkenheit, und stellt sie fast dem Verbrechen gleich; eine dritte Richtung neigt sich vermittelnd bald auf die eine, bald auf die andre Seite, ohne immer die rechte Mitte festzuhalten und in richtiger Erfassung des Wechselverhältnisses somatischer und psychischer Ursachen die Totalität der menschlichen Natur in Erwägung zu ziehen. Die beiden Extreme der Theorie sind durch Nasse und Heinroth bezeichnet, ohne in der Praxis wesentlich verschieden zu sein.
Werfen wir zuletzt einen Blick auf die letzten 30 Jahre, so muß man gestehen, daß die Leistungen, welche die Jünger der Medizin in den verschiedenen Doktrinen derselben während dieser Zeit zustande gebracht haben, von größerm Umfang und größerer Tragweite sind als alles, was die beiden vorhergehenden Jahrtausende ans Licht [* 4] befördert haben. Die Medizin unsrer Tage unterscheidet sich von der aller vergangenen Zeiten vornehmlich dadurch, daß die aprioristische philosophische Spekulation gänzlich aus derselben verbannt ist, und daß man sich nur noch an dasjenige hält, was die gesunden fünf Sinne und eine nüchterne Reflexion [* 5] an die Hand [* 6] geben, und es ist zweifellos, daß sämtliche philosophische Richtungen, welche sich der Medizin jemals bemächtigt haben, zusammengenommen noch lange nicht so viel geleistet haben wie die wenigen großen und klaren Geister, welche sich allein auf die unbefangene und vorurteilsfreie Beobachtung der Natur gestützt haben.
Den Vorwurf der Philosophiescheu, der Nüchternheit, des Materialismus mag die neuere Medizin gern hinnehmen, denn der sichere Grund der positiven Thatsachen gewährt für weitere Fortschritte noch mehr Reiz, als spekulative Urgebilde jemals gewähren können. Die innige Verbindung, welche die Naturwissenschaften mit der Medizin eingegangen sind, hat reiche Früchte für die letztere getragen, und ihr Einfluß war stark genug, um der Medizin selbst zu einer exaktern, naturwissenschaftlichen Richtung zu verhelfen.
Die Anatomie hat mit Hilfe vervollkommter Mikroskope [* 7] die Struktur der feinsten Körperteilchen in das rechte Licht gesetzt; die Physiologie hat sich dieser Forschungen bemächtigt, und in Verbindung mit der allerdings noch sehr wenig entwickelten Anthropochemie sowie mit Hilfe der physikalischen Wissenschaften ist sie dahin gelangt, alle Lebensvorgänge auf chemische und physikalische Gesetze zurückzuführen, und das geheimnisvolle Agens, was man früher Lebenskraft nannte, ist ganz aus der Wissenschaft verschwunden. Die Pathologie ist seit allgemeiner Einführung der Perkussions- und Auskultationskunst um ein höchst wertvolles Untersuchungsmittel bereichert worden, so daß man sagen kann, es sei dadurch eine wesentliche Erweiterung unsers Gesichtskreises eingetreten. Die pathologische ¶
mehr
Anatomie, die auf Rokitanskys Schultern ruht und durch Virchows Genius mit Ideen befruchtet worden ist, trägt der praktischen eine Leuchte voran und verspricht, über das Wesen der Einzelerkrankungen wie über das Wesen der Krankheit überhaupt noch reiche Aufschlüsse zu geben. Chirurgie und Geburtshilfe sind durch vervollkommte Methoden und Instrumente wie durch geläuterte Anschauungen von den Krankheits- und Heilungsprozessen auf eine respektable Höhe gebracht worden.
Ihre Spezialfächer, wie Augen- und Ohrenheilkunde, haben sich an diesen Fortschritten beteiligt, und es genügt, in dieser Beziehung nur an die Erfindung des Augenspiegels von seiten des genialen Physiologen Helmholtz, an den Kehlkopfspiegel [* 9] etc. zu erinnern. Von der innern Medizin gilt Ähnliches; sie baut nicht mehr nosologische Systeme, huldigt aber um so mehr einer gründlichen und allseitigen Krankenuntersuchung. Am wenigsten trostreich ist der Zustand der Therapie, besonders der Therapie innerer Krankheiten.
Hier wird noch allen Richtungen, selbst den entgegengesetztesten, gehuldigt, und alle Hebel [* 10] zur Bekämpfung der Krankheiten werden, leider nur zu oft ohne festes Prinzip und genügende Erfahrungsunterlagen, in Bewegung gesetzt. Erwägt man aber den Gang [* 11] der Entwickelung, welchen die Medizin in den letzten Dezennien genommen hat, so darf man getrost der Zukunft entgegensehen und hoffen, daß die eine immer breitere und festere, echt wissenschaftliche Basis erhalten und in ihren Leistungen immer mehr den Anforderungen genügen werde, die man an die Wissenschaft vom Leben und an die Kunst, dieses zu verlängern und zu verschönern, stellen darf.
Vgl. Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde (3. Aufl., Halle [* 12] 1821-28, 5 Bde.);
Hecker, Geschichte der Heilkunde (Berl. 1822 bis 1829, 2 Bde.);
Häser, Lehrbuch der Geschichte der und der epidemischen Krankheiten (3. Aufl., Jena [* 13] 1875-82, 3 Bde.);
Derselbe, Grundriß der Geschichte der Medizin (das. 1884);
Baas, Grundriß der Geschichte der und des heilenden Standes (Stuttg. 1876);
Derselbe, Leitfaden der Geschichte der Medizin (das. 1880);
Rohlfs, Geschichte der deutschen Medizin (das. 1875-83, Tl. 1-4);
Petersen, Hauptmomente in der geschichtlichen Entwickelung der medizinischen Therapie (Kopenh. 1877);
Canstatt, Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der gesamten Medizin (Würzb. 1851-65, fortgesetzt von Virchow und Hirsch). [* 14]
Von neuern encyklopädischen Werken sind zu erwähnen: Littré, Dictionnaire de médecine etc. (15. Aufl., Par. 1884);
»Nouveau dictionnaire de médecine et de chirurgie pratiques« (hrsg. von Jaccoud, das. 1864-86, 40 Bde.);
»Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales« (hrsg. von Dechambre, 1864 ff., ca. 100 Bde.);
Eulenburgs »Realencyklopädie der gesamten Heilkunde« (Wien [* 15] 1880-83, 15 Bde.; 2. Aufl. 1884 ff.),
zu welcher das »Biographische Lexikon der hervorragendsten Ärzte« (hrsg. von Wernich und A. Hirsch, das. 1884 ff.) eine Ergänzung bildet;
Villaret, Handwörterbuch der gesamten Medizin (Stuttg. 1887).
Zeitschriften: »Archiv für Anatomie und Physiologie« (His, Braune, du Bois-Reymond);
Virchows »Archiv für pathologische Anatomie«;
Langenbecks »Archiv für klinische Chirurgie«;
»Archiv für Psychiatrie« (Westphal);
»Deutsches Archiv für klinische Medizin« (Ziemssen, Zenker);
»Archiv für Augenheilkunde« (Knapp, Schweigger);
Sitzungsberichte der Wiener Akademie;
die Prager »Vierteljahrsschrift«;
»Deutsche [* 16] medizinische Wochenschrift« (Berlin); [* 17]
»Berliner [* 18] klinische Wochenschrift«;
»Wiener medizinische Presse«; [* 19]
»Wiener medizinische Wochenschrift«;
»Archives générales« (Paris); [* 20]
»Comptes rendus de l'académie« (das.);
»L'Union médicale«;
»Transactions of the Royal Medical Society« (London); [* 21]
»The Lancet«;
»British medical Times«;
»New York medical Times and medical Record«;
»Il Morgagni«;
»Archivo per le scienze mediche«.