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weibliche Leichname zergliederte und damit die Anatomie in die Reihe der Universitätsstudien einführte.
Eine neue Epoche in der Geschichte der Heilkunde beginnt mit dem Umschwung, welcher in fast allen Wissenschaften und Künsten unter Vermittelung der Reformation und der Erfindung der Buchdruckerkunst sowie des erwachenden kritischen Geistes sich vollzog. Es begann die Naturbeobachtung wieder in ihr Recht zu treten und sich von den Fesseln der Scholastik, wenn auch langsam und allmählich, zu lösen. Vor allem war es die Wiederbelebung, man kann fast sagen die Wiederentdeckung der Anatomie und die von nun an rastlos fortschreitende Ausbildung dieser Wissenschaft, welche den Boden ebnete. Sylvius, Vesalius, zu dessen berühmtem Werk über den Bau des menschlichen Körpers vielleicht Tizian selbst, sicher aber sein Schüler Johann von Kalkar die Zeichnungen fertigte, Fallopia (gest. 1562), Eustachio (gest. 1579) wurden die Begründer unsrer heutigen Anatomie. Auch die Geburtshilfe blühte zu dieser Zeit auf; zu Anfang des 16. Jahrh. (1513) schrieb Eucharius Rößlein (Rhodion), Arzt zu Worms [* 2] und Frankfurt, [* 3] »Der schwangern Frauen Rosengarten«, ein aus ältern Schriften kompiliertes, aber mit deutscher Sinnigkeit verfaßtes Hebammenbuch, das aller Mangelhaftigkeit ungeachtet lange Zeit im Gebrauch blieb. In dieser Zeit kam auch zuerst die gerichtliche Medizin auf, die aber erst später weitere Ausbildung fand.
Der skeptisch-kritische Ton wurde dem herrschenden Galenischen und arabischen System gegenüber besonders durch Theophrastus Bombastus Paracelsus (gest. 1554) angeschlagen, welcher der Heilkunde eine ideale Richtung erteilte und die schon längst wankenden Pfeiler der Herrschaft Galenos' vollends niederriß. Seine Erscheinung bezeichnet die eigentliche Grenzscheide des Mittelalters und den Anbruch der für die Heilkunde lange schon vorbereiteten neuen Zeit.
Der Grundgedanke dieses Mannes ist die Auffassung der Natur als eines großen lebendigen Ganzen, in welchem weder Stillstand noch Tod, sondern stets fortschreitende, durch ein inneres Prinzip bedingte organische Entwickelung besteht. Demgemäß gilt ihm die Krankheit als ein lebendiges Wesen, als eine parasitische Pflanze mit einem selbständigen, individuellen Lebensprozeß, der im Schoß eines andern, höhern sich bilde. Die Heilung erschien ihm als ein aus dem gesunden Leben entsprungener, spezifisch individueller Vorgang, den die Natur und öfters die Kunst hervorrufe, um die Krankheit dadurch zu bekämpfen.
Die wahren Heilmittel (arcana) sind ihm daher samenähnliche Wesen, aus denen im Schoß des Organismus eine neue individuelle Lebensentwickelung behufs der Überwältigung der krankhaften hervorgehe. Auch Laien begannen unter Paracelsischem Schild [* 4] sich mit einer mystischen Medizin zu befassen, und die Heilkunst ward wieder völlig in das Gebiet der Mystik entrückt, als die Gesellschaft der Rosenkreuzer (s. d.) den Namen des Paracelsus zu ihrem Losungswort erhob. Als Verteidiger der alten Schule gegen die Paracelsischen Neuerungen trat mit besonderm Erfolg Andr. Libavius aus Halle [* 5] auf, dessen chemische Arbeiten das Irrige und Phantastische in vielen Paracelsischen Behauptungen bloßstellten.
Sein Verdienst ist es, daß von nun an die Chemie immer größern Einfluß auf die Heilkunde gewann, die spagirische und die spagirischen Mittel der Paracelsisten sich ihrer geheimnisvollen Hüllen mehr und mehr entäußerten und zu ihrer wissenschaftlichern Schätzung und Gewinnung die Bahn gebrochen ward. Unter den großen Philosophen des 17. Jahrh. haben vornehmlich Baco von Verulam und Descartes, die beiden Hauptwortführer der Erfahrung und Spekulation, den entschiedensten Einfluß auf die Heilkunde ausgeübt.
Namentlich bot letzterer durch seine Korpuskularlehre den dogmatischen Bestrebungen der Ärzte einen willkommenen Stoff dar, während der Einfluß des erstern erst später die starre Einseitigkeit der Schule überwinden half. Ehe dies aber geschah, führte der Dogmatismus in der Medizin noch das Zepter, indem er sich in zwei Schulen, die chemiatrische und iatromathematische, teilte. Die chemiatrische Schule schloß sich zum Teil den Lehren [* 6] des Paracelsus an, und es ging daraus hervor, daß man die Chemie nicht bloß zur Bereitung der Arzneien, sondern auch zur Erklärung des organischen Lebens mehr und mehr zu Rate gezogen wissen wollte.
Schon zu Anfang des 17. Jahrh. wurden auf den Universitäten eigne Lehrstühle der »Chymiatria« errichtet. Diese Chemiatrie bestand aber lediglich in der Darstellung und Anwendung der neuen mineralischen Arzneimittel, von denen nach und nach zweckmäßigere Formen und Zusammensetzungen bekannt wurden. Eine andre und zwar spiritualistische Gestaltung erhielt die Chemiatrie durch van Helmont (gest. 1644), welcher Mystik und Naturforschung miteinander zu verbinden strebte und als Hauptgedanken die Beseelung der ganzen Natur durch geistige Schöpfungskräfte aufstellte. An der Spitze dieser Kräfte stand ihm der Archeus oder das schaffende Prinzip der Natur, und seine Therapie zielte auf Beruhigung und Zurechtleitung des erzürnten oder verirrten Archeus hin, wozu er geistige Einwirkungen und Arkana, aber auch Wein, Opium, Spießglanz- und Quecksilbermittel benutzte.
Die zweite Schule des Dogmatismus, die iatromathematische oder iatromechanische, suchte das Leben aus den Gesetzen der Statik und Hydraulik zu begreifen und wollte die als einen Teil der angewandten Mathematik und mechanischen Physik angesehen und behandelt wissen. Indem wir aus der Enge dieser Schulen auf das große offene Feld der Erfahrung heraustreten, begegnen uns zunächst die glänzenden Namen eines Harvey und Sydenham. William Harvey (1578-1657) machte die große Entdeckung vom Kreislauf des Bluts, [* 7] verkündigte das omne vivum ex ovo gegen die Anhänger der Generatio aequivoca und ward dadurch der wahre Schöpfer der neuern Physiologie.
Die Anatomie erfreute sich in diesem Jahrhundert besonders eifriger Bearbeitung, und namentlich trug die Verbesserung der Mikroskope [* 8] mächtig dazu bei, »die Verhältnisse im kleinsten Raum aufzuschließen«, was zunächst durch Malpighi und Leeuwenhoek geschah. Unter den Krankheiten des 17. Jahrh. nehmen einen Hauptplatz die Seuchen ein, welche durch Krieg, Hungersnot, Elend aller Art und durch ungewöhnliche kosmische und tellurische Einflüsse begünstigt wurden.
Von chronischen Krankheiten lernte man die Rhachitis kennen, deren erste Erscheinung in das Jahr 1630 fällt; auch der Kretinismus in den Alpenthälern regte zuerst die Aufmerksamkeit der Ärzte an. Der größere Verkehr mit entfernten Weltteilen vermehrte die Erfahrungen über den klimatischen Unterschied der Krankheiten, und auch der Beobachtung der Epidemien und der epidemischen Konstitution wurde größere Aufmerksamkeit zugewendet, nach dem Vorgang Thomas Sydenhams (1624-89), der, die Idee des Lebens in ihrer ganzen Reinheit fassend; die dem Leben entfremdete Heilkunde wieder auf den Weg der Natur leitete. Die Heilkunde des beginnenden 18. Jahrh. fand ihre beiden größten Koryphäen, Stahl und Hoffmann, auf ¶
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der Universität Halle vereinigt. Stahl (1660-1734) fand den immateriellen Grund des Lebens in einer ursprünglich thätigen, bewegenden und vorstellenden Anima, die beim Akte der Zeugung allein das Thätige und Übergehende sei, sich ihren Körper baue und durch ihre Energie (Bewegung) Empfindung und Ernährung bewirke. Der Körper ist ihm das Leidende, ein unmittelbares Werkzeug der Seele und dadurch ein Organismus, der nur eine mechanische Anlage habe, und dessen Leben allein im Leben der Seele bestehe.
Stahls Kollege Friedrich Hoffmann (1660-1742) suchte in der Medizin alles physisch und mechanisch zu erklären. Stahls unverstandene, aber bewunderte Größe und Hoffmanns eindringliche Klarheit würden zu alleinigem Ansehen gelangt sein, hätte nicht der Ruhm Boerhaaves (1668-1738) die Bewunderung der Zeitgenossen auf sich gelenkt. Boerhaave übte einen großen Einfluß durch sein Lehrtalent, seine beredte, lichtvolle Zusammenfassung großer Massen in übersichtlicher Darstellungsweise und durch seine hohe Begeisterung für die Wissenschaft.
In der Mitte des 18. Jahrh. erwarb sich Albrecht v. Haller (1708-1777) um Anatomie, Physiologie, Botanik und Litteraturgeschichte außerordentliche Verdienste. Durch die von ihm aufgestellte Lehre [* 10] von der Irritabilität gewann die Solidartheorie einen mächtigen Vorsprung. Diese Theorie, welche der humoralen und mechanischen gegenüber das Leben und dessen Erscheinungen vorzugsweise in den festen Teilen, namentlich im Muskel- und Nervensystem, begründet sieht, war von Glisson begründet worden, der zuerst eine allgemeine organisch bewegende Grundkraft, die Irritabilität, erkannte und dieselbe als die Quelle [* 11] der Sympathien nicht allein den Fasern, sondern auch dem Blut, Parenchyma, Mark und selbst den Knochen [* 12] zuschrieb.
Haller faßte den Begriff der Irritabilität bestimmter und enger, indem er sie als die Grundkraft und Lebensthätigkeit der Muskeln [* 13] bezeichnete. Von der Irritabilität schied Haller streng die Nervenkraft, und bald wurden allgemein Gehirn [* 14] und Nerven [* 15] als die alleinigen Inhaber und Beherrscher alles Lebens im Organismus angesehen, eine Ansicht, welche in ihrer höchsten Entwickelung und Einseitigkeit im System William Cullens (1710-90) hervortritt. Anatomie und Physiologie genossen in dieser Periode einer so ersprießlichen Pflege, daß fast keine andre Disziplin eine größere Anzahl berühmter Namen aufzuweisen hat.
Was die praktische Medizin betrifft, so kam die alte Humoraltheorie besonders in dem Gastrizismus der Wiener Schule zum Vorschein. Diese Schule, durch den verdienstvollen van Swieten gestiftet, hatte in Anton de Haen ihren ersten berühmten Lehrer erhalten, erreichte ihren Höhepunkt aber in Maximilian Stoll aus Schwaben, der in genauer Verfolgung der epidemischen Konstitution den Sitz krankhafter Thätigkeit vorzugsweise im Unterleib erblickte, dessen entartete Säfte und Unreinigkeiten nur durch Brechmittel zu beseitigen seien.
Fast gleichzeitig entstand Johann Kämpfs berühmte Lehre von den Infarkten, nach welcher durch Verdickung des trägen Bluts in den Unterleibsvenen, namentlich der Pfortader, wie durch Stockung des Serums in seinen Gefäßen und Drüsen ein Unrat zäher, kleisterartiger und polypöser Konkremente im Darmkanal entstehen sollte, gegen welche oft jahrelang mit auflösenden Visceralklystieren operiert ward. Auch die Physik äußerte um dieselbe Zeit ihren Einfluß auf die Heilkunde, und namentlich gaben die merkwürdigen Erscheinungen der Elektrizität [* 16] der Wissenschaft eine mächtige Anregung, welche durch die Entdeckungen Galvanis und Voltas noch mehr gesteigert ward. Es entstand die Lehre von der Identität des galvanischen und organischen Lebensprozesses, der in der abstraktesten Auffassung als ein beständiger Wechsel von Polarität und Indifferenz erschien, welche Ansicht später bei vielen Physiologen, namentlich bei Prochaska und in der naturphilosophischen Schule, großen Anklang fand.
Eine neue Epoche ward in der Heilkunde durch John Brown (1735-88) heraufgeführt; ihm waren alle Lebenserscheinungen nur das Produkt der Außendinge oder Reize, deren Wirkung in der Erregung bestehe, wodurch allein das erzwungene Leben sich vom Tod unterscheide. Seine Therapie kannte nur Krankheiten der Sthenie und Asthenie, ermittelte den Grad derselben und bestimmte hiernach das Maß der Reize, durch welches die Erregung vermindert oder vermehrt werden sollte.
Der enthusiastische Beifall, den Browns Lehre vorzüglich in Deutschland [* 17] gewann, mag sich zum Teil aus der blendenden Konsequenz, Einfachheit, Leichtigkeit und praktischen Brauchbarkeit jenes Systems erklären; zum Teil aber entsprang er auch aus dem Mangel an allgemeiner, besonders naturwissenschaftlicher, Bildung unter den Ärzten, aus der Einseitigkeit der vorherrschenden, zu Abstraktionen geneigten Verstandesbildung und flachen Aufklärungssucht. In dieser für die Heilkunde so unerfreulichen Zeit machen einige Männer, die treu an der Natur und dem Geist festhielten, eine rühmliche Ausnahme.
Der erste ist Johann Peter Frank (1745-1821), dessen »Epitome de curandis hominum morbis« der Heilkunde zu allen Zeiten einen sichern Haltpunkt darbieten wird. Johann Christian Reil (1758-1813) bewies sich durch sein gefeiertes Werk »Über die Erkenntnis und Kur der Fieber« sowie durch seine trefflichen Untersuchungen über den Bau des Gehirns als denkender Beobachter, der trotz seines reichen und bewegenden Geistes den Brownianismus teilnahmlos an sich vorübergehen ließ. Christian Wilhelm Hufeland, Professor in Jena [* 18] und Berlin [* 19] (1762-1836), trat der Lehre Browns und ihren fanatischen Jüngern mit dem Schilde der Wahrheit entgegen und bestand den Kampf jahrelang, mit unermüdlicher Geduld zur Vermittelung der Extreme stets die Hand [* 20] bietend.
Schon hatte das Studium der Naturwissenschaften außerordentliche Fortschritte gemacht, als Schellings Naturphilosophie auftrat und von der Heilkunde mit Jubel begrüßt wurde. Der wahre Kern derselben ist die Auffassung der Natur als eines absoluten, durch sich selbst thätigen oder organischen Ganzen, welches durch Entzweiung der Identität oder Hervortreten der Gegensätze (Differenz oder Indifferenz) sein Sein in der ewigen Erzeugung der Dinge, doch mit verschiedenem Übergewicht des Idealen und Realen, offenbart.
Diesen großen Gedanken sich aneignend, entstand die Lehre, daß den drei Dimensionen der Materien drei Grundkräfte der Natur, Magnetismus, [* 21] Elektrizität und chemischer Prozeß, entsprechen, welche im menschlichen Organismus in qualitativer Bestimmtheit als Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion sich darstellen, und auf deren normaler Synthesis die Gesundheit beruhe. Hierbei wurden Sensibilität und Irritabilität (organische Rezeptivität und Spontaneität) als die Faktoren der Erregung und die Reproduktion, Plastik oder Metamorphose als die objektive Seite des Organismus, beide aber in stetiger Durchdringung aufgefaßt und die Krankheit als einseitiges Hervortreten einer dieser Dimensionen, namentlich der beiden ersten, anerkannt. Trotz aller Mißgriffe, welche sich berufene und unberufene ¶