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Mit dem Verfall des Rittertums erstarrte durch einseitige Nachahmung der äußern metrischen Form der ritterliche Minnegesang in Deutschland [* 2] zum handwerksmäßigen Meistergesang (Tabulatur; die Meistersinger), in Italien [* 3] zum technisch gekünstelten Klinggesang (Sonett, Kanzone, Sestine, Triolett, Madrigal etc.; die Improvisatoren); jenem hauchte das Volkslied des Reformationszeitalters (Landsknechtslieder, Lieder der fahrenden Schüler, Studentenlieder etc.), diesem der Humanismus der Renaissanceperiode (Petrarcas Laura-Sonette und patriotische Kanzonen; Michelangelos, Raffaels Sonette etc.) frisches (volkstümliches und antikes) Leben ein.
Aus jenem erwuchs durch Luther im protestantischen Europa [* 4] das (unübertroffene deutsche) evangelische Kirchenlied, durch Goethe im goldenen Zeitalter der deutschen Litteratur das klassische weltliche Lied; dieser legte den Grund zu der formvollendeten, aber innerlich kühlen rhetorischen Kunstlyrik, wie sie bei den romanischen Völkern bis auf die neuere Zeit, zum Teil (Spanier, Portugiesen, Italiener) bis auf die Gegenwart sich erhalten hat, und welcher, dem Stammescharakter derselben entsprechend, die römischen Lyriker (insbesondere Horaz) zum Vorbild gedient haben.
Neben derselben haben in Frankreich vor der Revolution Ronsard, der Hauptdichter der sogen. Plejade, J. B. ^[Jean Baptiste] Rousseau u. a. nach römischem, André Chénier nach griechischem Muster als Odendichter, Boileau nach dem Muster des Horaz als Satiriker und Epistolograph, Voltaire als Meister in der sogen. poésie fugitive Ruf erlangt; seit der Revolution gelten der »Vater des Chansons«, Béranger, die Romantiker: Lamartine, V. Hugo, die »Gottlosen«: A. de Musset, A. de Vigny, die Nihilisten der »Bohême«: Sully-Prudhomme, F. Coppée, die Propheten der sozialen Reformation: H. Murger, Louise Ackermann (die »Sängerin des Positivismus«) u. a. als dessen bedeutendste Lyriker.
Unter den Italienern haben sich außer Metastasio V. Monti, I. ^[Ippolito] Pindemonte, der schwermütige Leopardi, Giusti u. a. ausgezeichnet. Die aus französischer Schule entsprossenen englischen Lyriker des 18. Jahrh. (Pope, Gay, Thomson, der »englische Boileau«, Jonson, u. a.) werden durch die sogen. Seedichter (Southey, Wordsworth, Coleridge u. a.), diese sämtlich durch die sogen. satanische Schule (Lord Byron, Shelley) und die unvergleichlichen Liederdichter des schottischen und des irischen Volkes (Robert Burns und Thomas Moore) in Schatten [* 5] gestellt, denen sich die modernen Lyriker Englands (Tennyson, Swinburne u. a.) und Amerikas (Longfellow, Edgar Poe u. a.) sowie die radikalen Poeten der sogen. Chartistenschule (Th. Hood u. a.) anreihen. In Deutschland sind auf die frommen Liederdichter des 16. und 17. Jahrh. (P. Gerhardt, S. Dach, [* 6] P. Fleming u. a.) die barocken Pegnitzschäfer, die schlesischen Dichter (Opitz, der talentvolle Liederdichter Günther, der Epigrammatiker Logan), die Didaktiker (Brockes, Haller), Satiriker (Canitz) und moralischen Fabeldichter (Gellert), die Seraphiker (Klopstock) und Anakreontiker (Gleim, J. G. ^[Johann Georg] Jacobi), die patriotischen und realistischen Dichter (Göttinger Dichterbund: Bürgers Molly-Lieder), Goethe und Schiller, jener als klassisches Muster in allen Gattungen der niedern, dieser als unerreichter Meister im weltlich-kontemplativen Genre der höhern Lyrik, gefolgt.
Nach ihnen haben sich die Romantiker vorzüglich als Übersetzer und Nachahmer romanischer Lyrik, Mystiker, wie Novalis-Hardenberg, als geistliche Liederdichter, Patrioten, wie Körner, Arndt, Schenkendorf, Follen, Rückert u. a., als politische, der (wie Rückert) sprachgewaltige Platen als Odendichter hervorgethan, während die schwäbischen Poeten (Uhland, Kerner), W. Müller u. a. sich als Sänger der Liebe und des Frühlings auszeichneten. Der Einfluß Lord Byrons und der französischen Julirevolution brachte auch in der deutschen eine Umwälzung hervor, indem die humoristische Lyrik (Heine und dessen Schule) und die politische (A. Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh u. a.) in den Vordergrund traten, während E. Geibel u. a. zu dem Goetheschen Lied zurückstrebten, V. Scheffel, R. Baumbach u. a. aus dem humoristisch angehauchten Volksgesang eine neue Lyrik des »fahrenden Spielmanns« zurückriefen.
Die skandinavischen Völker haben in dem Dänen Öhlenschläger, den Schweden [* 7] E. Tegnér und Atterbom, die slawischen Völker in dem Russen Puschkin, den Polen Mickiewicz und Krasinski, die Tschechen in Czelakowsky, Kollar u. Macha, die Südslawen in Gaj, von den finnischen Völkern die Magyaren in Alexander Petöfi bedeutende lyrische Talente aufzuweisen.
Vgl. über Lyrik die Werke über Ästhetik von Carriere, Vischer, Zimmermann; über die Geschichte der Lyrik Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876-86, 5 Bde.).