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Geschichtliche Entwickelung der Lyrik.
Die Anfänge der Lyrik fallen zusammen mit den Anfängen lyrischer Gemütsstimmung. Das lyrische Gedicht ist nach Goethes Ausdruck das »Gelegenheitsgedicht«; aus der durch irgend einen Anlaß erzeugten lyrischen Gemütsstimmung bricht der bezeichnende, rhythmisch den Rhythmus des erzeugenden Gefühls nachahmende Worterguß hervor. Die Volkslieder der Chinesen (Jagd-, Liebes-, Opfer-, Familienlieder etc.) in gereimten Versen reichen, im Schi-King gesammelt, bis anderthalb Jahrtausende v. Chr. zurück und haben, dem Volksgeist entsprechend, vorzugsweise lehrhaften (moralischen) Charakter. In Ägypten [* 2] finden sich Hymnen, die an die Psalmen erinnern, und Totenklagen (Manerosgesang: Klagelied der Isis [* 3] um Osiris). [* 4]
Vorzugsweise lyrisch ist der Charakter der Lyrik der Hebräer: für sie ist die äußere Welt nur da, insofern sie das Gemüt erregt;
die Phantasie geht von der Verwandtschaft der Bilder aus, springt je nach der Ähnlichkeit [* 5] von einem zum andern.
Ihre Bilder sind einfach, aber großartig, blitzähnlich schlagend;
ihre Begeisterung ist hinreißend, ekstatisch, enthusiastisch;
ihr Objekt das Höchste, der Nationalgott Jehovah;
das Verhältnis zu ihm nicht kontemplativ, sondern sympathetisch: Anruf, Lob, Dank, Verehrung, Furcht, Hoffnung und Zuversicht.
Ihre äußere Form ist Parallelismus der Gedanken und Strophenbau. Neben der geistlichen (Psalmen Davids, Propheten) bestand eine weltliche didaktische (Salomos Spruchweisheit), Liebes- (das Hohelied Salomos) und Kriegslyrik (Siegeslied der Deborah). Die Lyrik der Inder ist in der ältesten Zeit Hymnengesang (die Hymnen des Rig-Weda), nach der Vollendung der großen Nationalepen didaktische Spruchdichtung (die Sprüche des Bhartrihari) und, im schroffen Gegensatz zu philosophischer Weltflucht und asketischem Büßertum, eine sinnlich-brünstige Liebeslyrik (Gitagowinda).
Didaktisch in allegorischer Personifikation sind auch die ältesten Gesänge der Avesta des Zendvolkes in Iran. Bei den Griechen tritt die Lyrik, wie es naturgemäß ist, erst nach dem Zeitalter des (Homerischen) Epos als Chorgesang bei den Doriern, als Elegie (ursprünglich soviel wie Klagegesang) bei den Ioniern auf; jene war ursprünglich (bis auf Thaletas) in Hexametern, später in freien Rhythmen, diese im Distichon (abwechselnd Hexameter und Pentameter) verfaßt und durch Kallinos (7. Jahrh. v. Chr.) und Tyrtäos (7. Jahrh.) zum kriegerischen, von Solon im demokratischen und von Theognis (aus Megara) im aristokratischen Sinn zum politischen Gedicht ausgebildet, während Mimnermos (von Kolaphon), der melancholische Sänger der vergänglichen Jugend und des Frühlings, ihren ursprünglich wehmütigen Ton beibehielt.
Gleichzeitig erfand Archilochos das in Iamben verfaßte lyrische Spott- und Strafgedicht (die Satire), Theognis die Gnome, Simonides (von Keos) das Epigramm, Äsop die didaktische Fabel, während ein Jahrhundert später aus dem volkstümlichen Chorgesang das kunstmäßige, strophisch gegliederte Chorlied (durch Alkman), der Dithyrambos (durch Arion), das Skolion (Trinklied, durch Anakreon) und die Ode (durch Alkäos, die Dichterin Sappho und den erhabensten von allen, Pindar) entstanden.
Auch bei den Römern war die älteste Lyrik, durch die Bedürfnisse des Gottesdienstes hervorgerufen, hymnischer Chorgesang (Lied der Arvalbrüder); der vorzugsweise auf das Praktische und Moralische gerichtete Sinn des Volkes aber rief in der besten Zeit der Republik die original-römische, reflektierende Dichtungsart, die Satire (durch Lucilius), als spottendes und strafendes Sittenbild hervor, während die verständige Nüchternheit römischer Aufklärung an die Stelle mythologischer Naturbeseeltheit eine rationalistisch-materialistische Naturauffassung im Lehrgedicht (durch Lucretius' »Von der Natur der Dinge«) setzte und das Liebeslied (durch Catullus) den echt lyrischen Stempel des realistischen »Gelegenheitsgedichts« gewann.
Erstere ward im goldenen Zeitalter der römischen Litteratur (durch Horaz) im weltmännisch-heitern, im silbernen (durch Persius und Juvenal) im welthassend-ernsten Stil fortgebildet. Das Lehrgedicht, wie es dem immer mehr zum Nützlichen sich wendenden Geiste des Römertums entsprach, ward von der Stufe philosophischer Betrachtung auf jene einer praktischen Anleitung (Vergils »Gedicht vom Landbau«, des Horaz Brief »Von der Dichtkunst«) herabgedrückt. Das naive Gelegenheitslied wurde (durch Horaz) zur bewußten Gelegenheitsode (auf das kaiserliche Rom, [* 6] dessen Herrscher und Größe) erhoben, büßte aber dafür das echt lyrische Gepräge des unmittelbaren Herzensergusses ein und gestaltete sich zum rhetorisch schwungvollen, aber innerlich kühlen Prunkgedicht um. Wie die Satire und das Epigramm (Martial), so entsprachen auch die übrigen Gattungen der reflektierenden Lyrik, die Epistel und die Elegie, der römischen Verständigkeit; jene wurde in klassischer Weise durch Horaz, diese als Liebeselegie durch Tibull und Properz, als Klage- und Sehnsuchtsepistel (»Ex Ponto«) durch Ovid, durch letztern unter dem Namen Heroide auch als Trauerbrief Verstorbener an die Lebenden gepflegt.
Im Mittelalter entwickelte sich bei den islamitischen Völkern, Arabern und Neupersern, eine eigentümliche Lyrik, welche bei jenen mit Totenklagen, Liebes- und Spottversen (Hamâsa, Amrilkais) begann, nach dem Vorbild des Korans sich als Spruchdichtung (Motanebbi) entfaltete, in Sizilien [* 7] und Spanien [* 8] insbesondere als Liebeslyrik reiche Blüten trieb und nicht nur jüdischen, sondern auch christlichen Sängern zum Muster diente, bei diesen dagegen als mystische und moralisch-kontemplative Lehrdichtung (Dschelâl eddin Rumi, Saadi) sowie im Gegensatz dazu als sinnen- und lebensfrohe Wein- und Liebesdichtung (Hafis, Dschami) einen Reichtum künstlicher lyrischer Formen (Ghasel) schuf.
Die christlichen Völker (Kelten, Germanen, Slawen) brachten nicht nur aus den Zeiten des Heidentums die Gewohnheit des Volksgesangs (keltisches, germanisches, slawisches Volkslied) mit, sondern durch die gemeinsame Institution des Rittertums, wohl auch durch die während der Kämpfe mit den Mohammedanern in Spanien und im Orient herbeigeführte Bekanntschaft mit der arabischen Lyrik entstand zunächst in der Provence und verbreitete sich von da aus über das ganze christliche Europa [* 9] eine gemeinsame weltliche Lyrik, zugleich aber durch die über die ganze abendländische Kirche ausgebreitete gemeinsame Institution des katholischen Klerus eine dieser wie himmlische Liebe der irdischen und Kampf mit geistigen jenem mit sinnlichen Waffen [* 10] entgegengesetzte und doch durch den gemeinsamen Inhalt: Liebe und Kampflust, innig verwandte gemeinsame geistliche Lyrik Mittelpunkt der erstern ist die weltliche (weltlicher Minnesang; Troubadoure, Minnesänger), der letztern die himmlische (geistlicher Minnesang; Marienlieder) Herrin (Madonna); der besungene Kampf entweder der Kampf gegen die Ungläubigen und unwürdigen Gläubigen (der Papst als Antichrist: Walther von der Vogelweide, Bertrand de Born) oder gegen die Sünde durch die Ausmalung der Schrecken des Weltgerichts (»Dies irae«, Thomas von Celano). ¶
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Mit dem Verfall des Rittertums erstarrte durch einseitige Nachahmung der äußern metrischen Form der ritterliche Minnegesang in Deutschland [* 12] zum handwerksmäßigen Meistergesang (Tabulatur; die Meistersinger), in Italien [* 13] zum technisch gekünstelten Klinggesang (Sonett, Kanzone, Sestine, Triolett, Madrigal etc.; die Improvisatoren); jenem hauchte das Volkslied des Reformationszeitalters (Landsknechtslieder, Lieder der fahrenden Schüler, Studentenlieder etc.), diesem der Humanismus der Renaissanceperiode (Petrarcas Laura-Sonette und patriotische Kanzonen; Michelangelos, Raffaels Sonette etc.) frisches (volkstümliches und antikes) Leben ein.
Aus jenem erwuchs durch Luther im protestantischen Europa das (unübertroffene deutsche) evangelische Kirchenlied, durch Goethe im goldenen Zeitalter der deutschen Litteratur das klassische weltliche Lied; dieser legte den Grund zu der formvollendeten, aber innerlich kühlen rhetorischen Kunstlyrik, wie sie bei den romanischen Völkern bis auf die neuere Zeit, zum Teil (Spanier, Portugiesen, Italiener) bis auf die Gegenwart sich erhalten hat, und welcher, dem Stammescharakter derselben entsprechend, die römischen Lyriker (insbesondere Horaz) zum Vorbild gedient haben.
Neben derselben haben in Frankreich vor der Revolution Ronsard, der Hauptdichter der sogen. Plejade, J. B. ^[Jean Baptiste] Rousseau u. a. nach römischem, André Chénier nach griechischem Muster als Odendichter, Boileau nach dem Muster des Horaz als Satiriker und Epistolograph, Voltaire als Meister in der sogen. poésie fugitive Ruf erlangt; seit der Revolution gelten der »Vater des Chansons«, Béranger, die Romantiker: Lamartine, V. Hugo, die »Gottlosen«: A. de Musset, A. de Vigny, die Nihilisten der »Bohême«: Sully-Prudhomme, F. Coppée, die Propheten der sozialen Reformation: H. Murger, Louise Ackermann (die »Sängerin des Positivismus«) u. a. als dessen bedeutendste Lyriker.
Unter den Italienern haben sich außer Metastasio V. Monti, I. ^[Ippolito] Pindemonte, der schwermütige Leopardi, Giusti u. a. ausgezeichnet. Die aus französischer Schule entsprossenen englischen Lyriker des 18. Jahrh. (Pope, Gay, Thomson, der »englische Boileau«, Jonson, u. a.) werden durch die sogen. Seedichter (Southey, Wordsworth, Coleridge u. a.), diese sämtlich durch die sogen. satanische Schule (Lord Byron, Shelley) und die unvergleichlichen Liederdichter des schottischen und des irischen Volkes (Robert Burns und Thomas Moore) in Schatten [* 14] gestellt, denen sich die modernen Lyriker Englands (Tennyson, Swinburne u. a.) und Amerikas (Longfellow, Edgar Poe u. a.) sowie die radikalen Poeten der sogen. Chartistenschule (Th. Hood u. a.) anreihen. In Deutschland sind auf die frommen Liederdichter des 16. und 17. Jahrh. (P. Gerhardt, S. Dach, [* 15] P. Fleming u. a.) die barocken Pegnitzschäfer, die schlesischen Dichter (Opitz, der talentvolle Liederdichter Günther, der Epigrammatiker Logan), die Didaktiker (Brockes, Haller), Satiriker (Canitz) und moralischen Fabeldichter (Gellert), die Seraphiker (Klopstock) und Anakreontiker (Gleim, J. G. ^[Johann Georg] Jacobi), die patriotischen und realistischen Dichter (Göttinger Dichterbund: Bürgers Molly-Lieder), Goethe und Schiller, jener als klassisches Muster in allen Gattungen der niedern, dieser als unerreichter Meister im weltlich-kontemplativen Genre der höhern Lyrik, gefolgt.
Nach ihnen haben sich die Romantiker vorzüglich als Übersetzer und Nachahmer romanischer Lyrik, Mystiker, wie Novalis-Hardenberg, als geistliche Liederdichter, Patrioten, wie Körner, Arndt, Schenkendorf, Follen, Rückert u. a., als politische, der (wie Rückert) sprachgewaltige Platen als Odendichter hervorgethan, während die schwäbischen Poeten (Uhland, Kerner), W. Müller u. a. sich als Sänger der Liebe und des Frühlings auszeichneten. Der Einfluß Lord Byrons und der französischen Julirevolution brachte auch in der deutschen eine Umwälzung hervor, indem die humoristische Lyrik (Heine und dessen Schule) und die politische (A. Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh u. a.) in den Vordergrund traten, während E. Geibel u. a. zu dem Goetheschen Lied zurückstrebten, V. Scheffel, R. Baumbach u. a. aus dem humoristisch angehauchten Volksgesang eine neue Lyrik des »fahrenden Spielmanns« zurückriefen.
Die skandinavischen Völker haben in dem Dänen Öhlenschläger, den Schweden [* 16] E. Tegnér und Atterbom, die slawischen Völker in dem Russen Puschkin, den Polen Mickiewicz und Krasinski, die Tschechen in Czelakowsky, Kollar u. Macha, die Südslawen in Gaj, von den finnischen Völkern die Magyaren in Alexander Petöfi bedeutende lyrische Talente aufzuweisen.
Vgl. über Lyrik die Werke über Ästhetik von Carriere, Vischer, Zimmermann; über die Geschichte der Lyrik Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876-86, 5 Bde.).