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geben; es entstand immer ein Ganzes, wenn er zur Feder griff. So ist er der größte populäre Schriftsteller der Deutschen geworden. Mit ihm beginnt eine neue Periode in der Geschichte der deutschen Sprache, [* 2] die er merkwürdig in der Gewalt hatte. Energie des Stils, Kraft [* 3] der Dialektik, Pathos der Überzeugung vereinigen sich in seinen Schriften. Der durchdringende, helle Verstand, der überall spricht, der warme Ton, der über alles ausgegossen ist, die hellen Lichter, die seine bewegliche Phantasie aufsetzt, die dunkeln Schlagschatten: alles zeigt, wie er mit seinem Herzblut schreibt und arbeitet bei heiterer und trüber Laune.
Ja, gerade seine Streitschriften sprudeln von seinem ureigensten Geist, von einem unvergleichlichen Humor. In seiner Polemik gegen Heinrich VIII. von England und später gegen Heinrich von Braunschweig [* 4] hat er wohl das Größtmögliche in Derbheit geleistet, und die mehr als bescheidene Abbitte, zu der er sich herbeiließ, sobald Aussichten vorhanden waren, den erstern für die Reformation zu gewinnen, gehört zu den entschiedenen Schwächen seines Lebens. Und dennoch hatte er recht, wenn er von sich selbst sagte: »Meine Schale mag hart sein, aber mein Kern ist weich und süß«.
Das Familienleben des Mannes, der mit einer ganzen Welt und gar oft auch mit sich selbst im Kampf lag, der übermenschliche Anstrengungen hinter sich hatte und mit Gott und dem Teufel auf persönlichem Fuße stand, war ruhig und lieblich. Gern weilt er im Kreis [* 5] der Seinen; Kinder gelten ihm als der höchste Segen und das festeste Band [* 6] der Liebe. Man kann nichts Schöneres lesen als jenen Brief, den er von Koburg [* 7] aus an seinen Sohn Hans schrieb, nichts Rührenderes sehen als sein Verhalten am Krankenbett seines Töchterchens Magdalene.
Gern öffnete er, der in spätern Jahren zu einem gewissen Wohlstand gediehen war, sein Haus den Freunden zu frohem Verkehr und den Armen zur Zuflucht. Für das Unglück hatte er ein ungemein weiches Herz. Geben war ihm eine Seligkeit. Er selbst nahm nur schwer ein Geschenk an. »Es gebührt uns nicht, Reichtum zu haben«, sprach er und lehnte auch das oft sehr hohe Honorar, das ihm die Buchhändler boten, folgerichtig bis zuletzt ab; denn mit seinem Talent zu wuchern, erschien ihm als Sünde.
Sein ganzes Hauswesen war einfach eingerichtet; das Mahl würzte heitere, oft auch derbe Scherzrede, wie die »Tischreden« beweisen. Vor allem aber war er, wie auch die Gegner zuweilen anerkannten, eine gerade, ehrliche, fromme Natur. Dem gewaltigen Grundpathos seines Wesens, darin seine antirömische Mission begründet war, ist er bis zum letzten Hauche getreu geblieben. Von Steinschmerzen so gepeinigt, daß er zu sterben glaubte, empfahl er im Februar 1537 den Fürsten beständigen Haß gegen den Papst.
Auch damals wiederholte er mitten unter Gebeten und Sterbenswünschen seinen Vers: »Pestis eram vivus, moriens ero mors tua, papa«. Er wollte nur noch bis Pfingsten leben, um den Papst in Druckschriften noch härter anzugreifen;
aber er lebte noch fast ein Dezennium, und erst 1545 erschien die gedrohte Schrift »Wider das Papsttum, vom Teufel gestiftet«, während schon das Jahr zuvor sein »Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament« bewiesen hatte, daß er auch den Reformierten gegenüber seit 20 Jahren derselbe geblieben war.
Doch hat er seine Zustimmung zu der von Melanchthon 1545 verfaßten Wittenberger Reformation gegeben, welche den Katholiken das große Zugeständnis einer Wiedereinführung der bischöflichen Verfassung für den Fall machte, daß die Bischöfe selbst die evangelische Lehre [* 8] bekennen und die Sakramente in rechter Weise spenden wollen. Nach Melanchthons spätern Mitteilungen soll auch in seinem letzten Lebensjahr erkannt haben, daß er in der Sache des Abendmahls den Zwinglianern gegenüber »zu viel gethan«.
Der Aufenthalt in Wittenberg [* 9] wurde ihm zuletzt durch das ungezügelte Treiben der Jugend so verleidet, daß er 1545 die Stadt in der Absicht verließ, sein Haus daselbst zu verkaufen. Er kehrte erst wieder nach Wittenberg zurück, als Universität und Magistrat das Versprechen gegeben, dem Ärgernis zu steuern. Sein letztes Werk sollte ein Werk der Versöhnung sein. Es galt der Einigung der Grafen von Mansfeld. Vom 23. Jan. bis brachte er mit der Reise und dem Geschäft zu. In Eisleben [* 10] kam er schon krank in die Herberge, und es überkam ihn eine Ahnung, daß er hier, wo er geboren sei, auch sterben werde. Dennoch predigte er viermal. Am 17. Febr. wurde er bettlägerig. Stärkungen halfen nichts; da fragten ihn, nachdem er sich Gott befohlen hatte, Doktor Jonas und M. Coelius, ob er auf seine Lehre sterben wolle, und er gab ihnen ein festes »Ja« zur Antwort. Bald darauf, starb er. Seine Leiche wurde nach Wittenberg gebracht.
[Luthers Familie] Luther hinterließ außer seiner Gattin eine Tochter, Margarete, und drei Söhne: Johann, geb. Rat bei den Söhnen des Kurfürsten Johann Friedrich, dann in Diensten des Herzogs Albrecht von Preußen, [* 11] gest. in Königsberg; [* 12] Martin, geb. Theolog, gest. Paul, geb. kursächsischer Leibarzt, gest. in Leipzig, [* 13] Stammhalter der Familie. Zwei Kinder waren vor ihm gestorben. Luthers männliche Nachkommenschaft erlosch 1759 mit Martin Gottlob Luther, Rechtskonsulenten in Dresden. [* 14]
Vgl. Nobbe, Genealogisches Hausbuch der Nachkommen Luthers (Leipz. 1871).
[Luthers Werke. Litteratur.] Die wichtigsten Ausgaben der Werke Luthers sind die Wittenberger Ausgabe (12 Bde. deutsche und 7 Bde. lateinische Schriften), die Jenaer (8 deutsche und 4 lateinische Bände, ergänzt von Aurifaber), die Hallesche von Walch (1740-51, 24 Bde.) und die Erlanger (von Irmischer, deutsche Schriften, 67 Bde., 1826-57; 2. Aufl. von Enders, Frankf. a. M. 1861 ff.; lateinische Schriften, 1829-86, Bd. 1-28). Eine neue Ausgabe wurde im Jahr der vierten Säkularfeier von Luthers Geburt begonnen (Weimar [* 15] 1883 ff.). Luthers »Briefe, Sendschreiben und Bedenken« wurden von De Wette (Berl. 1825-28, 5 Bde.; der 6. Bd. von Seidemann, das. 1856),
der »Briefwechsel« von Burkhardt (Leipz. 1866) und von Enders (Frankf. a. M. 1884 ff.),
seine »Politischen Schriften« von Mundt (Berl. 1844; neue Ausg., Leipz. 1868),
seine »Kirchenpostille« von Francke (das. 1844, Dresd. 1872),
seine »Tischreden« von Förstemann und Bindseil (Berl. 1846-48, 4 Tle.; Auswahl, das. 1876),
seine »Geistlichen Lieder« am besten von Ph. Wackernagel (Stuttg. 1856),
Gödeke (Leipz. 1883) und A. Fischer (Gütersl. 1883) herausgegeben, Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Luthers gab Kolde heraus (»Analecta Lutherana«, Gotha [* 16] 1883). Eine gute Sammlung von Luthers kleinern Schriften erschien unter dem Titel: »Martin Luther als deutscher Klassiker« (Frankf. 1871-83, 3 Bde.).
Das Leben Luthers beschrieben: sein Zeitgenosse Johann Mathesius (»Leben Dr. M. Luthers in 17 Predigten«, hrsg. von Rust, Berl. 1841, neue Ausg. 1883),
Ukert (Gotha 1817, 2 Bde.),
Pfizer (Stuttg. 1836),
Jäkel (Leipz. 1840-46),
Genthe (das. 1841-45), ¶
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Jürgens (»Luthers Leben bis zum Ablaßstreite«, das. 1846-47, 3 Bde.),
Meurer (3. Aufl., das. 1870; Volksausg., 3. Aufl., das. 1878),
Heinr. Lang (Berl. 1870),
Jul. Köstlin (»Martin Luther. Sein Leben und seine Schriften«, 3. Aufl., Elberf. 1883, 2 Bde., und das populäre Werk »Luthers Leben«, 3. Aufl., Leipz. 1883), A. Baur (Tübing. 1878), Plitt und Petersen (2. Aufl., Leipz. 1883), Kolde (Gotha 1884 ff.).
Vgl. Köstlin, Luthers Theologie, in ihrer geschichtlichen Entwickelung etc. (Stuttg. 1862, 2 Bde.);
Th. Harnack, Luthers Theologie (Erlang. 1862-86, 2 Bde.).
[Denkmäler, poetische Darstellungen, Stiftungen.] Luther selbst und sein Wirken haben den bildenden Künsten und, minder glücklich, auch der Poesie vielfach zum Vorwurf gedient. Eine Erzstatue des Reformators von Schadow, aus den durch die Litterarische Gesellschaft in Mansfeld seit 1801 gesammelten Beiträgen, wurde 1821 in Wittenberg errichtet, in noch viel großartigerer Weise aber 1868 in Worms, [* 18] nach dem Modell von Rietschel (s. Tafel »Bildhauerkunst [* 19] IX«, [* 20] Fig. 4). Andre Denkmäler befinden sich in Möhra (Bronzestatue von Ferd. Müller, 1861), in Eisleben (von Siemering, 1883), in Leipzig (Doppelstatue mit Melanchthon, von Schilling, 1883), in Dresden (Wiederholung der Lutherfigur vom Wormser Denkmal, 1885), in Magdeburg [* 21] (von Hundrieser, 1886). Schon aus dem 16. Jahrh. existieren zahlreiche verherrlichende Einzeldichtungen sowie Verhöhnungen und Spottgedichte der Gegner, denen sich die viel aufgeführten Dramen von Andreas Hartmann (»Curriculi vitae Lutheri«, 1600) und Martin Rinckart (»Der eislebische Ritter«, 1613) und zum ersten Jubiläum der Reformation die »Tezelomania« (1617) anschlossen. Im 18. Jahrh. versuchte der Gottschedianer Chr.
Friedrich v. Derschau eine große epische »Lutheriade« (1760-61). Zu Anfang des 19. Jahrh. dichtete Zacharias Werner sein Drama »Martin Luther, oder die Weihe der Kraft« (1807),
dem A. v. Klingemanns »Martin Luther« (1809) auf dem Fuß folgte. Das Lutherjubiläum von 1883 gab Anlaß zur Entstehung einer Gruppe von dramatischen Festspielen (von Hans Herrig, W. Henzen, Otto Devrient, A. Trümpelmann u. a.), die zum größern Teil nach Art der dramatischen Spiele des 16. Jahrh. von Volks- und Bürgerkreisen dargestellt wurden, und unter denen das Spiel von Herrig die weiteste Verbreitung und Geltung erlangte. Neuere Versuche zu epischer Darstellung unternahmen Rudolf Hagenbach in und seine Zeit« (1838) und Adolf Schults in »Martin Luther« (1853). Das Gesamtleben Luthers bearbeitete K. A. Wildenhahn (1851-1853) zu einem historischen Roman. Größer und mächtiger erscheint der Reformator zumeist, wo er in historischen Romanen als Episodenfigur auftritt, was von Heinrich v. Kleists »Michael Kohlhas« (1808) bis zu G. Freytags »Marcus König« (1876) vielfach geschehen ist. Ein ingrimmiges Zerrbild entwarf der ultramontane Konrad v. Bolanden (s. Bischoff 5) in dem Roman »Eine Brautfahrt« (1857).
Die dritte Säkularfeier von Luthers Tod (1846) veranlaßte unter dem Namen Luther-Stiftung mehrere Stiftungen für Waisen, arme und verwahrloste Kinder, auch zur Unterstützung noch vorhandener Nachkommen aus Luthers Familie. Die vierte Säkularfeier von Luthers Geburtstag (1883) führte zur Gründung einer allgemeinen deutschen Luther-Stiftung, welche bestimmt ist, die Erziehung von Söhnen und Töchtern evangelischer Pfarrer und Lehrer zu fördern; aus dem Reste der für das Wormser Lutherdenkmal gesammelten Geldsumme wurde ein Luther-Stipendium für Theologen angelegt.