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Diluvium, welches fast überall auch die ältern Schichten stellenweise bis 120 m bedeckt. Das silurische System ist durch die obern und mittlern Schichten dieser Formation vertreten und besteht aus Dolomit, Mergel, Kalk- und Sandstein. Das Devon tritt in drei ganz gesonderten Schichten auf, deren unterste durch zahlreiche Höhlenbildungen bemerkenswert ist. Erratische Blöcke finden sich über das ganze Land zerstreut, selbst auf den höchsten Punkten, wie auf dem Munna Mäggi.
Der Boden ist wenig fruchtbar, am Strand sandig, sonst meist lehmig; doch werden durch rationelle Bewirtschaftung und künstliche Drainage gute Ernten erzielt. Das Klima ist rauh, die Niederungen werden von starken Nebeln heimgesucht; charakteristisch ist die Unbeständigkeit der Windrichtung. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt in Dorpat 4°, in Riga 6° C. An Wäldern ist Livland reich; bedeutende, mehrere tausend QKilometer umfassende Waldungen finden sich namentlich am Strand zwischen der Pernau und der Aa, ebenso an der Ewst. Vorherrschend ist Nadelwald (Tanne und Kiefer); weniger häufig finden sich Birken-, Erlen- und Eichenwälder. Das Mineralreich liefert Lehm, Gips, Kalk, Torf, Sumpfeisen und Schwefelquellen (Kemmern). Das Tierreich ist vertreten durch Bären, Wölfe, Füchse, Hasen, Seehunde, Dachse, Rehe; seltener sind Elentiere und Luchse, zahlreich dagegen Hühnerwild sowie Sumpf- und Wasservögel.
Livland hat (1882) 1,173,951 Einw. (25 pro QKilometer), die sich zusammensetzen aus 81,6 Proz. Protestanten, 13,4 Proz. Griechisch-Katholischen, 2,4 Proz. Juden, 1 Proz. Römisch-Katholischen. Der Rest kommt auf Armenier, russische Sekten und Konfessionslose. Nach der Nationalität zerfällt die Bevölkerung in 42,72 Proz. Letten, 41,49 Proz. Esthen, 7,87 Proz. Deutsche, 4,71 Proz. Russen, 2,14 Proz. Juden, 0,51 Proz. Polen; der Rest kommt auf Zigeuner etc. Das Areal zerfällt in ungefähr 18,5 Proz. Ackerland, 24,4 Proz. Wald, 41,5 Proz. Wiesen und Weideland, 15,6 Proz. Unland etc. Der Ackerbau bildet die Hauptbeschäftigung der Einwohner.
Roggen, Gerste, Hafer, Lein und Kartoffeln werden vorzugsweise gebaut; in kleinern Mengen Weizen, Hanf und Buchweizen. Im Durchschnitt der Jahre 1880-84 wurden jährlich geerntet: 2,2 Mill. hl Roggen, 2 Mill. hl Hafer, 1,6 Mill. hl Gerste, 4,1 Mill. hl Kartoffeln. Der Viehstand war 1883: 485,000 Stück Hornvieh, 216,000 Schweine, 441,000 Schafe und 160,000 Pferde. Die Fischerei bildet einen bedeutenden Erwerbszweig;
das Meer liefert Breitlinge (Clupea sprottus) und Flunder (provinziell: Strömlinge und Butten);
die Landseen, namentlich der Peipus, Snitky (Löffelstint, Salmo eperlanus), eine beliebte Fastenspeise der Russen, Räpuschky (Maräne) und Korjuschky (Stint);
die Flüsse ausgezeichnete Lachse. In industrieller Hinsicht nimmt einen hervorragenden Platz unter den Gouvernements des russischen Reichs ein.
Die Gesamtzahl der Fabriken ist (1884) 724 mit 19,000 Arbeitern und einem Produktionswert von 40½ Mill. Rubel. Hauptindustriezweige sind: Spiritusbrennerei und Destillerie (Likörfabrikation) 7½ Mill. Rub., Brauerei 3½ Mill. Rub., Sägemüllerei 3,3 Mill. Rub., Eisengießerei und -Verarbeitung 3 Mill. Rub., Ölschlägerei 2,6 Mill. Rub., Korkfabrikation 1½ Mill. Rub., Wollweberei 1 Mill. Rub., Tuchweberei 1½ Mill. Rub., Papierfabrikation 1½ Mill. Rub. In geringerm Maß findet Fabrikation von Fayence, Seife, Talglichten, Leinwand, Seide, Zucker, Glas, Spiegeln, Equipagen und chemischen Produkten statt.
Der Handel Livlands ist blühend und konzentriert sich hauptsächlich in Riga, in geringerm Grad in Pernau-Arensburg und Dorpat. Die wesentlichsten Ausfuhrartikel sind: Petroleum, Haare, Ölkuchen, Wolle, Flachs, Leinsaat, Hanf, Getreide und Holz;
die wichtigsten Einfuhrartikel: Heringe, Salz, Steinkohlen, Wein, Kolonialwaren, Eisen, Kammwolle, Farbhölzer, Öl, Raps und Rübensaat, landwirtschaftliche und industrielle Maschinen. Der Handel mit dem Innern des Reichs wird durch die Düna und die Riga-Dünaburger Eisenbahn, welche sich an der Südgrenze Livlands hinzieht, sowie durch die Strecke Dorpat-Taps (an der Linie Reval-St. Petersburg) vermittelt. Eine Bahn von Riga nach Pskow mit Zweigbahn nach Dorpat, welche die kleinern Städte Werro, Wenden, Walk, Wolmar berührt, ist im Bau begriffen. An Bankinstituten hat Riga (1888) 8, darunter eine Filiale der Reichsbank, eine städtische Kommunalbank (Stadt-Diskontobank) mit Sparkasse, 2 Gesellschaften gegenseitigen Kredits, Dorpat 2, nämlich eine städtische Kommunalbank und die Filiale einer Pskower Kommerzbank. In Riga weisen die größten Umsätze auf die Börsenbank (394 Mill. Rub.) und die Kommerzbank (472 Mill. Rub.). Zeitungen und Zeitschriften erscheinen 24 in Livland (12 in Riga, 10 in Dorpat und 2 in Pernau), darunter mehrere lettische und esthnische. Livland wird von einem Gouverneur verwaltet, der nach der Aufhebung des Generalgouvernements der Ostseeprovinzen (1876) unter dem Ministerium des Innern steht. Livland hat (1885) eine Universität (Dorpat) mit 1990 Studenten, ein Polytechnikum (Riga) mit 1122 Zuhörern, ein Veterinärinstitut (Dorpat) mit ca. 150 Schülern, 37 Gymnasien für Knaben und Mädchen mit 7137 Schülern, 265 Real-, Bürger-, Kreis-, Töchter- und städtische Elementarschulen mit 21,065 Schülern, 1631 Landvolksschulen mit 98,594 Schülern, 15 Fachschulen mit ca. 2400 Schülern.
Unter den Landvolksschulen sind 1264 mit 86,640 Schülern lutherisch und 367 mit 11,594 Schülern griechisch-katholisch. Die in Livland stationierten Truppen stehen unter dem Oberkommando des Generalgouverneurs von Wilna. Die Rechtspflege wird vom livländischen Hofgericht, 4 Landgerichten und 9 Ordnungsgerichten verwaltet; oberste Instanz derselben ist der Senat in St. Petersburg. Die lutherische Kirche steht unter drei Konsistorien: dem livländischen, rigaischen und öselschen. Livland wird eingeteilt in neun Kreise: Dorpat, Fellin, Ösel, Pernau, Riga, Walk, Wenden, Werro und Wolmar;
Hauptstadt ist Riga. Das Wappen ist ein geflügelter Greif in rotem Feld, mit bloßem Schwert in der rechten Klaue.
[Geschichte.]
Livland, von den ursprünglichen Bewohnern und Beherrschern des Landes, den Liven (s. d.), einem esthnischen Volksstamm, so genannt, ward seit dem 9. Jahrh. in seinem östlichen Teil von den Letten eingenommen, aber, obwohl die Dänen und Schweden die Ostseeländer schon im 11. Jahrh. kannten, für das übrige Europa erst durch Bremer Kaufleute bekannt, die, auf ihrer Fahrt nach Wisby an die livländische Küste verschlagen, bei der Mündung der Düna landeten (1159). Sie knüpften mit den Eingebornen Handelsverkehr an, rückten die Düna hinauf, und hier errichtete 1186 ein Mönch, Meinhard, eine Kirche zu Ykeskola, woran sich bald eine Burg schloß. Der Papst ernannte Meinhard 1188 zum Bischof Livlands; doch schritt die Bekehrung der Liven langsam vor und gelang erst dem Bischof Albert (1199-1229, s. Albert 3), der 1201 Riga gründete. Um die Herrschaft der infolge mehrerer Kreuzzüge eingewanderten Deutschen über Livland zu sichern, stiftete der Bischof 1202 mit Genehmigung Innocenz' III. den Orden der »Brüder
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der Ritterschaft Christi«, der nachmaligen Schwertritter, und trat ihm ein Drittel des eroberten ab (1207). Während dem Bischof die Oberherrlichkeit über den Orden vom Papst zugesichert wurde, ließ sich jener (im Winter 1205-1206) vom deutschen König Philipp mit Livland belehnen; somit wurde dies ein Teil des Deutschen Reichs. Nach jahrelangen blutigen Kämpfen gelang 1224 die Eroberung Esthlands, dessen nördlicher Teil jedoch den Dänen überlassen werden mußte.
Die Macht des Schwertritterordens wurde 1237 durch Vereinigung mit dem mächtigen Deutschen Orden erheblich vermehrt; fortan wurde für ein Landmeister gewählt, Hermann Balk als der erste. Unter Kaiser Friedrich II. (1232) wurde der Orden reichsunmittelbar und erhielt nach heftigen Kämpfen mit Russen, Kuren und Litauern 1245 Kurland und Litauen sowie ein Drittel von Semgallen von Friedrich II. zu Lehen, während der Rest dem Bischof von Riga zufiel. Doch konnte Litauen nicht erobert werden, errang vielmehr das Übergewicht, während durch den Verfall des Deutschordens und innere Streitigkeiten Livlands Macht sich erheblich verminderte.
Trotz des Vordringens der Reformation in Livlands Städten (in Riga seit 1523) und des Beispiels des Hochmeisters, der 1525 den Deutschorden in Preußen säkularisierte, blieb der Ordensmeister Walter v. Plettenberg (1494-1535) dem Katholizismus treu. Im Landtagsabschied von Wolmar 1554 wurde endlich den Protestanten freie Religionsübung zugesichert. Indessen die Kämpfe mit Iwan Wasiljewitsch II. brachen die Macht des Ordens; Polen und Schweden mischten sich auf Veranlassung des Erzbischofs von Riga ein, und 1561 behielt der letzte Meister des Ordens, Gotthard Ketteler, als weltlicher Herzog nur noch Kurland und Semgallen als Lehen der polnischen Krone, während Esthland schwedische und Livland polnische Provinz wurde.
Fortan ward Livland nebst Esthland Zankapfel zwischen Polen, Schweden und Rußland. 1660 verband der Friede von Oliva Livland mit Esthland als schwedische Provinz, eine Zeitlang zum Nutzen Livlands; denn Schweden schuf ein protestantisches Kirchen- und Schulwesen und organisierte die Gerichtshöfe und Behörden. Später achtete es die provinziellen Eigentümlichkeiten weniger und hob 1694 die Landesverfassung auf. Seine Bemühungen, mit Hilfe Polens, dann Rußlands Livland von der schwedischen Herrschaft zu befreien, mußte der vielgewandte Patkul mit einem schrecklichen Tod büßen (1707); schließlich kam durch den Nystader Frieden 1721 Livland mit Esthland dennoch an Rußland, das die provinzielle Selbständigkeit Livlands, namentlich die der lutherischen Landeskirche, im Besitzergreifungspatent zu erhalten versprach.
Auch Alexander II. bestätigte 1856 die Adelsprivilegien Livlands. Die Lage des Bauernstandes wurde 1819 durch Aufhebung der Leibeigenschaft und noch mehr 1849 verbessert. Auch in Livland wurde 1835 das russische Gesetzbuch eingeführt und die russische Sprache als Amtssprache bevorzugt, aber die deutsche nicht unterdrückt. Nur in kirchlicher Beziehung traten die russischen Behörden schroffer auf, verleiteten 1845-48 etwa 140,000 Menschen aus dem Bauernstand zum Übertritt zur orthodoxen Kirche und wollten die Zurücknahme dieses übereilten Schrittes nicht dulden.
In den letzten Zeiten Alexanders II. und noch mehr nach dessen Tod (1881) wurden aber die Sonderrechte der Ostseeprovinzen von den Russen nicht mehr anerkannt. Dieselben sollten dem russischen Gesetz unterworfen und völlig mit Rußland verschmolzen werden. Den Widerstand der deutschen Behörden suchte man durch Aufreizung der lettischen und esthnischen Bevölkerung zu brechen. Besonders die Revision der Zustände in den Provinzen durch den Senator Manassein 1884 hatte diesen Zweck.
Die russische Sprache wurde zur alleinigen Amtssprache auch bei den Gemeinden erklärt und in den Schulen, sowohl den Elementarschulen wie den Gymnasien und Realschulen (1887), als Unterrichtssprache eingeführt und das Land mit russischen Beamten überschwemmt. Seit 1883 begannen auch die russischen Popen das Landvolk wieder zu Massenübertritten zur orthodoxen Kirche zu verleiten, und wenn ein lutherischer Pfarrer einen reuigen Bauer wieder in seine Kirche zuließ, wurde er verbannt. Während der Bau griechischer Kirchen von Staats wegen begünstigt wurde, nahm die Regierung das ganze Vermögen der lutherischen Landeskirche in ihre Verwaltung. Alle Petitionen Einzelner und der Landtage dagegen wurden vom Kaiser abgewiesen.
Vgl. Kohl, Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen (Dresd. 1841-42, 2 Bde.);
Rathlef, Skizze der orographischen und hydrographischen Verhältnisse von Liv-, Esth- und Kurland (Reval 1852);
Bornhaupt, Beschreibung der Ostseeprovinzen (Riga 1855);
M. Willkomm, Streifzüge durch die baltischen Provinzen, Bd. 1 (Dorp. 1872);
Karlberg, Statistisches Jahrbuch des Gouvernements Livland (1886, in russischer Sprache), und die Publikationen des Statistischen Büreaus in Riga.
Zur Geschichte: Kienitz, Vierundzwanzig Bücher der Geschichte Livlands (Dorp. 1847-1849, 2 Bde.);
v. Richter, Geschichte der deutschen Ostseeprovinzen (Riga 1857-58, 2 Bde.);
Bienemann, Die Statthalterschaftszeit in und Esthland 1783-96 (Leipz. 1886);
Eckardt, Bürgertum und Büreaukratie; ein Kapitel aus der neuesten livländischen Geschichte (das. 1870);
Derselbe, Livland im 18. Jahrhundert (das. 1876);
Fahne, ein Beitrag zur Kirchen- und Sittengeschichte (Düsseld. 1875);
»Liv-, Esth- und Kurländisches Urkundenbuch« (hrsg. von Bunge u. a., Riga 1852-84, Bd. 1-8);
»Beiträge zur Kunde Est-, Liv- und Kurlands« (hrsg. von der Estländ. Litter. Gesellschaft, Reval);
Winckelmann, Bibliotheca Livoniae historica (2. Aufl., Berl. 1879).