Unterdrückung der kretischen Seeräuber durch
Metellus Creticus (67
v. Chr.) waren die
Römer
[* 2]
Herren der
Insel.
Später den griechischen
Kaisern gehörend, wurde sie diesen 823
n. Chr. von den Arabern entrissen.
NikephorosPhokas eroberte sie 961 wieder,
und sie
blieb nun den Griechen, bis
Konstantinopel
[* 3] 1204 von den
Kreuzfahrern erobert wurde, worauf sie in die
Hände
der Genuesen und dann der
Venezianer geriet, welche sie bis 1645 behaupteten. Die Hauptstadt
Kandia ging aber erst nach einer
dreijährigen, höchst blutigen Belagerung, wobei fast 150,000
Menschen geopfert wurden, 1668 an die
Türken über, unter deren
Herrschaft die
Insel verwilderte. Im griechischen
Aufstand nahm sie
Mehemed Ali von
Ägypten
[* 4] als
Ersatz für
die
Kriegskosten dem
Sultan weg, mußte sie ihm jedoch 1841 wieder herausgeben.
Als durch die Entthronung König
Ottos in
Griechenland
[* 5] die national-hellenische
Bewegung sich wieder belebt hatte und die Mißernten
der Jahre 1863-65 den türkischen Steuerdruck wieder recht empfindlich machten, kam es 1866 zu einem
allgemeinen
Aufstand gegen die Fremdherrschaft, dessen Bekämpfung wegen der gebirgigen
Beschaffenheit der
Insel den durch 6000 Ägypter
verstärkten
Türken große Schwierigkeiten verursachte. Überdies wurde der
Aufstand von
Griechenland aus durch
Freiwillige
und Geldsendungen unterstützt, und selbst die Großmächte, außer
England, rieten der
Pforte zur Abtretung der
Insel an
Griechenland.
Diese wurde abgelehnt, und die
Neutralen beschränkten sich darauf, die Einwohner
vor derRache der
Türken nach
Griechenland
in Sicherheit zu bringen. 1867 gelang es endlich
Omer Pascha, durch kombinierte
Operationen den
Aufstand einzuengen und durch
rücksichtslose Strenge die
Ruhe in dem okkupierten Gebiet zu erhalten. Zugleich gewährte die
Pforte eine
allgemeine
Amnestie und zeigte sich zu
Reformen bereit. Der
GroßwesirAali Pascha selbst begab sich im
Oktober 1867 nach Kreta und
berief eine Delegiertenversammlung nach
Kanea, deren
Vorschläge, namentlich ein mehrjähriger Steuererlaß, bewilligt wurden.
Nun erlahmte der
Aufstand; die Mächte, durch die türkischen Zugeständnisse zufriedengestellt, lehnten jede fernere
Unterstützung ab und zwangen auch
Griechenland Anfang 1869, alle
Verbindung mit Kreta abzubrechen. Nach 2½jährigem
Kampf ward
so Kreta wieder den
Türken unterworfen, welche sich übrigens bemühten, den Einwohnern ihre Herrschaft weniger drückend zu
machen. Namentlich gewährte
Mukhtar Pascha, der 1878 zur Dämpfung neuer
Unruhen nach Kreta geschickt wurde, den
Einwohnern erhebliche Zugeständnisse, wie die
Berufung einer aus christlichen und mohammedanischen
Deputierten gebildeten
Provinzialversammlung, finanzielle Selbständigkeit, Beschränkung der
Dienstpflicht auf die Gendarmerie u. dgl. Auch
wurde ein Grieche, Photiades, zum
Generalgouverneur ernannt.
Ganz wurden die
Opposition der christlichen Einwohner gegen die türkische Herrschaft und die Annexionsgelüste der Griechen
damit allerdings nicht erstickt.
eine endemische, in ihren
Ursachen noch nicht genau bekannte
Entwickelungskrankheit, welche bei den davon
befallenen Individuen
(Kretins,
Fexe,
Trotteln, Gocken,
Gauche,
Simpel) eine eigentümliche Mißgestaltung
der körperlichen
Organisation und meist einen hohen
Grad geistiger
Schwäche zur
Folge hat. Woher das
WortKretin stammt, ist
nicht sicher; weder die
Ableitung von creta
(Kreide)
[* 8] noch die von chrétien (weil die Unglücklichen als
»Segen des
Himmels«
bezeichnet wurden) läßt sich in irgend einer
Weise begründen. Am wahrscheinlichsten ist das
Wort eine
jener zahlreichen im Volksmund befindlichen Bezeichnungen für
Geistesschwäche und entstand in einer von der
Krankheit heimgesuchten
Gegend mit romanisch sprechender
Bevölkerung
[* 9] als
Provinzialismus.
Manche bringen es, obgleich auch dafür ein Nachweis nicht geführt werden kann, in Beziehung zu dem
Wort cretira (creatura),
welches s. v. w. elendes Geschöpf,Tropf bedeutet. Der Kretinismus war schon im
Altertum bekannt, aber erst vom 16. Jahrh.
ab finden sich
Dokumente über das Vorkommen desselben in der
Schweiz
[* 10]
(Paracelsus,
Agricola). Eingehender wurde die
Krankheit
erst seit dem Anfang dieses
Jahrhunderts studiert, und besonders haben sich Fodéré,
Saint-Lager, Baillarger, Parchappe, auch
der
Präfekt de Rambuteau,
Iphofen,
Meyer-Ahrens,
Stahl,
Virchow,
Klebs u. a. an diesen Forschungen beteiligt.
Der Kretinismus macht sich bei den davon befallenen Individuen, wenn nicht schon bei der
Geburt, so doch in frühster
Jugend bemerklich.
Je nach dem
Grade der
Ausbildung, welchen die
Symptome der
Krankheit erreichen, und also auch nach dem
Grade der
körperlichen
Mißbildung und geistigen
Schwäche unterscheidet man die vollkommenen
Kretins, die Halbkretins und die Kretinösen.
In physischer Beziehung bietet nun der Kretinismus die folgenden wichtigern
Charaktere. Die
Statur ist klein (vollständige
Kretins werden
nicht größer als 1 m), untersetzt und dick, die
Brust flach, der
Unterleib aufgetrieben.
Die unternGliedmaßen sind kurz, an den
Gelenken aufgetrieben und zeigen mannigfache
Verkrümmungen; die
obern sind lang und dünn, mit breiten, dicken
Händen und kurzen
Fingern. Der sehr große
Kopf wird nur schwer aufrecht getragen.
Der
Schädel ist sehr unregelmäßig gebaut: in seinem vordern und obern Teil klein und wie zusammengedrückt, vergrößert
er sich vom
Scheitel aus nach hinten zu einem auffälligen
Umfang. Dabei ist die behaarte Kopfhaut stark
gewulstet; die dichten, starken
Haare
[* 11] gehen vorn tief herab.
Das
Gesicht
[* 12] gewährt einen monströsen Anblick. Es ist breit, besonders im obern Drittel;
die dicken, wulstigen, nach außen gewandten
Lippen umschließen
den offenen
Mund, aus welchem die dicke, fleischige
Zunge oft vorsteht und der
Speichel ausfließt.
Die
Gesichtshaut ist faltig, runzelig und welk, ihre
Farbe erdfahl; die
Physiognomie ist
¶
mehr
ohne Ausdruck, und das ganze Gesicht hat schon von Jugend auf ein greisenhaftes Aussehen. Die Zähne
[* 16] sind fast immer lückenhaft,
unregelmäßig eingepflanzt und kariös; ihre Entwickelung verspätet sich in den meisten Fällen. Der Hals ist kurz und dick
und trägt einen bald mehr, bald weniger entwickelten Kropf. Im allgemeinen charakterisiert sich der Körperbau
der Kretins durch den Mangel der Symmetrie und Proportionalität der verschiedenen Körperteile und durch das gänzliche Fehlen
von Harmonie in seinen Formen (s. Abbildung, nach einem Bild inVirchows »Gesammelten Abhandlungen«).
Die Funktionen dieses abnormen Organismus gehen stumpf und träge von statten. Die Bewegungen sind langsam und
unsicher; die Arme hängen schlaff herab; der Gang
[* 17] ist schleppend und wackelnd, zuweilen ganz unmöglich. Die Sinnesorgane sind
stumpf, ihre Wahrnehmungen, wenn überhaupt welche vorhanden sind, unvollkommen. Die geschlechtliche Entwickelung verspätet
sich meist sehr bedeutend. Vollkommene Kretins haben keinen Geschlechtstrieb und sind nicht zeugungsfähig; Halbkretins und
Kretinöse dagegen zeigen nicht selten eine starke geschlechtliche Erregung und sind auch zeugungsfähig.
Geistige Fähigkeiten mangeln den vollständigen Kretins gänzlich. Es geht ihnen selbst der Instinkt der Selbsterhaltung ab;
man muß sie wie kleine Kinder füttern (wobei sie unterschiedslos verschlucken, was man ihnen gibt) und reinlich halten.
(Vgl. hierüber Idiotie.)
Nach den Untersuchungen Virchows ist die Schädelform der Kretins im wesentlichen bedingt durch eine vorzeitige
Verknöcherung der die einzelnen Teile des Schädelgrundbeins trennenden Knorpel
[* 18] und durch die so entstandene Verkürzung der
Schädelbasis. Die neuern Untersuchungen von Klebs ergeben nun, daß diese vorzeitige Verwachsung der Knochen
[* 19] der Schädelbasis
nur eine Teilerscheinung eines über das ganze Skelett
[* 20] verbreiteten pathologischen Vorganges ist, welcher
darin besteht, daß die Wucherung der Knorpelelemente, welche normalerweise der Verknöcherung vorausgeht, nicht stattfindet.
Demgemäß ist der als eine eigentümliche Ernährungsstörung des wachsenden Organismus aufzufassen, welche sich charakterisiert
durch ein vorzeitiges Aufhören der Knochenbildung und durch eine dieser allgemeinen Hemmung des Längenwachstums der
Knochen gegenüberstehende übermäßige Entwickelung der Weichteile, namentlich der äußern Haut,
[* 21] der Schleimhäute des Mundes,
des Rachens und der Zunge, vielleicht auch des Gehirns. Der Kretinismus im weitern Sinn, als Endemie betrachtet, macht sich nicht bloß
bei den im engern Sinn kretinistisch gestalteten
Individuen bemerklich, sondern die ganze Bevölkerung an den befallenen
Orten zeigt sich von der Krankheitsursache betroffen.
Außer den eigentlichen Kretins, Halbkretins und Kretinösen findet sich eine Menge kropfiger, schwachköpfiger, verkümmerter
und schlecht proportionierter Individuen, Taubstummer, Stotterer und Stammler, Schwerhöriger, Schielender; es geht ein allgemeiner
Zug
körperlicher Degeneration und geistiger Verdumpfung durch die ganze eingeborne Bevölkerung, und auch die
für gesund und klug geltenden Individuen sind durchschnittlich unschön, beschränkt und träge.
Besonders hervorzuheben ist das Verhältnis des Kretinismus zum Kropf. Der Kretinismus kommt nie vor, ohne daß auch der Kropf endemisch ist,
so daß man den letztern als den geringern Grad der Einwirkung derselben Ursache ansehen kann, welche den
erstern erzeugt. Abgesehen davon, daß die meisten Kretins sehr bedeutende Kröpfe haben, bringen Eltern mit Kröpfen häufiger
und vollkommnere Kretins zur Welt als solche ohne Kröpfe. Gesunde erwachsene Personen, welche in Kretingegenden einwandern, werden
von Kröpfen befallen; ja, selbst die Tiere (Pferde,
[* 22] Hunde)
[* 23] leiden in solchen Gegenden am Kropf.
NachMorel ist der in den befallenen Gegenden endemische Kropf nur das äußerliche Merkmal einer schweren
Erkrankung des ganzen Organismus (Kropfkachexie), und diese Erkrankung hat bei der Deszendenz der davon betroffenen Personen
den Kretinismus zur Folge. Sollte diese Auffassung, welche den anderweitigen AnsichtenMorels über die fortschreitende Degeneration bei
Nerven- und Geisteskrankheiten entspricht, auch nicht stichhaltig sein, so ist jedenfalls die innige Verbindung
zwischen dem endemisch vorkommenden Kropf und dem Kretinismus sicher konstatiert (»Le
[* 24] goître est le père du crétinisme«, Fabre).