Kontrapunkt,
nach heutigem vulgären Gebrauch des Wortes ein besonderer Teil der musikalischen Kunstlehre, nämlich im Gegensatz zur Harmonielehre, welche an bezifferten Bässen geübt wird, die Übung des mehrstimmigen Satzes an nicht bezifferten Aufgaben, d. h. also die mehrstimmige Aussetzung einer gegebenen Melodie ohne jedweden weitern Anhalt. [* 2] Im engern Sinn versteht man unter kontrapunktischer Behandlung der Stimmen den konzertierenden Stil, in welchem die der Hauptstimme gegenübertretenden Stimmen nicht bloße harmonische Füllstimmen sind, die stets in der primitivsten Form die Harmonie ausprägen, in deren Sinn die melodische Phrase zu verstehen ist; vielmehr gestalten sich im konzertierenden Stil auch die Nebenstimmen melodisch, so daß die Wirkung eines Streitens (concertatio) der Stimmen miteinander um den Vorrang entsteht.
Eine gute kontrapunktische (polyphone) Stimmführung ist daher die den einzelnen Stimmen Selbständigkeit gebende. Natürlich hat die Selbständigkeit ihre Grenzen. [* 3] Da wir einen Zusammenklang mehrerer Töne wie eine schnelle Folge von Tönen nur verstehen, wenn wir sie zur Einheit der Bedeutung eines Klanges zusammenfassen, so wird die selbständige Bewegung mehrerer Stimmen nur verständlich sein, wenn sie die Auffassung im Sinn derselben Harmonie zuläßt.
Daß sich z. B. nicht die eine Stimme in der As dur-Tonleiter, die andre aber in der G dur-Tonleiter bewegen kann, ist an sich verständlich; doch ist es noch nicht genügend, daß die Fortschreitungen beider im Sinn desselben Klanges geschehen, es muß auch die Stellung dieses Klanges zu andern in beiden gleich aufgefaßt sein. Dieser Teil der Lehre [* 4] des Kontrapunktes ist indes noch etwas im unklaren; zwei verschiedene Methoden stehen einander gegenüber, deren Verschmelzung erst das Rechte treffen kann, nämlich die auf die alten Kirchentöne fußende und die moderne von der Dur- und Molltonleiter ausgehende.
Den Versuch dieser Verschmelzung hat H. Riemann in seiner »Neuen Schule der Melodik« (1883) gemacht. Als der Name Contrapunctus aufkam (im 14. Jahrh.), war die Kunst des mehrstimmigen Satzes schon sehr entwickelt; die als Regulae de contrapuncto auftretenden theoretischen Traktate eines Johannes de Muris, Philipp v. Vitry u. a. bringen daher nichts eigentlich Neues, sondern sind Abhandlungen über die vorher Discantus genannte Schreibweise mit veränderter Terminologie. Sie gehen dabei aus von dem Satz: Note gegen Note (punctus contra punctum oder nota contra notam), der von Muris ausdrücklich als fundamentum discantus bezeichnet wird. Den ungleichen Kontrapunkt nennt Muris »Diminutio contrapuncti«, eine Auffassung, die noch heute zu Recht besteht. Hier ist eins seiner Beispiele (daselbst, 62):
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Die imitatorischen Formen des Kontrapunktes reichen zurück bis ins 13. Jahrh.; Walter Odington (1228 Bischof von Canterbury) gibt vom Rondellus die Definition: »Si quod unus cantat, omnes per ordinem recitent« (Coussemaker, »Script.«, I, 245). Zu übertriebener Künstelei wurden die Imitationen entwickelt durch die Kontrapunktisten des 15.-16. Jahrh. und klärten sich schließlich im 17.-18. Jahrh. ab zur Kunstform der Fuge; der strenge Kanon (s. d.) mit schneller Stimmenfolge ist schließlich doch nur ein Kunststück, eine Spielerei.
Von ungleich höherer Bedeutung für die Komposition ist der sogen. doppelte Kontrapunkt, welcher so angelegt ist, daß die Stimmen vertauscht werden können, d. h. die obere zur untern gemacht wird. Man unterscheidet den doppelten in der Oktave, in der Dezime und in der Duodezime, je nachdem, ob er für die Umkehrung durch Versetzung in die Oktave, Dezime oder Duodezime berechnet ist. Eine klare Darlegung der verschiedenen Arten des doppelten Kontrapunktes und des Kanons gibt schon Zarlino in seinen »Istitutioni armoniche« (1558). Lehrbücher des Kontrapunktes im alten Stil (d. h. mit Zugrundelegung der Kirchentöne) sind die von Martini, Albrechtsberger, Cherubini, Fétis, Bellermann, Bußler u. a.; für dieselben ist die Harmonielehre nur ein Accidens, die Regeln sind im Grunde dieselben wie zu den Zeiten des Discantus, als man von Harmonie überhaupt noch keinen klaren Begriff hatte (Intervallenlehre statt Harmonielehre).
Dagegen sind die Werke von Dehn (B. Scholz), Richter, Tiersch u. a. mit der Harmonielehre verwachsen, richtiger: bei ihnen ist die Harmonielehre die eigentliche Schule und der Kontrapunkt die Probe aufs Exempel; durch jene muß der Schüler lernen, diesen instinktiv zu handhaben. Daß sich aber durch Vertiefung der harmonischen Studien im Rahmen des Kontrapunktes, d. h. durch Vereinigung der beiden Methoden, eine glückliche Fortentwickelung der Lehre wird anbahnen lassen, ist oben schon angedeutet.