mehr
Gleichzeitig entwickelte sich in Frankreich ein religiöser Kommunismus, der, von den Grundgedanken des Christentums ausgehend, die Worte der Bibel [* 2] anwendete, um mit ihnen die Grundlagen der bestehenden Gesellschaft, Privateigentum und Familie, anzugreifen und im Namen Christi die Gemeinschaft der Güter, die Erhebung der niedern Klassen auf den »Ruinen des Privateigentums«, die Gleichheit des materiellen Lebens unter »dem Panier des Evangeliums« zu fordern, der aber zugleich betonte, daß alle privaten Umgestaltungen, wie notwendig auch immer, nicht durch Gewalt und anarchische Störungen, sondern allein durch die Liebe und Verwirklichung des Gedankens der Brüderlichkeit vor sich gehen dürften.
Diesem Kommunismus, der im ganzen wesentlich negativer und theoretischer Art war und der sich völlig unklar blieb über die positive neue Gestalt der kommunistischen Gesellschaft, brach der Priester de Lamennais, vorzüglich durch seine ihrer Zeit ein ungeheures Aufsehen erregenden Schriften: »Paroles d'un croyant« (1834) und »Le [* 3] livre du peuple« (1837),
Bahn. Ihn bildeten weiter aus unter andern der Abbé Constant (»Bible de la liberté«, 1840),
Alph. Esquiros (»L'évanglie du peuple«, 1840; »Évangile du peuple défendu«, 1841) und besonders C. Pecqueur, beeinflußt von den Lehren [* 4] Saint-Simons und Fouriers (s. Sozialismus),
durch sein Hauptwerk: »De la république de Dieu. Union religieuse pour la politique imméditate de l'égalite et de la fraternité universelle« (1844). Es kam aber nicht zu einer kommunistischen Partei dieser Richtung.
Eine größere kommunistische Partei in Frankreich zu organisieren, gelang in den 40er Jahren dem Kommunisten Et. Cabet (s. d.). Ursprünglich ein radikaler Republikaner, der in der reinen demokratischen Republik sein Staatsideal verwirklicht sah, war Cabet als Flüchtling in England Ende der 30er Jahre durch das Studium kommunistischer Schriften zum Kommunisten, aber einem friedlichen Kommunisten geworden. Er veröffentlichte 1840 die »Voyage en Icarie, roman philosophique et social«, ein harmloses Buch, in welchem in einer amüsanten Weise die Zustände einer großen kommunistischen demokratischen Republik, Ikarien, geschildert werden.
Das Buch ist eine Reisebeschreibung in der Form eines Romans. Die Phantasie Cabets entwarf ein verführerisches Bild von den glücklichen Zuständen des ikarischen Volkes, welche dieses der Durchführung der kommunistischen Ideen verdankt. Dort gibt es keine Armut, keine Verbrechen, keine Unmoralität. Alle führen ein hohes Genußleben, alle erfreuen sich des glücklichsten Familienlebens, es blühen Wissenschaft und Kunst, das Problem der Menschheit ist dort gelöst.
Das verführerische Bild sollte die Franzosen für die kommunistischen Ideen gewinnen (s. die Darstellung der ikarischen Zustände bei Stein und Marlo). Ähnliche Zustände glaubte Cabet auch in einem kommunistischen Frankreich nach einem Übergangsstadium, das er auf 50 Jahre annahm, herbeiführen zu können. Während desselben sollte noch das Privateigentum bestehen bleiben, aber der kommunistische Staat durch folgende Maßregeln angebahnt werden:
1) Abschaffung des Intestaterbrechts der Seitenverwandten und des testamentarischen Erbrechts sowie der Schenkungen unter Lebenden. Der Staat ist der Erbe dieser Güter.
2) Staatliche Fürsorge für eine bessere materielle Existenz der untern Volksklassen durch gesetzliche Regelung des Arbeitslohns, durch jährliche Verwendung einer halben Milliarde zur Beschäftigung Arbeitsloser mit dem Bau neuer Wohnungen und Werkstätten, durch Überlassung der Staatsgüter zur Bewirtschaftung an Arme und durch Verringerung der Armee.
3) Reform des Steuerwesens durch starke Luxussteuern und progressive Vermögensbesteuerung.
4) Kommunistische Erziehung der Kinder. Die dritte Generation würde, von der Richtigkeit des Kommunismus überzeugt, ihn friedlich einführen. Das der Inhalt jenes Werkes, welches, ohne jeden wissenschaftlichen Wert, nirgends eine wissenschaftliche Begründung, resp. Rechtfertigung der kommunistischen Forderungen auch nur versucht. Nach Abfassung dieses Werkes kehrte Cabet nach Frankreich zurück, agitierte dort in Schrift und Wort für die friedliche Verwirklichung des Kommunismus und fand zahlreiche Anhänger. Aber zu einer politischen Bedeutung gelangte die Bewegung und die Partei der »Ikaristen« nicht. Die einzige That derselben war ein verunglücktes Experiment mit einer ikarischen Kolonie in Amerika, [* 5] die Cabet 1848, als die Revolution seine Erwartungen nicht erfüllte, in Nauvoo gründete.
Robert Owen (s. d.) ist der einzige, welcher eine wissenschaftliche Begründung des Kommunismus versuchte, namentlich in seinen beiden Hauptwerken: »New views of society« (1812),
»Book of the new world« (1820). Eine breit ausgeführte selbständige Psychologie ist die Grundlage seiner kommunistischen Ideen. Der Grundgedanke derselben ist, daß, da der Charakter der Menschen, welcher ihre Handlungen bestimme, ein Produkt der angebornen Anlagen und der äußern Verhältnisse, unter denen die Anlagen ausgebildet werden und die Menschen leben, sei, der einzelne Mensch aber weder den einen noch den andern Faktor bestimmen könne, niemand für seinen Charakter und seine Handlungen verantwortlich sei.
Die Erziehung und die äußern Verhältnisse seien in der heutigen Gesellschaft durch eine falsche Organisation des wirtschaftlichen und sozialen Lebens derart, daß der Charakter der meisten Menschen ein schlechter werden müsse; daher die schlechten Zustände. Das Problem, für alle Menschen günstige äußere Verhältnisse herzustellen, so daß alle, auch die mit schlechten Anlagen, gute Charaktere würden und gut handelten, sei nur durch eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu lösen, bei welcher aber der kleine Teil, der heute ein höheres Kulturleben führe, auf dasselbe verzichten müsse; das für alle gleiche materielle Genußleben müsse ein ganz einfaches sein, sich auf eine sehr mäßige Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse beschränken, und das geistige Genußleben müsse auf ein niedriges Maß reduziert werden, wie es in den Urzuständen war, ehe Wissenschaft und Kunst existierten.
Das Mittel zur Herstellung jener günstigen äußern Bedingungen findet Owen in der Bildung von kleinen wirtschaftlich selbständigen kommunistischen Gemeinden (von 500-2000 Mitgliedern), die, was sie zum Leben gebrauchen, wesentlich selbst produzieren und nur solche Produkte, die sie notwendig gebrauchen, aber auf ihrem Boden nicht selbst erzeugen können, von andern Gemeinden erwerben sollen. Die Gemeinde ist die Eigentümerin des Bodens und aller andern Güter.
Der Gemeinderat, bestehend aus den 30-40 Jahre alten Gemeindegliedern, ordnet und leitet die materielle Produktion und Konsumtion und die für alle gleiche Erziehung und Ausbildung. Er weist den Einzelnen die Arbeit und die materiellen Bedürfnisbefriedigungsmittel zu. Die einzelnen Arbeiten werden auf die verschiedenen Altersklassen, als welche acht unterschieden werden, verteilt, so daß jeder im Lauf des Lebens nacheinander die verschiedenen Arbeiten und gleichwie jeder andre zu ¶
mehr
verrichten hat. Die Erziehung und Ausbildung der Kinder ist eine gemeinsame, der Unterricht erstreckt sich nur auf die elementaren Fächer, [* 7] der Hauptpunkt in der Erziehung ist die Ausbildung der Nächstenliebe. Ein radikaler Gegner aller positiven Religionen, verwirft Owen alle kirchlichen Gebräuche und jede Art von Gottesverehrung. Die Ehe soll ein freier Vertrag und jederzeit einseitig auflöslich sein. Owens kommunistische Gesellschaftsordnung bietet ein wenig verlockendes Bild, und es ist daher begreiflich, daß er dafür trotz seiner unermüdlichen, auf die friedliche allmähliche Herbeiführung derselben gerichteten Agitation keine Anhänger gewann.
Einige Versuche, die er in Amerika und England mit der Durchführung solcher kommunistischer Gemeinden machte, scheiterten vollständig. Als Kommunist und kommunistischer Agitator hat Owen nichts erreicht. Wenn Owens Name noch heute in England mit Ehren genannt wird, so verdankt er das dem epochemachenden Beispiel, das er vorher als humaner Fabrikherr in der sittlichen wie materiellen Hebung [* 8] seiner Arbeiter gegeben, und der Einwirkung, die er auf die Anfänge des englischen Genossenschaftswesens und der englischen Fabrikgesetzgebung ausgeübt hat.
Auch dem Schneidergesellen Wilh. Weitling (geb. 1808 zu Magdeburg, [* 9] seit 1849 in Amerika, gest. 1871 in New York), dem Verfasser der Schriften: »Die Menschheit, wie sie ist und sein soll« (1839) und »Garantien der Harmonie und Freiheit« (1842), der Anfang der 40er Jahre in der Schweiz [* 10] (Zürich, [* 11] Lausanne, [* 12] Neuenburg) [* 13] eine auf kleine Kreise [* 14] beschränkt gebliebene kommunistische Agitation betrieb, hat man die Ehre erwiesen, der Autor eines selbständigen kommunistischen Systems zu sein. Allerdings hat er ein neues Bild von einem kommunistischen Staat gezeichnet (s. dessen Darstellung z. B. bei Hildebrand); aber die unreifen Anschauungen ohne irgend eine selbständige Begründung der kommunistischen Ideen und der Ausführbarkeit seiner Phantasieprodukte (für welche z. B. charakteristisch ist, daß an der Spitze des großen zentralisierten kommunistischen Staats als die die gesamte Produktion, Verteilung u. Konsumtion dirigierende Obrigkeit ein Trio von drei Philosophen stehen soll, welche durch Preisarbeiten zu dieser Stellung gelangen sollen) dürften jene Ehre doch kaum rechtfertigen.
Eine neue Art von radikalem, revolutionärem Kommunismus ist die des Russen Bakunin (s. d.) und der russischen Nihilisten, die, soweit sie sich erkennen läßt, zusammenhängend mit spezifisch russischen Verhältnissen, auf die völlige Selbständigkeit der kommunistischen Gemeinden gegenüber dem Staat, auf die Abschaffung jeder Religion, Auflösung der Familie und vollständige politische wie soziale Emanzipation des weiblichen Geschlechts ausgeht.
Nicht alle Kommunisten sind nach den Anschauungen eines Bakunin und Babeuf zu beurteilen, und manche landläufige Vorstellungen über Kommunismus und Kommunisten treffen nur für einzelne, nicht für alle zu, so z. B. daß die Kommunisten stets irreligiös oder unchristlich, daß sie rohe Materialisten seien, die nur teilen und dem Einzelnen ein hohes Genußleben ohne Arbeit bereiten wollten, daß alle die Ehe und die Familie aufheben wollten etc. Aber alle trifft mit Recht der Vorwurf, daß sie unklare Phantasten sind.
Ihnen fehlt die klare Einsicht in die menschliche Natur und in die allein möglichen Grundlagen einer gesunden Volkswirtschaft und friedlichen Kulturgemeinschaft, ihnen mangelt das Verständnis der wirklichen Triebkräfte menschlicher Handlungen und derjenigen organischen Gestaltung der Volkswirtschaft, welche das Kulturleben der Völker und den Kulturfortschritt der Menschheit bedingt. In vollständiger Verkennung dieser Verhältnisse kommen sie zu dem Grundirrtum: der Forderung der radikalen Verwirklichung der Idee der Gleichheit.
Sie verkennen die große Bedeutung, welche für die individuelle Zufriedenheit wie für das materielle Wohl und den geistigen Fortschritt der Einzelnen und der Gesamtheit die individuelle Bewegungsfreiheit und das Bewußtsein der Verantwortlichkeit für die eigne Lage haben; sie verkennen den segensreichen Einfluß der Institutionen des privaten Eigentums und des Erbrechts auf die Erhöhung der individuellen Ausbildung, auf die Steigerung des Arbeitsfleißes und des Sparsinns, auf die Sicherung des steten Fortschritts im Wirtschaftsleben. In dem Kommunistenstaat ist die Hauptschranke gegen eine Übervölkerung niedergerissen, diese unvermeidlich. Wohl läßt sich eine materielle Gleichheit aller durchführen, aber, wie Owen das richtig erkannt hat, nur auf der niedrigsten Stufe menschlichen Genußlebens. Die Durchführung des Kommunismus wäre die Nivellierung aller zu Proletariern, die Beseitigung des Kulturlebens und des Kulturfortschritts für die Völker.
Litteratur: L. Stein, Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich (Leipz. 1842);
Derselbe, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich (das. 1850, 3 Bde.);
Sudre, Histoire du communisme (5. Aufl., Par. 1856; deutsch, Berl. 1886);
Hildebrand, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (Frankf. 1848);
Marlo (Winkelblech), Untersuchungen über die Organisation der Arbeit (Kassel [* 15] 1850-59, 3 Bde.; 2. Aufl., Tübing. 1886);
Schäffle, Kapitalismus und Sozialismus (Tübing. 1870);
R. Meyer, Der Emanzipationskampf des vierten Standes (Berl. 1874-75, 2 Bde.);
Woolsey, Communism and socialism in their history and theory (Lond. 1880);
Leroy-Beaulien ^[richtig: Leroy-Beaulieu], Le collectivisme (Par. 1884).