Sprache
[* 18] und Litteratur. Wie die
Kleinrussen
(Reußen, in
GalizienRuthenen genannt) einen von den Großrussen
verschiedenen Volksstamm bilden (s.
Russen), so sprechen sie auch ihre besondere
Sprache, die mit dem eigentlichen
Russischen (Großrussischen) zwar nahe verwandt ist, aber sich doch als selbständige
Mundart neben demselben behauptet (s.
Russische Sprache),
[* 19] und haben in derselben eine eigne Litteratur ausgebildet. Ein charakteristischer Unterschied zwischen
beiden
Sprachen besteht unter anderm darin, daß das Kleinrussische durchgehends h setzt, wo das Großrussische
g gebraucht, z. B. horod, »Stadt« (großruss.
gorod),
ebenso i statt ě, z. B. hrich,
»Sünde« (großruss. grěch). Das Kleinrussische zerfällt selbst wieder in zahlreiche
Dialekte, die sich in drei
Gruppen zusammenfassen lassen:
3) die rotrussische oder ruthenische
Gruppe, im westlichen Teil von
Podolien und
Wolhynien, in
Galizien und
Ungarn.
[* 21]
Grammatiken der kleinrussischen
Sprache lieferten unter andern Pavlowskij (Petersb. 1818) und Osadca (»Grammatika
ruskoho jazyka«, 3. Aufl., Lemb. 1876); ein deutsch-kleinrussisches
Lexikon gab A. Partyckij (1867), ein kleinrussisch-deutsches neuerdings Zelechowskij (das.
1882-86) heraus.
Die Litteratur der
Kleinrussen fällt in ihrer ersten
Periode, die vom 11. bis 14. Jahrh. reicht, mit der
ältesten
Periode der russischen Litteratur überhaupt zusammen. Sie
hatte, beeinflußt von der mit dem
Christentum (seit 988)
eingedrungenen byzantinischen
Kultur, zunächst einen kirchlichen
Charakter, und die Schriftsprache war infolgedessen auch
das
Kirchenslawische oder Altbulgarische, wobei auch mitunter Wortformen und Wendungen aus der kleinrussischen
Volkssprache aufgenommen wurden.
Unter den Werken des 11. Jahrh. ragt die
»Prawda ruskaja« hervor, ein Denkmal des reußischen Kriminal- und
Zivilrechts, die
altherkömmlichen gesetzlichen Bestimmungen enthaltend, welche die
Häupter der einzelnen slawischen Föderativstämme, die
den reußischen
Staat zusammensetzten, vereinbart hatten. Aus dem 12. Jahrh., in dem sich das geistige
Leben des
Volkes ziemlich vielseitig entwickelte, stammt die älteste reußische
Chronik, die gewöhnlich
Nestor, einemMönch
des Höhlenklosters zu
Kiew, beigelegt wird; noch wichtiger ist das
»Lied vom Heereszug
Igors«, die
Schöpfung eines hochbegabten
Dichters; der die Vorbilder der Nationalpoesie mit
Glück und Erfolg ausgebeutet hat (s.
Igor).
Indes gaben
um die Mitte des 13. Jahrh. die Einfälle der
Mongolen der
Entwickelung des intellektuellen und politischen
Lebens im jetzigen
Südrußland den Todesstoß; zu erwähnen aus dieser Zeit ist nur die Wolhynisch-Haliczer
Chronik, die durch poetische Färbung
der
Sprache sowie durch lebhafte Schilderung der geschichtlichen Ereignisse ausgezeichnet ist.
Während dieses Zeitraums erhielt die polnische
Kultur einen vorwiegenden Einfluß auf die Weiterentwickelung der kleinrussischen
Litteratur. Die
Wiedergeburt der klassischen
Studien sowie die deutsche
Reformation übten insofern eine
Einwirkung auf das südwestliche Rußland, als daselbst
Bibelübersetzungen und grammatisch-lexikalische
Schriften unternommen
wurden. Um die reinere
Lehre
[* 23] zu verbreiten, unternahm
Franz Skoryna aus
Polozk eine Übersetzung der
Bibel
[* 24] aus der
Vulgata in
ein kleinrussisches
Idiom, das ein Gemisch des weißrussischen
Dialekts mit kirchenslawischen
Formen und
Konstruktionen darstellt,
und ließ einzelne
Bücher derselben (1517-19) in
Prag,
[* 25] andre zu
Wilna
[* 26] (1525-28) drucken.
Auf dem Gebiet des Sprachstudiums ist das
Lexikon von
Laurentius Zizanij-Tustanowskij
(Wilna 1596) hervorzuheben, worin kirchenslawische
Wörter mittels kleinrussischer
Ausdrücke und Redeweisen erklärt werden. Unter den übrigen litterarischen
Produkten des 16. Jahrh.
ist das litauische
Statut
(»Statut lytowskij«) von großer Wichtigkeit, ein
Gesetzbuch, das von den polnischen
Königen zu gunsten des mit
Litauen vereinigten südwestlichen Rußland bewilligt ward und, in drei Redaktionen (1529,1566,
1588) abgefaßt, lange Zeit hindurch (bis 1783)
Rechtskraft behielt. Weil aber die
Aufklärung des
Volkes im 16. Jahrh. von der
Geistlichkeit vernachlässigt wurde, so übernahmen kirchliche Laienbrüderschaften die
Pflege des
Schulwesens.
Zuerst befaßten sie sich mit den Werken christlicher
Liebe; demnächst erwarben sie die Befugnis,
Schulen und
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Namentlich hielt man im Kollegium die mittelalterliche scholastische Gelehrsamkeit in hohen Ehren, weil man durch sie die jesuitische
Propaganda in Südrußland erfolgreich zu bekämpfen hoffte. Unter den Schriftstellern, welche diese
neue Richtung verfolgten, ist besonders Joannicius Galatowskij zu nennen, der nicht nur gegen die Katholiken, sondern auch
gegen Juden, Mohammedaner, Heiden und fast sämtliche Häretiker mit der Feder zu Felde zog. Kiewsche Gelehrte, wie Epiphanius
Slawyneckij, Demetrius Rostowskij u. a., haben hierauf die abendländische Kultur in das Großfürstentum Moskau verpflanzt,
welches bisher in starrer Abgeschlossenheit verharrte und sich von jeglichen Neuerungen im Kirchen- und Staatsleben fern hielt.
Der Einfluß der abendländischen Geistesrichtung zeigte sich auch bald in der Abfassung von dramatischen Mysterien und Krippenliedern.
Gleichwohl erhielten die Mysterien im sogen. Intermezzo eine nationale Färbung, und die dramatisierten Krippenlieder lehnten
sich nach und nach an die Weise der Volkspoesie an. Ein weiteres Kennzeichen dieser damals aufkommenden
Bildung und Gelehrsamkeit ist darin zu erblicken, daß einige schriftgelehrte Kosaken geschichtliche Annalen vom Standpunkt des
kleinrussischen Patriotismus verfaßten. So schrieb zunächst im 17. Jahrh. ein Anonymus, der sich Samowydec
(»Augenzeuge«) nannte, Annalen über Chmelnizkijs Befreiungskrieg sowie über die Fehden, welche in Kleinrußland
nach dessen Tod fortdauerten. Im Anfang des 18. Jahrh. beschrieben ebenfalls zwei Kosaken, Gregor Hrabjanka und Samuel Welyczko
(Velicko), dieselben Kriege.
Dennoch konnte sich weder in den mit Rußland vereinigten noch in den bei Polen verbliebenen Gebieten Kleinrußlands die heimatliche
Litteratur frei entwickeln. Russisch und Polnisch waren die einzig berechtigten Sprachen, nur ihrer durfte
man sich während des 18. Jahrh. in der Schrift bedienen. Die 20 Millionen betragende Seelenzahl der Kleinrussen wurde von Staats
wegen zum geistigen Tod verurteilt, und demzufolge war die kleinrussische Sprache nur ein Gemeingut des in Leibeigenschaft
schmachtenden gemeinen Volkes.
Dieser Zustand dauerte, bis Ende des 18. Jahrh. die gegenwärtige dritte Periode der Litteratur begann, die mit der allgemeinen
Wiederbelebung des Slawentums und dem Aufkommen der Volkslitteraturen zusammenfällt. IwanKotlarewskij (1769 bis 1838) war
es, welcher die schöne, wohlklingende Volkssprache der Ukraine zur Schriftsprache zu erheben wagte. Er
schrieb die travestierte »Äneide« und zwei dramatische Sittenbilder: »Natalka Poltawka« (»Natalie von Poltawa«) und »Moskal
czariwnyk« (»Der Soldat als Zauberer«).
Nächst ihm förderte die Hebung
[* 29] des tief gesunkenen Volkes der geniale GregorKwitka, pseudonym Osnowjanenko (1778 bis 1843).
Er schilderte in seinen 14 Erzählungen, unter denen namentlich der Roman »Marusja« ausgezeichnet ist,
das Naturleben der Landbewohner, eine den höhern Ständen
unbekannte ideale Welt. SeinerRichtung gehört auch Marko Wowczok
(Pseudonym der Marie Markowycz) an. Während die genannten Schriftsteller durch populäre Schilderung der sozialen Zustände
ihre Landsleute moralisch zu heben trachteten, feierte der größte kleinrussische Dichter, Taras Szewczenko (Schewtschenko,
1814-61), als abgesagter Feind der Tyrannei und des DespotismusFreiheit und Aufklärung auf nationaler
Grundlage und verfocht die erhabensten Ideen der Vaterlandsliebe. Demnächst erschien eine ganze Reihe namhafter Schriftsteller,
unter denen der Dichter und Geschichtschreiber Kulisz (geb. 1819) und die NovellistenIwan Lewickij (geb. 1838) und Al. Koniskij
(geb. 1836) den ersten Rang einnehmen.
Doch diese seit 1860 beginnende segensreiche Wirksamkeit zu gunsten der vaterländischen Aufklärung in Kleinrußland wurde
von der russischen Regierung kraft einer kaiserlichen Verordnung (Mai 1876) gewaltsam niedergeschlagen und streng untersagt;
somit ist gegenwärtig die Weiterentwickelung der kleinrussischen Litteratur auf Galizien angewiesen. Hier behauptet Marcian
Szaszkewycz (Schaschkewitsch, 1811-43) im litterarischen Leben dieselbe Stellung, welche IwanKotlarewskij
in der Ukraine eingenommen hat. Im Verein mit Jak. Holowackij (Golowatzkij) und Iwan Wahylewycz (Wagilewitsch) gab er in Ofen (1837)
den ruthenischen Almanach »Rusalka Dnistrowaja« heraus und erhob hierdurch die Volkssprache
zur Schriftsprache.
Die begeisterten lyrischen Dichtungen Szaszkewyczs verklangen in Galizien zunächst spurlos, bis 1848 das
Aufkommen des Nationalitätprinzips in Österreich
[* 30] auch das Aufleben der ruthenischen Litteratur veranlaßte. Es zeichneten
sich Nikolaus Ustyjanowycz (1811-85) als lyrischer und Anton Mohylnyckij (Mogilnitzkij, 1811-73) als epischer Dichter (»Skyt
Manjawskij«) aus. Auch Prosaschriftsteller in verschiedenen Fächern der Wissenschaft sowie in der Belletristik traten auf.
So hat Isidor Szaranewycz auf dem Gebiet der vaterländischen Geschichte viele gediegene Quellenstudien
geliefert, A. Barwinskij eine Reihe von populären Geschichtswerken, I. ^[Ivan] Werchratskij, der außerdem Dichter und Kenner
des kleinrussischen Sprachschatzes ist, mehrere naturgeschichtliche Werke und Aufsätze. E. Partyckij hat sich namentlich
durch Herausgabe der litterarischen Zeitschrift »Zorja« (1880-85) verdient gemacht; nebenbei
war er, wie auch Eugen Zelechowskij, als Lexikograph thätig (s. oben). Basil Ilnyckij schrieb Novellen und populäre geschichtliche
Erzählungen, Kornilo Ustyjanowycz (geb. 1840) schöne epische und dramatische Gedichte, Gregor Hryhorjewycz (Ceglinskij) gute
Lustspiele. Zur Förderung der Volksaufklärung trägt viel der 1868 gestiftete Verein Proswita bei, seit 1877 unter Leitung
E. Ogonowskijs, der außer mehreren populären Schriften auch wissenschaftliche Werke, namentlich einen
Kommentar zum »Igorlied« (1876) und Studien über ruthenische Sprache, veröffentlicht hat. - In der von Rumänen stark durchsetzten
Bukowina traten zwei Dichter auf: Joseph Fedkowycz (Fedkowitsch) und Danilo Mlaka (Isidor Worobkewycz). Des erstern zwischen 1860 und 1862 geschriebene
Gedichte zeichnen sich durch hohen poetischen Schwung sowie durch kraftvolle Sprache aus; seine Novellen
sind originell und volkstümlich.
Die reiche und anziehende kleinrussische Volkspoesie ist heute Gegenstand einer allgemeinen Bewunderung. Zu den ältesten
Produkten derselben gehören die sogen. Weihnachtslieder (koladky), in
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