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Nr. 77, 78). Auf der andern Seite muß aber die römische Kirche thatsächlich mit dem Protestantismus leben; sie muß in Staaten mit einer Bevölkerung [* 2] von verschiedenem Glaubensbekenntnis eine Art und Weise des Nebeneinanderbestehens (modus vivendi) finden, und sie muß namentlich einer protestantischen Regierung gegenüber ihre Bestrebungen und ihre ganze Haltung den staatlichen Verhältnissen anpassen oder doch mit diesen rechnen. Auf die Gestaltung dieser Beziehungen zwischen Staat und Kirche sind in diesem Jahrhundert ganz besonders zwei in Wechselwirkung stehende Entwickelungen von bestimmendem Einfluß gewesen, von denen die eine im Staate, die andre in der Kirche vor sich ging.
Der Staat gestaltete sich nämlich aus dem polizeilich-absoluten in den konstitutionellen Rechtsstaat um. Durch das Repräsentativsystem, durch die Öffentlichkeit des modernen Staatslebens, die Vereinsfreiheit und die Freiheit der Presse [* 3] wird dem Einzelnen oder dem Verein auch auf den gesetzgebenden und indirekt auf den verwaltenden Staatswillen selbst bestimmend einzuwirken ermöglicht; insbesondere sind zur Leitung der politischen Wahlen soziale Einflüsse benutzbar, so daß dann die leitende Genossenschaft, indem sie ihre Vertreter in die Gemeinderäte, Provinzialstände und Abgeordnetenkammern sendet, auf die Regierung der entsprechenden Kreise [* 4] einen Einfluß ausübt.
Die römisch-katholische Kirchengenossenschaft erhielt in einem so gestalteten Staatsleben einerseits größere Freiheit ihrer selbständigen sozialen Existenz und Entwickelung, anderseits eine größere politische Macht, als sie im absoluten Polizeistaat gehabt hatte. Daher trat der am Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland [* 5] herrschende Episkopalismus mehr und mehr gegen den wieder vordringenden Kurialismus zurück. Allerdings hatte diese Erscheinung auch einen keineswegs zu unterschätzenden idealen Grund in der Gesamtströmung, die als Entwickelung der romantischen Schule bezeichnet zu werden pflegt.
Nun hatte bei der Säkularisation von 1803 das Reich ein über die Neueinrichtung der deutschen Diözesen mit dem Papst abzuschließendes Konkordat in Aussicht genommen und die künftigen Bistümer zu dotieren versprochen. Als dies Reichskonkordat nicht zu stande gekommen war, schlössen nach der Restauration von 1815 die deutschen Einzelstaaten, welche katholische Unterthanen in nennenswerter Menge hatten, über Neueinrichtung und Dotierung der Bistümer Verträge mit Rom. [* 6]
Die Staatsregierungen gingen hierbei von einer kollegialistischen Auffassung, nämlich davon aus, es gelte die Reorganisierung solcher katholischer Religionsgesellschaften, deren je eine von den Katholiken eines Staats gebildet werde. Die Kurie hingegen hielt den Gesichtspunkt fest, daß sie eine einzige über die Welt ausgebreitete und nicht bloß die Katholiken, sondern rechtlich alle Christen umfassende Kirchengenossenschaft vertrete. Sie gab diesem Standpunkt, obwohl sie ihn gelegentlich als einen für jetzt unpraktischen bezeichnet hat, in jenen Verhandlungen unverhüllten Ausdruck; die Regierungen aber, die von der sozialen und staatlichen Entwickelung, welche bevorstand, noch keine Ahnung hatten, würdigten dessen politische Bedeutung damals nicht; Bayern [* 7] ging sogar so weit, sich in seinem Konkordat ihm äußerlich zu fügen, während Preußen [* 8] jedes Eingehen auf dergleichen Ansprüche ablehnte, indem es sich seine Kirchenhoheitsrechte und seinen Staatsangehörigen die Gewissensfreiheit ausdrücklich wahrte. Dies Beispiel ahmten die übrigen unterhandelnden protestantischen Regierungen nach.
In der Praxis blieben aber noch längere Zeit nach dieser Reorganisationsarbeit die polizeistaatlichen Zustände lebendig; der Umschwung der Gesinnungen, von welchem oben die Rede war, zeigte seine ersten Wirkungen nicht früher als in einer um Mitte der 30er Jahre mit dem Erzbischof von Köln, [* 9] Klemens August v. Droste, ausgebrochenen Streitigkeit. Die römische Kurie hatte von jeher ihr Prinzip, daß es Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen [* 10] nicht gebe, vielmehr der Protestant nichts als ein im Bann befindlicher Katholik sei, unter anderm auf die konfessionell gemischten Ehen angewendet, hatte aber in Deutschland, wenigstens im nördlichen, eine gelindere Praxis schon seit etwa 1740 teils zugelassen, teils ignoriert.
Diese Praxis war in den östlichen preußischen Provinzen günstiger für die Gleichberechtigung als in den später erworbenen westlichen ausgebildet. Als nun die Regierung, welcher die Parität ein der katholischen Kirche gegenüber gewissenhaft geübtes Staatsprinzip war, die Praxis der östlichen Bischöfe auch bei den westlichen erzwingen wollte, allerdings nicht ohne Fehler in der Ausführung, fand sie dort so allgemeinen und so heftigen Widerspruch, daß sie vor demselben (1838) zurückwich.
Die Regierung des bedeutendsten deutsch-protestantischen Staats gab auf diesem Punkt also die kirchliche Behandlung ihrer protestantischen Unterthanen als ungehorsamer Katholiken zu. Für die römischen Interessen war es dabei in hohem Grad günstig, daß um 1840 sowohl in Norddeutschland (Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. von Preußen) als in Süddeutschland (bayrisches Ministerium Abel unter König Ludwig I.) Männer an die Spitze der wichtigsten Staatsregierungen kamen, denen nicht weniges von den Forderungen der ultramontan geleiteten kirchlichen Genossenschaft sympathisch war.
So vorbereitet trat diese Genossenschaft in das Jahr 1848 ein. Die Verfassungsentwickelung in den deutschen Einzelstaaten war ihr im allgemeinen günstig: sie ließ ihr die privilegierte Stellung, vermöge deren zur Aufrechthaltung kirchlicher Ordnungen der weltliche Arm zur Disposition blieb, garantierte ihr genossenschaftliche Selbständigkeit und gab ihr die Freiheit, ihren sozialen Einfluß nach Kräften zu steigern und politisch zu verwerten. Aber sie beließ dem Staat sein kirchenhoheitliches Aufsichts- und Einschränkungsrecht, dessen Aufgeben die Bischöfe im Sinn des römisch-kurialen Systems gleichfalls gefordert hatten.
Nur duldete die preußische Regierung eine Reihe von Jahren hindurch thatsächlich, daß die Bischöfe die der Kirche eingeräumte bedingte Selbständigkeit als unbedingte handhabten. In Österreich [* 11] erlangte diese souveräne kirchliche Selbständigkeit vermöge des 1855 mit dem Papst abgeschlossenen Konkordats auch prinzipielle und rechtliche Anerkennung. Für Süddeutschland wurde Baden [* 12] zum Angriffspunkt erlesen, wo zwei Dritteile der Unterthanen einer protestantischen Landesherrschaft, die sich 1848 schwach gezeigt hatte, Katholiken waren.
Wirklich gelang es dem dortigen Landesbischof, nicht bloß die badische, sondern gleicherweise die benachbarte württembergische Regierung, nicht ohne österreichische Unterstützung, so einzuschüchtern, daß sie von der kirchlichen Souveränität des Papstes Hilfe erbaten und dieselbe in Verträgen zugesichert erhielten (1857, 1859), in denen, soviel dies in großenteils protestantischen Staaten für jetzt thunlich erschien, der Inhalt des österreichischen Konkordats reproduziert ward, während auch die hessen-darmstädtische Regierung zu einem ähnlichen, vorderhand ¶
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aber geheimen Abkommen sich hatte bereit finden lassen. Allein sowohl in Baden als in Württemberg [* 14] konnten die römischen Konventionen nicht durchgeführt werden, außer mit Zustimmung des Landtags; erst dort, dann hier wies dieser sie zurück, und auch das hessen-darmstädtische Abkommen mußte aufgegeben werden. Zugleich aber machten Baden (1860) und Württemberg (1861, 1862) einen prinzipiellen Fortschritt. Als nämlich im letzten Dritteil des vorigen Jahrhunderts die Freistaaten von Nordamerika [* 15] ihre Verfassung ausbildeten, hatten sie die Grenzen [* 16] der Kirchenfreiheit dahin bestimmt, daß jeder, also auch der römisch-katholischen Kirche alles erlaubt sei, was andern Privatvereinen nicht verboten werde, daß ihr aber auch keinerlei größere Rücksicht und Unterstützung zu teil werde als ihnen.
Die Kirche ward danach mit jeder Handels- oder Aktiengesellschaft auf gleichen Fuß gestellt. Dies aber auch in der nordamerikanischen Praxis nicht völlig durchgeführte System pflegt man als das der Trennung zwischen Staat und Kirche zu bezeichnen. Es wurde vorübergehend während der Revolution in Frankreich und später (1830) dauernd in Belgien [* 17] angenommen, und im J. 1848 war die Linke es auch in Deutschland einzuführen geneigt, während es von den Vertretern des Ultramontanismus abgelehnt wurde.
Diese Trennung war aber das Losungswort eines großen Teils der liberalen Partei geblieben, und jetzt acceptierten Baden und Württemberg das Wesentliche des amerikanischen Systems. Sie setzten die amerikanisch-belgische Beziehungslosigkeit zwischen Staat und Kirche in die beiderseitige Selbständigkeit um. Daß dabei der Staat das Verhältnis der von ihm getrennten, aber beabsichtigten Kirche einseitig zu bestimmen habe, verstand sich für Baden und Württemberg von selbst; denn ihre Gesetzgebung war aus der Erfahrung hervorgegangen, daß auf dem Weg des Vertrags mit Rom kein Friede zu erreichen sei.
Römischerseits setzte man jetzt das vor den Verträgen von 1857 und 1859 beobachtete Verfahren fort, erklärte diese Verträge, nicht aber die neue Staatsgesetzgebung für bindend, erreichte jedoch nicht, daß durch die Unzufriedenheit der katholischen Unterthanen die Regierungen zum Rückzug veranlaßt wurden, hat dann aber, da das katholische Volk empfand, daß seine Religionsfreiheit in der That nicht gekränkt war, in Württemberg wie in Baden, obwohl in verschiedenen Formen, sich in die nunmehrige Lage der kirchlichen Genossenschaft bis auf weiteres zu schicken begonnen. Unterdes verlor der Papst infolge des italienischen Kriegs von 1859 nicht nur den größten Teil des Kirchenstaats, sondern mußte es auch erleben, daß das neuentstandene Königreich Italien [* 18] gleichfalls das Prinzip der Toleranz proklamierte und das moderne Kirchenstaatsrecht annahm.
Diese Ereignisse veranlaßten Pius IX., je weniger die nunmehrige Praxis seinen Ideen entsprach, desto deutlicher diese Ideen selbst auszusprechen und damit der kirchlichen Genossenschaft das Programm aufzustellen, für dessen Durchführung der Kampf gegen den Staat zu kämpfen sei. Er that dies zunächst negativ, indem er in einer Encyklika vom die desfallsigen »Zeitirrtümer« verwarf und eine klassifizierte Übersicht (Syllabus) derselben hinzufügte.
Nachdem der Syllabus, von einigen Staaten abgewehrt, von andern, z. B. von Preußen, welches noch immer seine Politik des Gehenlassens fortsetzte, unbehindert, eine Zeitlang gewirkt hatte, auch mit dem Ausgang des preußisch-österreichischen Kriegs von 1866 die Hoffnung einer Wiederherstellung des alten, dienstpflichtigen Deutschen Reichs unter Österreich zu Grabe getragen war, wurde 1867 von Rom her die Absicht laut, den Syllabus ins Positive umsetzen, d. h. also das mittelalterliche Kurialsystem des Kirchenstaatsrechts im Kleide der Gegenwart proklamieren zu lassen. Zu diesem Zweck wurde 1868 ein allgemeines Konzil in den Vatikan [* 19] berufen und im Dezember 1869 eröffnet.
Dies Konzil hat unter völliger Verwerfung des Episkopalsystems die Bischöfe lediglich für unselbständige Bevollmächtigte des Papstes erklärt, also die absolute Zentralisation der kirchlichen Gesellschaftsverfassung vollendet und die von der päpstlichen Kurie schon seit langem gezogene, als Kirchenlehre aber bis dahin nicht anerkannte Konsequenz der Formel, daß der Papst Stellvertreter Christi sei, dahin angenommen: wenn er in diesem seinem Stellvertreteramt (ex cathedra) über Dogmen oder über Dinge des ethischen Gebiets (mores) Entscheidungen gebe, so seien solche Aussprüche göttliche Wahrheit. Da diese persönlich-päpstliche Infallibilität (Unfehlbarkeit) als ein bis dahin von einem Teil der Kirchenlehrer nur verkanntes, in der That aber von jeher gültig gewesenes Dogma charakterisiert worden, also auch auf alle ältern ex cathedra gegebenen Papstentscheidungen anzuwenden ist, so bedarf es jetzt der Sache nach jener ursprünglich beabsichtigten Umsetzung des Syllabus nicht mehr; denn die Bulle »Unam sanctam« des Papstes Bonifacius VIII. von 1302, welche die Unterordnung des weltlichen Regiments unter die kirchliche Autorität zum Gegenstand hat, und die übrigen päpstlichen Dekretalen des Mittelalters, in welchen das kuriale System dokumentiert wird, haben nun ohnehin die Bedeutung göttlicher Wahrheiten erhalten.
Der Partei, welche behauptet, daß diese Resultate des Vatikanums nichts Neues seien, ist zuzugeben: sie wurden von kurialer Seite schon seit langem für die richtige Lehre [* 20] erklärt. Aber neu ist, daß sie, abgesehen von der kleinen Anzahl sogen. Altkatholiken, als solche von der katholischen Gesamtkirche offiziell anerkannt werden. Jene Eine über die Welt ausgebreitete katholische Kirchengenossenschaft bekennt also gegenwärtig als einen Fundamentalgrundsatz, für welchen sie genossenschaftlich eintritt, daß in allem, was der Papst für Sache der Genossenschaft erklärt, sie nur ihm, nicht dem Staat zu gehorchen habe, während anderseits der Staat ihre Genossenschaftsordnungen, mit seinem weltlichen Arm dienend, aufrecht zu erhalten verpflichtet sei.
Hiergegen würde der Staat vielleicht nichts zu thun brauchen, würden nicht für die Genossenschaft Gebiete dabei in Anspruch genommen wie das der Ehe, der Schule, der Gewissensfreiheit, von denen er sich nach seinen eignen Pflichten nicht verdrängen lassen darf. Der Staat, sei die Regierung katholisch oder protestantisch, vermag wohl dem Katholiken als Einzelnen volle Freiheit der Religionsübung zu gewähren;
er vermag der kirchlichen Genossenschaft und ihrer institutiven Entfaltung freieste soziale Bewegung zu gestatten, soweit sie jenen religiösen Bedürfnissen entgegenkommt;
er hat jene wie diese Freiheit zu schützen;
aber er muß weiter gehenden Forderungen, wenn er sich nicht selbst aufgeben will, widerstehen und Pflichten und Rechte der Staatssouveränität gegen die Ansprüche der kirchlichen Gesellschaft verteidigen.
Sobald daher die Zwecke, für welche das Vatikanum vorbereitet wurde, 1869 verlautbarten und die dem päpstlichen Hofe von verschiedenen Seiten zugegangenen Warnungen kein Gehör [* 21] fanden, faßte die ¶