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dazu nicht gekommen ist u. nicht kommen konnte, dafür sorgte Luther: als er um seines »Est« willen in Marburg die dargereichte Bruderhand Zwinglis zurückstieß, als er alle politischen Pläne des Landgrafen von Hessen mit seiner Theorie von der Christenpflicht des leidenden Gehorsams durchkreuzte, als er nach allen Richtungen jene unheilvolle sächsische Politik einleitete, die selbst noch im Dreißigjährigen Krieg ihre Freundschaft sogar einem mit Feuer und Schwert wütenden Fanatiker auf dem Kaiserthron fast aufgedrungen hat.
Dafür sorgten ferner die lutherischen Theologen, als sie, während die reformierten Christen in Italien, Frankreich und England Verfolgungen erlitten und eine glorreiche Heldenzeit feierten, diese selben Bekenner und Blutzeugen verketzerten, die Flüchtlinge verjagten, alle an Calvin sich annähernden Richtungen und Bestrebungen innerhalb der sächsischen Kirche mit barbarischer Roheit niedertraten, alle Gläubigen, die sich nicht an das 1000 Jahre zuvor entstandene dogmatische System des Byzantinismus gebunden erachteten, der bürgerlichen Obrigkeit zur Ausrottung mit Feuer und Schwert empfahlen.
Die ganze Betriebsamkeit dieser Theologie ging während der zweiten Hälfte der Reformationszeit und auch durch das ganze 17. Jahrh. auf in widerwärtigen und unfruchtbaren dogmatischen Kämpfen, in innern und äußern Kriegen um die Herrlichkeit der »reinen Lehre«, wobei sich nicht selten zeigte, wie noch im Beginn des Dreißigjährigen Kriegs der Hofprediger des Kurfürsten von Sachsen bezeugte, daß die Kirche des lautern Wortes sich viel eher mit den Katholiken vertragen könne als mit den »Calvinisten, welche auf 99 Punkten mit den Arianern und Türken übereinstimmten«. Es gibt viele dürre Partien der Kirchengeschichte, aber wenige, wo das Treiben der offiziellen Vertreter des Christentums kläglicher, ja verächtlicher erschiene.
Man würde es insofern ein verdientes Schicksal nennen können, wenn der deutsche Protestantismus im Dreißigjährigen Krieg, in den er sich ebenso kopflos hineintreiben ließ, wie er ihn dann planlos und stets mit zersplitterten Kräften geführt hat, unterlegen wäre. In der That hat er seine Rettung auch allein dem Eingreifen der Kronen Schwedens und Frankreichs zu verdanken gehabt. Der Westfälische Friede (1648), welcher als die letzte unter den großen Epochen der Kirchengeschichte gilt, brachte dem Deutschen Reich eine zweifache Staatsreligion nach dem Grundsatz voller gegenseitiger Rechtsgleichheit, wobei die Reformierten den Katholiken gegenüber als Protestanten angesehen wurden.
Aber nur notgedrungen, weil die Völker in Verzweiflung nach Frieden schrieen und alle Kriegsmittel erschöpft waren, erkannten beide Kirchen ihren Besitzstand gegenseitig an. Im Lauf des Kriegs selbst waren allerdings fast nur noch politische Gesichtspunkte an die Stelle der ursprünglich wirksamen religiösen getreten, und die großen Kriege, welche seit 1648 Europa erschüttert haben, finden ihre Erklärung im Widerstreit nicht mehr der konfessionellen, sondern der staatlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Interessen.
Aber im Bewußtsein des Volkes sind doch die schlesischen Kriege Friedrichs d. Gr. und der deutsche Krieg von 1866 vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des katholisch-protestantischen Antagonismus aufgefaßt worden. Der Papst hat seinen Protest gegen den Westfälischen Frieden im Protest gegen den Wiener Frieden fortgesetzt, und die Rede, daß der Dreißigjährige Krieg nur unterbrochen, nicht beendet sei, taucht im neuen Deutschen Reich mit größerer Keckheit auf, als sie jemals im alten vernommen worden war.
Sechste Periode: bis zur Gegenwart.
Die das 17. Jahrh. füllende Periode der Orthodoxie läßt die treibenden Gedanken der Reformation, ihre Welt- und Lebensauffassung nur noch in äußerst verkümmerter Gestalt erkennen. Es war die Folge der aufgenötigten Streitlage wider die römische Kirche einerseits, wider den Anabaptismus und die radikale Reformation anderseits, es war aber nicht minder auch die Folge selbstgeschaffener Wirrsale und endloser, selbstmörderischer Lehrstreitigkeiten im Innern, wenn wenigstens die lutherische Kirche Deutschlands nur als Staats- und Landeskirche, richtiger als eine staatlich eingeführte und aufrecht erhaltene, die Laienwelt beherrschende theologische Schule Bestand gewonnen hatte. Nur in der andächtigen Litteratur, zumal im Kirchenlied, offenbarte sich noch etwas von der Ursprünglichkeit evangelischer Religiosität. Im übrigen schien sich die Kraft der reformatorischen Bewegung im Dogmatismus erschöpft zu haben; Erstarrung und Veräußerlichung bedrohten die neue Kirchenbildung, welche dem Feind Widerstand geleistet hatte, mit Verödung in sich selbst.
Nunmehr sind es zwei aufeinander folgende, sich gegenseitig aufhebende Schwingungen, welche auf der Linie der kirchlichen Entwickelung von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrh. unterschieden werden können. Zunächst eine solche, welche die konfessionelle Spannung ermäßigt, teilweise aufhebt in der Richtung auf Wahrung der gemeinsamen Kulturgüter, dann eine solche, welche unter mehr oder weniger grundsätzlicher Mißachtung der letztern auf Wiederherstellung des kirchlichen Bewußtseins bis in seine extremsten, unverträglichsten Spitzen hinaus losarbeitet.
Die erstere Strömung erzeugte sich zuerst in England aus dem Widerwillen an den religiös motivierten Exzessen der Revolution und Reaktion; sie trug sich über nach Frankreich, wo im schroffen Kontrast zu der erbarmungslosen Protestantenverfolgung Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. die bis zum Atheismus und Materialismus fortschreitende Aufklärung der Encyklopädisten zu einer Großmacht heranwächst, die sich in der Revolution zeitweilig als nicht bloß im Grundsatz kirchenfeindlich, sondern auch thatsächlich kirchenzerstörend bewähren sollte. In Deutschland brachte der Rückschlag auf die Glaubenswut, der man den mörderischen Krieg verdankt hatte, zuerst die mildere Form des Pietismus (s. d.), nachher die Popularphilosophie und den Rationalismus (s. d.). Auf Einschläferung der konfessionellen Gegensätze wies aber auch die Thatsache hin, daß infolge schon der schlesischen, mehr noch der französischen Kriege, besonders seit 1803 Territorien geschaffen wurden, welche Katholiken und Protestanten in großer Zahl umfaßten, so daß an die Stelle des althergebrachten Staatskirchensystems mehr und mehr die Forderungen traten, welche sich aus dem Wesen eines paritätisch gewordenen Staats ergaben.
Zur vollen und reinlichen Durchführung ist dieses moderne System schon deshalb nicht gekommen, weil der Kampf gegen das je länger, desto unverhohlener wieder mit allen mittelalterlichen Ansprüchen auftretende Rom in beständigen Schwankungen verlief. Gewöhnlich mit viel Ungeschick und selten mit Glück geführt, hat dieser Kampf die besten Kräfte verzehrt, ohne daß Aussichten auf einen andern Frieden vorhanden wären als einen solchen, der mit gründlicher Unschädlichmachung der einen oder andern Partei verbunden wäre.
Aber nur als großes Kulturprinzip betrachtet, steht der Protestantismus in unbedingtem
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Gegensatz zu dem je länger, desto ausschließlicher römisch gewordenen, von dem Geiste des Jesuitismus und vielfach auch von seinen Händen geleiteten Katholizismus, bez. Ultramontanismus. In theologischer Beziehung dagegen hat sich protestantischerseits wenigstens in der offiziellen Kirchlichkeit als Gegenschlag auf Aufklärung und Rationalismus, Revolution und Radikalismus zunächst unter den Auspizien der romantischen Geistesströmung und der auf die Napoleonische Ära folgenden Restaurationspolitik eine so weit gehende Rückbewegung vollzogen, daß die Lebensbedingungen beider Richtungen, der ultramontan-katholischen und der orthodox-protestantischen, vielfach dieselben geworden sind.
Die nämliche Staatsräson begünstigte beide zugleich; dieselben einflußreichen Persönlichkeiten halfen beiden immer wieder auf, so oft auch Geschichte und Naturwissenschaften das Todesurteil über sie gesprochen haben mochten; dieselbe Trägheit und Stumpfheit der großen Massen ist es, worauf beide ihr Machtgefühl, ihre Siegesgewißheit, ihre Verachtung aller der mannigfachen Mächte gründen, die ihnen im geschulten und gebildeten Bewußtsein der Zeit unversöhnlich gegenüberstehen.
Aber unter letztern Mächten ist eine, welche schon jetzt der Kirche den Rang im Herzen der Völker streitig macht und ihr vielleicht auch auf die Dauer gewachsen bleiben dürfte: es ist der Drang nach nationaler Selbständigkeit, wie er seit der Losreißung Nordamerikas, seit der französischen Revolution, seit der italienischen und deutschen Staatenbildung zum Mittelpunkt aller Weltereignisse, zur Signatur der neuern Zeit geworden ist. Als eine der mächtigsten Wirkungen dieses Zuges der Zeit berührt die Auflösung des Kirchenstaats (1870) unsre unmittelbare Gegenwart. Aber auch der französische Klerus wird auf die Dauer seines Gallikanismus (s. d.) nicht vergessen bleiben können, und in Deutschland wird sich trotz alles guten Willens, sie zurückzudrängen, immer wieder aufs neue die Frage stellen, wer Herr ist - Kaiser oder Papst.
Eine Gefahr von ganz andrer Art wieder hat die in jener unsichtbaren Macht vor sich, welche die verselbständigte, dem religiösen Gängelband angeblich oder wirklich entwachsene Sittlichkeit der modernen Menschheit, das mehr künstlerisch und wissenschaftlich als religiös gesättigte Kulturleben der Gegenwart, die alle Dogmatik im Grundsatz verwerfende neuere Philosophie und moderne Weltanschauung, der historische Sinn unsrer Zeit, der das Christentum im Zusammenhang mit der allgemeinen Geistesentwickelung des Geschlechts und nach Analogie andrer Weltreligionen zu verstehen sucht, konstituieren.
Thatsächlich wird die von Strauß aufgeworfene Frage: »Sind wir noch Christen?« von vielen Tausenden, welche sich äußerlich zur Kirche halten, mit nein beantwortet, und ebenso sind ihrer Tausende, welche die Frage zwar aufrichtig bejahen, aber doch der Meinung sind, das Christentum werde die Kirche überleben, die Kirche des 18. und 19. Jahrh. sei nur noch der Mond, nicht mehr die Sonne, und zwar der Mond im abnehmenden Licht; sie müsse allmählich einige ihrer Funktionen an die staatliche, andre an die künstlerische Gemeinschaft übergeben etc. Wenn solche Stimmen recht behalten sollten, so ständen wir jetzt so ziemlich vor dem Ende der lebendigen Kirchengeschichte; künftige Jahrhunderte würden nur noch Verwesungsgeruch empfinden, wo frühere erquickenden Lebensduft atmeten.
Zieht man jedoch diejenigen Triebe und Instinkte in Betracht, welche die ungeheure Mehrheit auch der zivilisierten Menschheit als zugkräftig empfindet, von welchen sie sich thatsächlich bestimmen läßt, so erscheinen derartige Fragen wenigstens für jedwede für uns absehbare Zukunft doch nur fast als rein akademische Erörterungen. Die Zeiten des »Kulturkampfes«, zumal des beendeten, sind jedenfalls solche, die noch ganz und voll in die Kirchengeschichte hineingehören und ebenso reichlichen wie ernsthaften Anlaß bieten, diese Kirchengeschichte, welche das Verständnis der Gegenwart eröffnet, sich recht genau anzusehen und ihre Weisungen verstehen zu lernen.