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begriffliche, teils historische Ableitung zur Orientierung in dem Gewirr von Ansichten und Meinungen, den das schon nach Luthers Urteil »blinde, undeutliche« Wort veranlaßt hat.
I.
Lehre von der Kirche.
Wenn die
Religion ein wesentliches
Moment in dem geistigen Gesamtleben der Menschheit ist, wie sie sich denn in dem bisherigen
Verlauf der Geschichte als umfassendstes
Thema derselben erwiesen hat: so wird es auch als eine dem Menschengeist
innewohnende allgemeine
Notwendigkeit bezeichnet werden müssen, daß er sich behufs
Lösung dieses Teils seiner Aufgabe eine
eigne, also ausschließlich religiöse Gemeinschaftsform schafft, im Unterschied zu politischen, sozialen, wissenschaftlichen,
künstlerischen Gemeinschaftsformen. In diesem rein idealen
Sinn ist die Kirche
der
Organismus des religiösen
Lebens der Menschheit überhaupt.
Wirklich vorhanden ist diese
Ecclesia (s. d.) immer nur in einer
Gemeinde, wie
Staat und
Volk immer nur in einer
Nationalität
mit bestimmter Staatsform. Während aber in der vorchristlichen Zeit das religiöse und das politische
Leben der Menschheit
ununterscheidbar zusammenfallen und ineinander aufgehen, hat das
Christentum eine über die nationalen
Gegensätze übergreifende, auf geistigen Zusammenschluß der Menschheit abzweckende, rein religiöse
Gemeinschaft eingeführt,
und es ist daher kein
Zufall, daß dem
Wort Kirche
trotz seiner allgemeinen Bedeutung doch eine spezifische Beziehung auf die
christliche Religion
anhaftet (s.
Christentum).
Der leitende
Gedanke bei der theoretischen Durchbildung des
Begriffs der Kirche
ist der eines gesellschaftlichen
Wunders, welches dem
Wunder der
Person
Christi als des menschgewordenen Gottessohns entspricht und seine Fortsetzung darstellt.
In diesem
Sinn führen die
Briefe an die Epheser und
Kolosser das sonst von
Paulus gebrauchte
Bild vom Leib, darin
Christus
der
Geist ist, dahin weiter, daß die als eine die irdische und überirdische
Welt umfassende
Gemeinschaft der
Geister erscheint,
wovon der im
Himmel
[* 2] erhöhte
Christus das
Haupt ist.
Damit war die
Vorstellung eines sinnlich-übersinnlichen
Organismus gegeben, welcher sein eigentliches
Wesen in der überirdischen
Welt, seine irdische
Erscheinung aber in den einzelnen
Gemeinden und in der Gesamtheit aller dieser einzelnen
Gemeinden hat. Dies das wesentliche und stehende
Schema, in welches dann alle christlichen Religionsgenossenschaften und
Lehrbegriffe
ihre eigentümlichen Auffassungen vom
Wesen der Kirche
hineingezeichnet haben, indem sie bald mehr das eine, bald mehr das andre
Moment hervorheben oder ihre Sonderstellung durch die Eigentümlichkeit der
Verbindung beider
Momente bezeichnen.
Dieselbe als ein
Verhältnis fast durchgängiger Einerleiheit aufzufassen, ist von jeher der hervorstechende Charakterzug
des
Katholizismus (s. d.) gewesen. Dieser versteht unter Kirche
unmittelbar
die irdische
Erscheinung selbst, die mit wunderbaren
Kräften aus der übersinnlichen
Welt ausgestattete, angeblich von
Christus
selbst gestiftete Heilsanstalt, deren wesentliche
Organe die
Bischöfe als Nachfolger der
Apostel sind.
Die Kirche
ist ihm die christliche
Gesellschaft schlechthin.
Daß außer ihr, die am liebsten unter dem
Bild einer
Mutter oder einer
Arche
Noah, eines Schiffleins
Christi gedacht wurde, keine
Rettung zu finden, in ihr aber die
Fülle des
Heils sei, wurde sowohl den
Heiden als den Häretikern gegenüber
einstimmig behauptet.
Cyprian und
Augustin sind die Hauptschöpfer dieses Kirche
nbegriffs, auf dessen
Ausbildung namentlich
das Aufblühen der Kirche
unter dem
Schutz des
Staats sowie der
Sieg des Augustinismus über die
Lehre
[* 3] der
Pelagianer,
Manichäer und
Donatisten einwirkten. Im Streit mit den letztern erkannte
Augustin in der Kirche
die Gesamtheit aller Getauften
und beförderte durch kecke Vereinerleiung des in der Wirklichkeit gegebenen
Organismus mit dem
Reiche Gottes die katholische
Weltanschauung, welche, von der
Theologie der römischen
Bischöfe auf den dortigen
Primat ausgedehnt, die
Hierarchie des
Mittelalters
vorbereiten und vollenden half.
Das geschichtliche
Gewächs des den Weltstaat sich dienstbar machenden und die
Nationen erziehenden
Katholizismus
wurde hier gleichsam mit
Haut
[* 4] und
Haaren zum Glaubensgegenstand erhoben. Dem
Katholizismus ist die Kirche
die unmittelbar gegenwärtige
Erscheinung der überirdischen
Ordnung
Gottes, begabt mit sichtbarem Oberhaupt, unfehlbarer
Lehre, wunderbaren
Gnadenmitteln,
über alle sonstigen
Ordnungen des Menschenlebens so erhaben wie der
Geist über das
Fleisch, aus himmlischen
Regionen herabgesenkt auf die
Erde, um möglichst viele
Menschen auf
Erden kraft der
Sakramente zu retten und in die übersinnliche
Welt emporzuheben. In diesem vom römischen
Katechismus aufgenommenen Unterschied von streitender und triumphierender Kirche begegnet
uns die letzte schwache
Spur einer Unterscheidung von Wirklichkeit und
Ideal.
Aus der notwendigen Unterscheidung im Gegenteil eine Trennung zu machen, die ideale Gemeinschaft loszureißen von der empirischen Kirche, war der gemeinsame Gedanke aller reformatorischen, aber auch aller schwärmerisch aufgeregten Sekten des Mittelalters. Der Gegensatz zwischen äußerlicher und innerlicher Auffassung des Begriffs der Kirche trat in dem Kampf zwischen Katholizismus und Protestantismus in der Weise hervor, daß nach römisch-katholischer Ansicht die in der sichtbaren, unter dem Papst als ihrem Oberhaupt vereinigten Gemeinschaft der auf ein äußerliches Bekenntnis und auf einen und denselben Gebrauch der Sakramente hin Getauften, also in der empirischen rechtlichen Abgrenzung der Glaubensgemeinschaft, nach protestantischer Ansicht aber vornehmlich in der »Gemeinschaft der Heiligen« (s. d.) besteht, an die, als an die der Erlösung durch Christus entsprechende Gesamtwirkung, man glaubt, die man aber nicht sieht.
Nach der einen Ansicht gelangt der einzelne durch die Kirche zu Christus, nach der andern durch Christus zur Kirche. Doch lenkt auch die protestantische Dogmatik vom absoluten Idealismus ein, indem sie unsichtbare und sichtbare Kirche unterscheidet und beide im Zusammenhang miteinander hält durch die Lehre von den Merkmalen der wahren Kirche. Als solche gelten, zumal dem Luthertum, reine Lehre und stiftungsgemäße Sakramentsverwaltung. Da immer wird »Gemeinschaft der Heiligen« stetig erzeugt und die unsichtbare Kirche am meisten gefördert, wo in einer sichtbaren das Wort Gottes unverfälscht gelehrt, die Sakramente einsetzungsgemäß verwaltet werden, d. h. die lutherische Kirche erschien als der verhältnismäßig adäquateste Ausdruck der Idee der Kirche. Die reformierte Lehre unterscheidet sich davon nur durch Ausnahme ethischer Merkmale und disziplinarer Bestimmungen. Gegen die Anknüpfungspunkte, welche dieser protestantische Kirchenbegriff im katholischen fand, bildeten zunächst wieder die Mystiker und Enthusiasten in ähnlicher Weise wie die mittelalterlichen Sekten eine fortwährende Opposition. Anderseits offenbarte allmählich der Protestantismus eine grundsatzmäßig auf Umsetzung des Christentums aus der ¶
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kirchlichen in die weltlichen Form gerichtete Tendenz; die Religion selbst fing an, sich von der Theologie zu emanzipieren, und es fiel der Kirche immer schwerer, ein sicheres und klares Bewußtsein von ihrer Existenz in sich zu tragen. Die Periode der Aufklärung sah geradezu in jeder Selbständigkeit des kirchlichen Lebens dem Staat gegenüber etwas Hierarchisches. Dieser Mangel an allgemein kirchlichem Leben aber bewirkte, daß in den einzelnen der Gemeinschaftstrieb sich um so stärker regte, und so entstanden Kirchlein in der Kirche, z. B. die Brüdergemeinde, während andre, z. B. Swedenborg, an der Gegenwart verzweifelnd, die Kirche eines neuen Jerusalem [* 6] in ihre idealvisionäre Welt hineinbauten.
Die Reaktion des 19. Jahrh. aber belebte sofort auch wieder den Kirchenbegriff in allen christlichen Denominationen, und so hat namentlich auch die neuere protestantische Theologie seit Schleiermacher das Dogma von der Kirche zu bearbeiten und es selbst über die noch unvollkommenen Anfänge im Reformationszeitalter hinauszuführen versucht. Mit der Ausbildung des Dogmas hält auch die Ausbildung des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung gleichen Schritt.
II. Geschichtliche Entwickelung der christlichen Kirche.
(Vgl. hierzu die Beilage »Zeittafel der Kirchengeschichte«)
Erste Periode: bis auf Konstantin den Großen.
Eine richtige Würdigung des kirchengeschichtlichen Prozesses setzt vor allem Einsicht in die religionsgeschichtlichen Thatsachen voraus, daß die Wirkungen der schöpferischen Persönlichkeiten, nach welchen die großen Epochen der religiösen Entwickelung benannt zu werden pflegen, nur sehr teilweise zusammenfallen mit dem, was auf ihren Namen hin gethan und gewirkt, gesprochen und gedacht wird. Auch die christliche Kirchengeschichte stellt nichts weniger als geradlinige Entwickelung von Jesus oder von Paulus aus dar, sondern einen der kompliziertesten Prozesse, welche wir kennen.
Die christliche Kirche ist im eminenten Sinn des Wortes »das Ding mit den vielen Ursachen«, davon die Philosophie weiß, und es bedarf einer nicht eben alltäglichen Vorurteilslosigkeit und Unbefangenheit, um jedem der hier mitwirkenden Faktoren das Seine zu geben. Das Evangelium Jesu und die gemeinsame apostolische Verkündigung kommt hier allerdings in erster Linie, darum aber nichts weniger als in einziger Weise in Betracht. Denn mit dieser Predigt vom Reiche Gottes (s. d.) ist noch lange nicht dasjenige gemeint gewesen oder gar ins Leben gerufen worden, was man Kirche nennt. Im Gegenteil war es der Grundirrtum einer dogmatisch bedingten Geschichtsdarstellung und zwar ebenso auf protestantischer wie auf katholischer Seite, daß die Entstehung der Kirche mit der Entstehung des Christentums (s. d.) gegeben gewesen sei.
Die christlichen Gemeinden waren vielmehr ursprünglich lediglich Verbände zu einem heiligen Leben auf Grund einer gemeinsamen Hoffnung und Sehnsucht nach demnächstiger Weltvollendung durch den wiederkehrenden Messias. Von seinen Sprüchen, die zu kühnem Gottvertrauen und alles aufopfernder Bruderliebe mahnten, von seinen Gleichnissen, die das leise Nahen einer göttlichen Lebensordnung, eines »Himmelreichs«, abbildeten, von seinen Weissagungen, welche demselben Reich ein »Kommen mit Macht« noch innerhalb der Lebzeiten der Zuhörer in Aussicht stellten, zehrten diese Gemeinschaften.
Die eigne Produktionskraft aber that sich Genüge und wirkte sich aus in einem kräftig pulsierenden Leben des Enthusiasmus, der Inspiration, der Prophetie, welches sich auch durch die grundsatzmäßige Gebundenheit an die Autorität des Alten Testaments nicht sehr beengt fühlte. Die ersten Christengemeinden waren Gemeinschaften von Inspirierten mit beweglichen, mannigfaltig nüancierten Verfassungsformen, die bald mehr an die jüdischen Synagogenverbände, bald mehr an die griechischen Kultvereine und römischen Kollegien erinnerten. Das Gemeindeleben selbst trug ein hervorstechend sozialistisches, aber durch und durch religiös bedingtes Gepräge; der heidnischen Kulturwelt stand es in Erwartung eines baldigen Weltendes durchaus ablehnend gegenüber.
Erst etwa seit Mitte des 2. Jahrh. sehen wir die zielbewußtern, von praktischen Trieben beseelten und allmählich vom Bewußtsein einer Weltmission durchdrungenen unter diesen Gemeinden im römischen Weltreich allmählich sich zusammenfinden in jener nach außen immer weiter reichenden, nach innen immer fester gefügten Konföderation, welche sich die »Großkirche«, die »allgemeine«, die »katholische Kirche« (s. d.) nannte. In der Mitte des 3. Jahrh. steht dieselbe wesentlich ausgewachsen und fertig vor uns.
Aber wie ganz andre Züge weist das Christentum nunmehr in dieser neuen Gestalt auf, in welcher die ursprüngliche Abgeschlossenheit gegen die Welt, wenn nicht in der Theorie, so doch faktisch bereits aufgegeben war! Was uns hier entgegentritt, das ist ein mit festen, hierarchisch gegliederten Verfassungsformen ausgestattetes Gemeinwesen, eine Kultusanstalt mit Opfer und Priestertum, neben der alttestamentlichen jetzt auch eine neutestamentliche Offenbarungsurkunde, ein nicht bloß von Propheten, sondern auch von Aposteln geschriebener Kanon (s. d.), ein bereits in Taufbekenntnis und Glaubensregel formulierter Glaube, eine eigentliche Theologie (s. d.), und in dem allen ist zumeist griechisch-römischer Geist spürbar, nicht etwa jüdischer.
Der hellenische Geist ist in der Abwandlung, die er damals erfahren hatte, zu allen Poren des neuen Gemeinwesens eingeströmt, der ursprüngliche Enthusiasmus, die aus eigner Fülle schöpfende apokalyptische Begeisterung ist verduftet. Eine Kirche ist geworden, welche nicht mehr lediglich eine Gemeinschaft der Hoffnung und der Zucht, des Glaubens und Liebens, sondern vor allem einen Staat im Staate darstellt, nominell gegründet auf das Evangelium Jesu, thatsächlich eine ganz eigentümliche Organisation religiös empfindender, von gemeinsamen Idealen zehrender Massen, die sich berufen wußten, in der großen Konkurrenz der verschiedensten Religionsweisen, Kulte, Mysterien und Schulen, welche sich um den geistigen Besitz des römisch-griechischen Weltreichs stritten, die Palme [* 7] davonzutragen.
Demnach repräsentierte die »Großkirche« eine hierarchische Heilvermittelungsanstalt für die Massen, und die sittlichen Anforderungen an ihre einzelnen Mitglieder erlitten notwendigerweise eine immer größere Einbuße an Idealität. Aus den Gemeinden des Urchristentums schloß eine Todsünde aus; nur Aspiranten des Himmelreichs kamen in Betracht, nicht Weltbürger, Staatsdiener, Gelehrte, Industrielle, Künstler, Soldaten etc. In der Gemeinschaft der katholischen Kirche dagegen konnte jeder seine Stelle finden, sofern er nur sich gewissen Ordnungen und Regeln unterwarf, gewisse Bekenntnisse anerkannte, gewisse Übungen praktizierte. Individuelle Inspiration, Prophetie auf eigne Hand [* 8] war nunmehr verboten, wie auch Kundgebungen einer allzu unbedingten Hingebung dem Mißtrauen verfielen, ohne daß darum die höchsten Güter des Christentums geradezu unzugänglich geblieben wären. Die Kirche ist das für eine Rolle in ¶