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Metaphysik zu teil, die er mit der Verteidigung der Dissertation »De mundi visibilis atque intelligibilis forma et principiis« eröffnete. In derselben war die Wurzel [* 2] seiner eignen Philosophie, die transzendentale Ästhetik, und damit die Kritik der reinen Vernunft gleichsam als Programm und in nuce enthalten, so daß diese wichtige Schrift als Beginn seiner dritten, den Skeptizismus Humes wie vorher den Dogmatismus Wolfs hinter sich lassenden Periode betrachtet werden kann.
Dennoch währte es noch mehr als zehn Jahre, ehe sein lange überlegtes, zuletzt in dem kurzen Zeitraum von vier Monaten niedergeschriebenes Hauptwerk: »Die Kritik der reinen Vernunft« (1781, 2. veränderte Aufl. 1787),
ans Tageslicht trat, welchem in kurzen Zwischenräumen die übrigen Hauptwerke: 1783 die »Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, 1785 die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 1786 die »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften«, 1788 die »Kritik der praktischen Vernunft«, 1790 die »Kritik der Urteilskraft«, 1793 die »Religion innerhalb der Grenzen [* 3] der bloßen Vernunft«, 1797 die »Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre« und die »der Tugendlehre«, 1798 »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, nachfolgten.
Kleinere Abhandlungen waren: »Über die Verschiedenheit der Menschenrassen« [* 4] (1775);
»Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (beide 1784);
die großes Aufsehen erregende »Rezension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« von 1785, welche Herder so übel aufnahm, daß er seitdem den vertrautern Verkehr mit Kant vermied;
die beiden Abhandlungen: »Über die Vulkane [* 5] im Mond« [* 6] und »Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks« (gleichfalls 1785);
»Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte«;
»Was heißt sich im Denken orientieren?«;
»Bemerkungen zu Jacobis Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden« (1786),
»Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie« (1788);
»Über Schwärmerei und die Mittel dagegen« (1790);
»Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee« (1791);
»Über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolf« (aus demselben Jahr);
»Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (1793);
»Etwas über den Einfluß des Mondes auf die Witterung«, »Das Ende aller Dinge«, »Über Philosophie überhaupt« (sämtlich von 1794);
»Zum ewigen Frieden, ein philosophischer Entwurf« (1795);
»Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie«, »Verkündigung eines nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie« (beide 1796);
»Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen«, in welcher als strenger Wahrheitsfreund die Notlüge unbedingt verwirft, »Der Streit der Fakultäten«, »Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein« (sämtlich 1798).
Aus einem angeblich in Kants Nachlaß vorgefundenen Manuskript: »Vom Übergang von der Metaphysik zur Physik«, haben neuerlich Reicke und A. Krause Bruchstücke und Auszüge veröffentlicht.
Kants System erregte bald nach dem Erscheinen der ersten Hauptwerke in allen Teilen Deutschlands, [* 7] auch in den katholischen, sowie im Ausland, insbesondere in England und in den Niederlanden, Sensation. Dagegen witterte man in seinem Vaterland Preußen [* 8] nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms II., als der freisinnige Minister v. Zedlitz durch den vormaligen Prediger Wöllner (1788), den Urheber des Religionsedikts, ersetzt worden war, in Kant einen gefährlichen Neuerer.
Nach der Herausgabe seiner »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« erschien 1794 eine Kabinettsorder, welche deren Verfasser wegen »Entstellung und Herabwürdigung des Christentums« einen Verweis erteilte und allen theologischen und philosophischen Dozenten der Königsberger Universität untersagte, über jenes Werk Vorlesungen zu halten. Dieser Gewaltstreich hatte zur Folge, daß Kant teilweise, seit 1797 gänzlich seine Vorlesungen einstellte und sich in seinen letzten Lebensjahren fast ausschließlich mit der Ordnung seiner Papiere beschäftigte, bei welcher er sich durch jüngere Kräfte, wie Rink und Jäsche, unterstützen ließ.
Nachdem in seinem letzten Lebensjahr Altersschwäche eingetreten war, starb er Sein Kopf wurde vom Professor Knorr in Gips [* 9] abgeformt. Kant war von Person klein, kaum 5 Fuß groß, von schwachem Knochenbau und noch schwächerer Muskelkraft; seine Brust war sehr flach und fast eingebogen, der rechte Schulterknochen hinterwärts etwas verrenkt, womit der Befund bei der 1880 erfolgten Ausgrabung und Wiederbestattung übereinstimmt. (Vgl. Bessel-Hagen, Die Grabstätte Kants, Königsb. 1880.) Sein sanftes blaues und doch lebhaftes Auge [* 10] zog unwiderstehlich an. Sein Gemüt wird von seinen Freunden mit voller Übereinstimmung als ein kindliches bezeichnet.
Den öffentlichen Gottesdienst hielt er, wie das Äußere der Religion überhaupt, für ein höchst wichtiges, dem Denker aber entbehrliches Staatsinstitut. Zum kunstgerechten Redner war er nicht gemacht; in sozialer und politischer Hinsicht war er ein entschiedener Vertreter der Freiheit, unterwarf sich jedoch in der politischen Ordnung den Befehlen der Obrigkeit, selbst gegen seine bessere Überzeugung. Das Gesetz der Ordnung dehnte er selbst auf die Formen des geselligen Lebens aus; in seinem Hauswesen herrschte neben solider Einfachheit die größte Regelmäßigkeit.
Durch Orden [* 11] und Titel ist Kant nicht ausgezeichnet worden; die Berliner [* 12] Akademie der Wissenschaften ernannte ihn 1763 zu ihrem Mitglied, die Petersburger that dasselbe 1794. Das gelungenste Porträt Kants ist das von Döbler 1791 gefertigte Ölgemälde. Am ward in Königsberg [* 13] sein Standbild, das letzte Werk Rauchs, errichtet. An dem von Kant seit 1783 bis zu seinem Tod bewohnten eignen Haus, unfern dem Schloß in der Prinzessinstraße, wurde in neuerer Zeit eine Inschrifttafel angebracht.
Gesamtausgaben seiner Werke sind die von G. Hartenstein (Leipz. 1838-39, 10 Bde.), von Kant Rosenkranz und F. W. Schubert (das. 1838-40, 12 Bde.), die beste »in chronologischer Folge« von G. Hartenstein (das. 1867-69, 8 Bde.),
neben welchen noch die von Kirchmann (Leipz. 1874, 8 Bde. und Supplement, mit Erläuterungen) zu nennen ist. Eine brauchbare Ausgabe der Hauptschriften besorgte Kehrbach (in Reclams »Universalbibliothek«). Auch sind mehrere Schriften Kants ins Lateinische, Französische (von Tissot, Barni) und Englische [* 14] (von Hayward, Abbott, Max Müller u. a.) übersetzt worden. Das Leben Kants haben geschildert: Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Kants (Königsb. 1804);
Wasianski, in seinen letzten Lebensjahren (das. 1804);
Jachmann, I. Kant, geschildert in Briefen (das. 1804);
Schubert (im 11. Bd. der genannten Gesamtausgabe);
Saintes, Histoire de la vie et de la philosophie de Kant (Par. 1844; Stuckenberg, The life of Imman. Kant (Lond. 1882); ¶
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Arnoldt, Kants Jugend und die fünf ersten Jahre seiner Privatdozentur (Königsb. 1882).
Kants Philosophie.
Kant selbst bezeichnete seine Philosophie als Kritizismus und setzte sie einerseits der Wolfschen, die er Dogmatismus, anderseits der Humeschen, die er Skeptizismus nannte, entgegen. Im Gegensatz zu jenem, welcher der menschlichen Vernunft die Fähigkeit, jenseit der sinnlichen Erfahrung gelegene Gegenstände zu erkennen, zu-, und zu diesem, welcher selbst der Erfahrung Allgemeingültigkeit absprach, behauptete Kant, daß nur innerhalb der Erfahrung gelegene Gegenstände, diese aber mit Allgemeingültigkeit erkannt würden.
Durch erstere Behauptung setzte Kant dem menschlichen Erkenntnisvermögen eine nicht zu überschreitende Grenze; durch die letztere sicherte er demselben innerhalb dieser Anspruch auf allgemeine Anerkennung. Beide gründete er auf eine Untersuchung nicht der Erkenntnis, sondern des Erkenntnisvermögens, da von der Beschaffenheit des letztern als des Organs der Erkenntnis die Beschaffenheit der möglichen Erkenntnis notwendig abhängen muß. Wie das Auge nur sieht, was und wie seine Struktur es gestattet, so erkennt das Erkenntnisvermögen nur, was und wie seine innere Organisation es erlaubt.
Zeigt sich, daß dasselbe auf die Erkenntnis solcher Gegenstände, die jenseit der sinnlichen Wahrnehmbarkeit liegen, gar nicht angelegt ist, so wäre es eitler Wahn, von ihm eine Erkenntnis solcher zu erwarten. Eine derartige, auf die Tragweite des Erkenntnisvermögens, statt auf den Inhalt der (wirklichen oder vermeintlichen) Erkenntnis, gerichtete Prüfung nun nannte Kant kritisch und diejenigen Gegenstände welche infolge derselben außerhalb des Gesichtskreises der menschlichen Erkenntnis fallen, transzendent.
Gerade diejenigen Objekte der Erkenntnis, welche nach Wolf den eigentlichen Inhalt der theoretischen Philosophie (Metaphysik) und ihrer drei Hauptzweige, Psychologie, Kosmologie und Theologie, ausmachten: Seele, Welt und Gott, wurden infolge der Kantschen Kritik der Vernunft transzendent, d. h. fielen über die Grenze reiner Vernunfterkenntnis hinaus. Und zwar aus folgendem Grunde: Da alles Erkennen im Urteilen besteht, so hängt die Möglichkeit des erstern notwendig von der Beschaffenheit des letztern ab. Nun ist aber jedes Urteil, welches ja in nichts anders als in der Aussage eines Prädikats von einem Subjekt besteht, entweder von der Art, daß das Prädikat im Subjekt schon ganz oder teilweise enthalten (ganze oder teilweise Wiederholung des Subjekts) ist, oder derart, daß das Gegenteil der Fall ist, das Prädikat zum Subjekt etwas Neues hinzubringt.
Urteile ersterer Art nennt Kant (wie vor ihm schon Hume) analytische, letzterer Art synthetische, jene auch bloße Erläuterungs-, diese dagegen Erweiterungsurteile. Erstere sind zwar richtig, aber nicht wichtig, letztere dagegen, da auf ihnen aller Fortschritt im Wissen beruht, höchst wichtig, aber, wenn nicht bekräftigende Umstände hinzutreten, von zweifelhafter Richtigkeit. Da in denselben das Prädikat zum Subjekt hinzukommt, ohne in demselben enthalten zu sein, so muß irgend ein äußeres Zeugnis gegeben sein, daß dem Subjekt dieses Prädikat auch wirklich angehört.
Ein solches liegt, wo der Gegenstand ein sinnlich wahrnehmbarer ist, im Augenschein, d. h. in der sinnlichen Anschauung, welche Subjekt und Prädikat verbunden zeigt: »die Rose ist rot«. Solche synthetische Urteile nennt Kant a posteriori, weil sie durch eine sinnliche Anschauung bekräftigt sind. Wo dagegen der Gegenstand kein sinnlich wahrnehmbarer ist, da ist keine Überzeugung durch Augenschein möglich, und solche Urteile (mit Ausnahme der mathematischen), die Kant synthetisch a priori nennt, bleiben notwendig ungewiß.
Bis hierher war daher Kant mit dem Skeptizismus Humes, welcher ihn, wie er selbst sagt, aus seinem »dogmatischen Schlummer« erweckt hatte, vollkommen einverstanden; ja, er ging sogar noch weiter als dieser. Da nämlich die Gegenstände der Mathematik auch keine sinnenfälligen sind (da es keine reine Gerade, keinen reinen Kreis [* 16] etc. gibt), so entstand die Frage, wie eine Erkenntnis derselben möglich sei. Hume fand darin keine Schwierigkeit, da seiner Ansicht nach die mathematischen Erkenntnisse analytische Urteile, Kant aber die größte, da dieselben ihm zufolge synthetische Urteile sind. Da nun bei solchen die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat nur durch eine Anschauung sicher festgestellt werden kann, von mathematischen Objekten aber, als nicht sinnenfälligen, eine sinnliche Anschauung nicht möglich ist, so mußten (im Fall es keine andre als sinnliche Anschauung gibt, wie der Empirismus behauptet) auch die mathematischen Erkenntnisse ungewiß werden. Letzteres dünkte Kant, der von der Unerschütterlichkeit der Mathematik als Wissenschaft überzeugt war, unerträglich, und er ging darauf aus, zunächst Mathematik als Wissenschaft (von seinem, nicht von Humes Standpunkt aus) wieder möglich zu machen.
Damit beginnt die positive Seite seiner Kritik der reinen Vernunft, in welcher er gegen den Skeptizismus reagiert, während die negative Seite darin bestanden hatte, daß er (mit Hume) gegen den Dogmatismus reagierte. Das Ergebnis der letztern bestand darin, daß eine wirkliche Erkenntnis nur von anschaulichen Gegenständen, also (ganz wie die Empiristen lehrten) nur durch Erfahrung möglich sei; jenes der erstern dagegen gipfelte in dem Satz, daß in der Erfahrung selbst mehr als »bloße Erfahrung« enthalten sei. Es sei zwar richtig, lehrt Kant, daß unsre gesamte Erkenntnis mit der Erfahrung anhebe, keineswegs aber, daß sie nur aus der Erfahrung stamme.
Wäre das letztere, wie die englischen Empiristen behaupteten, wirklich der Fall, so wäre, da alle aus der Erfahrung geschöpften Urteile nur »komparative« (induktive) Allgemeinheit besitzen können, eine »apriorische« (ausnahmslose) Allgemeinheit, wie sie z. B. die mathematischen Urteile besitzen müssen, unmöglich. Es muß daher in der Erfahrung selbst ein »apriorisches« (von aller Erfahrung unabhängiges) Element geben, durch welches diese wirkliche Allgemeinheit erlangt, also erst dieses Namens vollkommen würdige Erfahrung wird.
Die auf die Entdeckung dieses von aller Erfahrung unabhängigen, aber zugleich aller Erfahrung zu Grunde liegenden (apriorischen) Elements gerichtete Untersuchung nennt Kant transzendental und, insofern seine Kritik sich mit solcher beschäftigt, dieselbe Transzendentalphilosophie. Da dasselbe von aller Erfahrung unabhängig (vor der Erfahrung als »Prius« derselben) ist, so wird es von dem erfahrenden Subjekt (und zwar von jedem Individuum der Menschheit auf gleiche Weise) zu dem von der Erfahrung abhängigen Elemente der Erfahrung hinzugebracht, so daß jenes den invariabeln, dieses dagegen den variabeln Faktor der Erfahrung, als beider Produkt, ausmacht. Jenen, den apriorischen Faktor, der aus dem Subjekt (dem Träger [* 17] des allen menschlichen Individuen gemeinsamen a priori-Elements, der deshalb auch transzendentales Subjekt heißt) stammt, nennt Kant die Form, diesen, den aposteriorischen Faktor, der einem uns nur durch seine in uns hervorgebrachten Wirkungen (die Sinnesempfindungen) bekannt ¶