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Die jüdische Religion, die ihren Ausdruck in der hebräischen Litteratur gefunden und, durch Erläuterungen und Zusätze erweitert, sich von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt hat, bildet auch die Grundlage der jüdischen Litteratur. Diese wurzelt demnach in der hebräischen, nimmt aber in allen Ländern zu der überkommenen eignen Gelehrsamkeit noch fremdes Wissen auf, so z. B. persische Religionsbegriffe, griechische Philosophie, römisches Recht, arabische Dichtkunst, mittelalterliche Scholastik und europäische Wissenschaft.
Außer den Schriften, die sich speziell die Erforschung, Förderung und Begründung des Judentums zur Aufgabe stellen, rechnet man zur jüdischen Litteratur auch alle die zahlreichen Werke, die vorwiegend in hebräischer und neuhebräischer Sprache, [* 2] dann aber auch in allen Sprachen der Erde verfaßt sind und alle Zweige menschlichen Wissens umfassen, sobald in ihnen nur Beziehungen zum Judentum erkennbar sind. Zur bequemern Übersicht teilen wir die Geschichte der jüdischen Litteratur in sechs Abschnitte.
Erster bis dritter Abschnitt (alte Zeit).
Der erste Abschnitt reicht von Esra, dem Regenerator des mosaisch-prophetischen Judentums, bis zu R. Jochanan ben Sakkai, dem Begründer des Rabbinismus. Der Schriftkundige (Sofer) Esra begann die Sammlung des hebräischen Schrifttums, vollzog die Umschreibung des Pentateuchs aus den althebräischen (samaritanischen) Schriftcharakteren in die Quadratschrift, schmückte die Liturgie mit Vorlesungen aus und eröffnete gewissermaßen die Quellen des Midrasch (s. d.). Dieser Thätigkeit schloß sich eine aus 120 Gelehrten bestehende große Versammlung, »Synagoga magna« (hebräisch K'nesset hagedola) genannt, an, das Gesetz lehrend und durch besondere Vorschriften und Vorbeugungsverordnungen die mosaischen Gesetze schützend.
Sie legte den Grund zur Gebetordnung und sammelte die biblischen Schriften. Das Hebräische blieb vorläufig die Sprache der Gelehrten; das Volk sprach aramäisch, bis von der Syrerherrschaft an das Griechische überall herrschte. Aus der vormakkabäischen Zeit sind nur einige in Palästina [* 3] verfaßte apokryphische Bücher (s. Apokryphen) bekannt. Doch fehlte es in Palästina nicht an geistigen Vertretern, welche den Kampf gegen den Hellenismus, mit dem sich die Juden Ägyptens befreundet hatten, aufnahmen und durchführten.
Die Träger [* 4] der Gesetzesüberlieferung wurden die Präsidenten des Synedrions (s. d.). Schon mit dem Tode der ersten Synedralhäupter Jose ben Joeser und Jose ben Jochanan hörten politischer Rücksichten wegen die öffentlichen Lehrvorträge auf, nicht aber das Studium, das in weitern Kreisen gepflegt wurde durch die Präsidenten Jose ben Perachja, Nittai aus Arbela, Schmaja und Abtalion, die Zeitgenossen Alexander Jannais, Juda ben Tabbai und Simon ben Schetach, die Zeitgenossen Herodes', Hillel und Schammai. Im Widerstreit der religiösen Parteiungen (Pharisäer und Sadduzäer) erstarkte durch Pharisäismus das tradierte Gesetz, für dessen Auslegung Hillel sieben feste Regeln aufgestellt hatte. Am Schluß dieses Zeitraums, im ersten vorchristlichen Jahrhundert, nahm die Deutung und praktische Anwendung des Gesetzes festere Formen an. Die Halacha (s. d.) normierte die gesetzlichen Bestimmungen, und die Haggada (s. d.) erweiterte die vorhandene Litteratur nach erbaulichen ethischen, geschichtlichen und sozusagen wissenschaftlichen Motiven.
Die Gelehrtensprache bildete sich zur neuhebräischen oder rabbinischen (s. Hebräische Sprache); zu den Pentateuchvorlesungen in der Synagoge kamen der Vortrag des prophetischen Schlußabschnitts (Haftara, s. d.), belehrende Vorträge und die Übersetzung, resp. Paraphrase des Bibeltextes (Targum, s. d.). Philosophie und wissenschaftliches Studium wollten in Palästina nicht gedeihen; die dem jüdischen Kalenderwesen zu Grunde liegenden Beobachtungen sind der griechischen Astronomie [* 5] entnommene Regeln.
Der zweite Abschnitt führt uns die jüdisch-hellenistische Litteratur vor, welche von der mächtigen, seit Alexanders d. Gr. Siegeszügen entstandenen Kulturströmung gekennzeichnet wird, meist einen apologetischen Charakter trägt, ältere historische Stoffe poetisch bearbeitet und das Judentum philosophisch begründet. Ihr Schauplatz ist hauptsächlich Ägypten, [* 6] zum geringen Teil auch Palästina. Der Septuaginta (s. d.) wurden die Apokryphen (s. d.), von denen einzelne Teile in Palästina geschrieben sind, einverleibt.
Was nicht Aufnahme fand, ist nur noch in Fragmenten vorhanden und aus Citaten bei den Kirchenvätern bekannt. Aristobulos aus Paneas schrieb für den König Philometor (181-146) eine philosophische »Erläuterung der Gesetze«, Eupolemos, Artapan, Demetrios, Aristäos, Kleodemos und Malchos verquicken althebräische Sage und Geschichte mit griechischer Mythologie; Ezechiel dichtete ein Trauerspiel: »Der Auszug aus Ägypten«, Philo der ältere ein Gedicht: »Jerusalem«, [* 7] und Jason aus Kyrene schilderte in 5 Büchern den Makkabäerkampf (ein Auszug ist das 2. Buch der Makkabäer). Den bedeutendsten Vertreter hat die jüdische Wissenschaft in Alexandria an dem sprachgewandten, scharfsinnigen Philosophen Philo (s. d.). In griechischer Sprache schrieb auch der Geschichtschreiber Josephus (s. d.); von seinen hebräischen Schriften ist uns nichts bekannt.
Der dritte Abschnitt umfaßt die als talmudische Litteratur bekannten litterarischen Erzeugnisse. Die Errichtung eines Lehrhauses in Jamnia bei Jerusalem durch R. Jochanan ben Saktai war eine That von tief eingreifender Bedeutung. R. Jochanan lehrte die Juden auf politisches Wirken verzichten und ihre Aufgabe in der Erhaltung des Judentums erkennen, in der Weiterbildung des gesetzlichen Stoffes, wie er in der biblischen Litteratur und in der Tradition vorlag.
Dieser Traditionsstoff, von der Hillelschen Schule in knappe sachgemäße Sätze gebracht, hieß Mischna (zweite Lehre) [* 8] im Gegensatz zur Bibel [* 9] (Mikra); die Lehrer und Ausarbeiter der Mischna hießen Tannaim. Bedeutende Gesetzlehrer dieser Zeit sind die vorzüglichsten Schüler Jochanans: Elieser ben Hyrkanos, später Lehrhausvorsteher in Lydda, Josua ben Chananja, welcher sein Lehrhaus in Bekiin hatte, Josua Hakohen, Simon ben Netanael und Elasar ben Arach.
Nach R. Jochanan ben Sakkai übernahm R. Gamliel die Präsidentschaft des Synedrions in Jabne, stellte die Gebet- und Kalenderordnung fest und regte, ein Freund der griechischen Sprache, vermutlich die Bibelübersetzung Akylas', eines jüdischen Proselyten aus Pontos, an. Gamliels Zeitgenossen sind: Elieser ben Asarja, Samuel der Kleine, Jochanan ben Nuri, Jochanan ben Beroka, Chalafta in Sepphoris. Der bedeutendste in der Reihe der Tannaim war der tiefgelehrte, schöpferische R. Akiba, Schüler Eliesers ben Hyrkanos und Nachums von Gimso, dem Lehrhaus in Bnebrak ^[richtig: Bne brak] vorstehend. Seine nicht aufgeschriebenen Halachot sind als »Mischna des R. Akiba« bekannt und waren grundlegend für die eigentliche Mischna. Damals lehrten Tarfon oder Tryphon in Jabne und Lydda, Ismael, 13 Auslegungsregeln der Halacha einführend, und zu dem spätern ¶
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halachischen Midrasch zum 2. Buch Mosis, der Mechilta, anregend, Elasar aus Modim, Josua der Galiläer, Chananja ben Teradjon, Elisa ben Abuja, wegen seiner Abtrünnigkeit Acher (der andre) genannt, Ben Soma und Ben Assai. Den Gelehrten, welche unter Hadrian den Märtyrertod erlitten, folgten Meir, Juda ben Ilai, aus dessen Schule der halachische Midrasch zum 3. Buch Mosis, Sifra oder Torat Kohanim genannt, hervorging, Simon ben Jochai (s. d.), der die Grundlage zu dem halachischen Midrasch zum 4. und 5. Buch Mosis (Sifre) gab, Jose ben Chalafta, dem man eine biblische Chronologie, »Seder olam«, zuschreibt, und Elasar ben Schammua.
Die endgültige Richtung und Feststellung der Halacha unternahm Juda hanassi (der Patriarch), Sohn Simons III. Seine Arbeit, sechsteilige Mischna (s. Talmud), verdrängte die frühern Sammlungen und gelangte zu unbedingter Autorität, gegen welche spätere Kompendien, wie die Tossifta (Zusätze) und Boraila (äußere Mischna), nicht aufkamen. Kaum war die Mischna abgeschlossen, so bedurfte auch sie der Auslegung, welcher sich in den Lehrhäusern, zuvörderst denen Palästinas, die Amoraim (Sprecher: Erklärer) widmeten, so Jochanan ben Napacha (199-279), Simon resch Lekisch (275), Josua ben Levi, Simlai u. a., und im 4. Jahrh. ist in den Akademien Palästinas das Auslegungsmaterial der Mischna, die Gemara (vollständige Erklärung), gesammelt worden und aus Mischna und Gemara der jerusalemische oder palästinensische Talmud (s. d.) entstanden. In Palästina brachte um 360 n. Chr. Hillel II. die Kalenderbestimmung in feste Regeln, die heute noch gelten.
Reger als in Palästina entwickelte sich der geistige Verkehr in den Euphratländern. Hier versammelten die tiefgelehrten Abba Arecha, gewöhnlich Rab (Lehrer) genannt, welcher die Kenntnis der Mischna in Palästina erworben hatte, und Samuel zahlreiche Schüler um sich, mit denen die halachischen Studien eifrig betrieben wurden. In den babylonischen Hochschulen wurde die Erklärung zur Mischna redigiert, revidiert und durch die Schrift fixiert, welcher Arbeit, neben R. Aschi Maremar, Mar bar Aschi und besonders R. Abina sich unterzogen. So entstand der babylonische Talmud (s. d.), jene Riesenarbeit, die für alle Folgezeit die vorzüglichste Religionsquelle des rabbinischen Judentums blieb.
Die Redaktion des Talmuds bezeichnet den Höhepunkt der babylonischen Gelehrsamkeit. Die angestrengte Schaffenskraft erlahmt und ruht mehrere Jahrhunderte, bis sie unter den Geonim (s. unten) neu auflebt. Die von 500 bis 600 thätigen Schulvorsteher, »Saboraim« (Meinung Abgebende), leiden unter politischem Druck und können zu dem Überlieferten nur Zusätze machen; der Talmud ist in heutiger Gestalt uns von ihnen überliefert worden. Nachzügler dieser Zeit sind einzelne Halacha- und Hagaddasammlungen, auch ward die von den Soferim und Talmudisten begonnene Regelung des Gottesdienstes durch Gebete in reiner hebräischer Sprache ohne Reim und Metrum fortgesetzt und die Grundlage zur Massora (s. d.) gelegt.
Vierter Abschnitt (8. bis 15. Jahrhundert).
Im vierten Abschnitt, der sich vom Beginn der arabischen Wissenschaft bis zur Vertreibung der Juden aus Spanien, [* 11] also vom 8. Jahrh. bis 1492, erstreckt, nehmen die Juden an dem unter den Arabern neu erwachenden, eifrig gepflegten wissenschaftlichen Leben einen hervorragenden Anteil. Vorderasien, Nordafrika, Spanien, Italien [* 12] und Deutschland [* 13] sind hauptsächlich der Schauplatz der neuen gesteigerten Kulturentfaltung des geistigen Lebens; die Sprache der Gelehrten ist teils die arabische, teils die neuhebräische.
Von Babylonien und Irak aus folgte die jüdische Bildung den Zügen der Araber nach Nordafrika (Ägypten, Kyrene, Fes), Spanien und dem südlichen Frankreich. Schon zuvor hatte sie sich von Palästina aus über Kleinasien, Griechenland, [* 14] Italien (Bari, Otranto) nach Frankreich und Deutschland (Mainz) [* 15] verbreitet, während sie im Orient die letzten Blüten trieb. Denn noch einmal hatte sich Babylon durch seine gefeierten Schulhäupter, die den Titel Gaon (Plural Geonim, »Exzellenz«) führen, zu Sura und Pumbedita in der Mitte des 8. Jahrh. erhoben und sicherte sich bis in die Mitte des 11. Jahrh. die geistige Hegemonie. Die Thätigkeit der Geonim Jehudai der Blinde (um 750), Simon Kahira, Achai, Amram, Zemach ben Paltoi, Nachschon, Saadja ben Joseph, Scherira, Hai, Samuel ben Chofni (gest. 1034) bestand vorwiegend in sprachlicher und sachlicher Erläuterung des Talmuds, Erteilung von Gutachten oft bis nach Spanien und Frankreich hin und der Abfassung von Monographien über verschiedene Gegenstände der Praxis, zum Teil in arabischer Sprache.
In Kyrene (Kairowan) hatte um die Mitte des 10. Jahrh. die j. L. in dem philosophisch gebildeten Arzt Isak Israeli einen hervorragenden Vertreter gefunden, wie dessen arabisch geschriebene Werke über Medizin und Philosophie bezeugen. Chananel ben Chuschiel kommentierte talmudische Traktate und den Pentateuch, der blinde Chefez ben Jazliach schrieb in arabischer Sprache das Buch der Gebote (»Sefer mizwot«),
Nissim, Sohn des Jakob ben Nissim, Erklärer des Buches Jezira, einen Schlüssel zum babylonischen Talmud und angeblich eine kleine Legendensammlung u. a. Das Studium der hebräischen Sprache suchten um 900 Juda ibn Koraisch aus Tahrat durch Vergleichung verwandter Dialekte und Dunasch ben Labrat durch scharfe Polemik gegen Saadja Gaon zu fördern. Über die diesem Zeitraum zuzuweisende Entwickelung der Haggada s. Midrasch; über die Geheimlehre s. Kabbala; über die Litteratur der Karäer s. Karäer. Um diese Zeit entwickelte sich im Anschluß an die bereits feststehenden, zur Zeit der Geonim verfaßten Gebetordnungen (Siddurim) unter Anwendung des Metrums und Reims [* 16] auch die synagogale poetanische (s. Paitan) Dichtung, als deren würdigster und einflußreichster Vertreter Elasar berabbi Kalir (um 800) zu nennen ist.
Vom 10. Jahrh. an dringt in das jüdische Geistesleben in Spanien ein frischer Zug, welcher die Glanzzeit der jüdischen Litteratur eröffnet. Der Beamte der Kalifen Abd ur Rahmân III. und Alhakim II., Chisdai ben Isak (950) in Cordova, begeisterte seine Glaubensgenossen für Wissen und Poesie. Selbst wissenschaftlich thätig (wie dies seine arabische Übertragung einzelner Teile eines medizinischen Werkes des Dioskorides zeigt), lieh er gelehrter Arbeit willig seinen Beistand. Er berief Menachem ben Saruk, Verfasser des ersten hebräischen Wörterbuchs in hebräischer Sprache, des »Machberet«, von Tortosa nach Cordova.
Für die Bibliothek Alhakims übersetzte Josef ibn Abitur, auch als synagogaler Dichter bekannt, die Mischna ins Arabische. Im 11. Jahrh. förderten Juda Chajudsch, der Vater der hebräischen Grammatik, der Entdecker des Dreiwurzelbuchstabensystems, und Jona ibn Dschannah (Abulwalid Merwan), Verfasser einer hebräischen Grammatik und eines Lexikons, das Sprachstudium. Der Wesir des Kalifen, Oberrabbiner Samuel Hanagid zu Cordova, war für Grammatik und Exegese ¶