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galiläischen Fischers Simon, genannt Petrus, das richtige, von Jesus selbst herausgeforderte Wort und Bekenntnis, wonach sie in ihrem Meister niemand anders als den Messias selbst gefunden zu haben überzeugt waren.
Einstweilen war aber auch in der Seele Jesu eine neue Errungenschaft gemacht worden. Dem thatsächlich sich steigernden Unglauben des lauter Enttäuschungen bereitenden jüdischen Volkes war verheißend das religiöse Bedürfnis und manche erfahrene Empfänglichkeit der Heidenwelt gegenübergetreten; Samaritaner bewiesen mehr sittlichen Gehalt als Juden, der Hauptmann von Kapernaum, das kananäische Weib zeigten mehr Glaubenskraft, als er in Israel je gesehen hatte.
Jesus staunte, und in seinem Geist wurden um so lichter einzelne prophetische Worte, die ihm einen Beruf antrugen, welcher auch »die Heiden bringen sollte zu Gottes heiligem Berg«. Sein Geist rang sich los von den nationalen Schranken, wenngleich die Thränen, beim Anblick Jerusalems vergossen, beweisen, wie wenig leichten Herzens er das Gericht über sein Volk vollzog. Aber auch noch in einer andern Beziehung war es nicht mehr der alttestamentliche und nationale Messias, welcher bei Cäsarea Philippi aus der rätselhaften Hülle des »Menschensohns« ans Licht [* 2] trat.
Bereits damals stand der Todesentschluß fest, welcher daher auch dem aufsteigenden Messiasjubel der Jünger sofort als Dämpfer [* 3] entgegengesetzt wird (Mark. 8, 29-31). Jesus hatte verzichtet auf zeitlichen Erfolg. Die Tausende, die ihm noch immer zuströmten, die seine Worte und Thaten nach allen Winden [* 4] ausbreiteten, waren doch wieder Landsleute und Geistesverwandte jener Nazarethaner, unter welchen er eine der bittersten Erfahrungen seines Lebens gemacht hatte; sie waren nur die regbarsten Teile des sittlich rohen und harten Stoffes, woraus das ganze Volk gebildet war. Je länger, desto deutlicher trat an den Tag, daß das Volk in seiner überwiegenden Mehrheit sich nicht von der herrschenden Partei zu lösen vermochte, offen auf die Seite des Angreifenden sich zu schlagen nicht wagte, und so wurde denn in dieser letzten galiläischen Zeit der Gegensatz gegen die Farbenglut der nationalen Messiasträume in der That siegreich und bis dahin durchgekämpft, daß der Träger [* 5] des neuen, des sittlichen Messiastums, anstatt über die Höhen der Erde im Sturmschritt überwältigender Erfolge zu wandeln, vielmehr als demütiger und armer Diener der Menschheit das Kreuz [* 6] derselben zu schleppen und, erliegend unter der Last der heraufbeschwornen Feindschaft, an Einem Marterpfahl mit dem geringsten und zertretensten ihrer Glieder [* 7] zu enden entschlossen war.
Den Glauben an den gleichwohl im letzten Hintergrund stehenden, von und in Gott selbst verbürgten Sieg seiner Person und Sache, den Glauben an das »Reich Gottes« (s. d.) und seine Realisierbarkeit, rettete er, indem von nun an sich steigernde Weissagungen, in kühnster Bildlichkeit gehalten, eine glänzende Wiederkunft in Herrlichkeit in baldige, von Freunden und Feinden zu erlebende Nähe stellten. Dieser Glaube an die Wiederkunft in Herrlichkeit war somit die Form, in welcher der Widerspruch, an dem sein Messiastum zu scheitern schien, nämlich der Gegensatz des wirklichen Geschicks zu den messianischen Erwartungen und dem ganzen Gottesglauben des Volkes, sich wie für die älteste Gemeinde, so ohne Zweifel auch, falls nicht eine ganze Menge von Christussprüchen für unecht erklärt werden soll, für den Stifter derselben selbst ausgeglichen und ausgelöst hat.
Die lichte Zukunft im Auge, [* 8] hat Jesus die Katastrophe seines äußern irdischen Geschicks selbst heraufbeschworen. Denn wenn er nach längerm unsteten Aufenthalt im Norden [* 9] Galiläas, nach allen Erfahrungen, welche er über die Aufnahme seiner Reichspredigt beim Volk und über den Widerstand gegen sie bei den Gegnern gemacht hatte, den Entschluß faßte, vom Nordende seines Wirkungskreises aus in direktem Weg nach Süden Judäa und Jerusalem [* 10] aufzusuchen, in der Hauptstadt selbst, am Sitz der Machthaber, zu erscheinen, zu deren herrschendem System seine ganze bisherige Wirksamkeit in dem entschiedensten Gegensatz stand, so kann dieser so folgenreiche Schritt nur aus der Überzeugung von der Notwendigkeit hervorgegangen sein, daß seine zur Entscheidung reife, nicht länger in der Schwebe zu haltende Sache nunmehr sich auch wirklich entscheiden müsse.
Als der Frühling wieder nahte, sehen wir ihn den letzten Abschied von Galiläa nehmen, bald darauf inmitten der Passahpilger in Jerusalem einziehen und bei dieser Gelegenheit die erste und letzte, ganz unmißverständliche messianische Demonstration wagen, ja sogar im Tempelvorhof selbst thätlich gegen die Praxis der bestehenden Autoritäten vorgehen. Die Katastrophe folgte fast auf dem Fuß nach, und schon die Sonne [* 11] des ersten großen Festtags der Osterwoche sah auf das Kreuz herab.
Jesus starb unter Vorangehen der kaltblütigen und grausamen sadduzäischen Priesterpartei, welche in ihm, dem Messias, zugleich die volkstümlichen, übrigens auch pharisäischen Reichsgedanken und Zukunftsschwärmereien treffen wollte und dabei den Vorteil hatte, von der pharisäischen Demagogie selbst thatkräftig unterstützt zu werden. Am letzten Abend vor seiner Verhaftung und Hinrichtung war er noch einmal mit dem engern Jüngerkreis allein, und hier war es, daß er in der unendlichen Ergriffenheit des Moments das letzte Mahl hielt, eine fortan zu seinem und des Opfers seines Lebens Gedächtnis festzuhaltende Liebes- und Opfermahlzeit, deren Gäste die errungene Gemeinschaft mit Gott, die Kindesstellung dem Vater gegenüber, die Vollendung des neuen Bundes der Gnade bis ans Ende der Tage fortfeiern sollten. Das Weitere s. Christentum und Christologie.
Litteratur.
Die Litteratur über das Leben Jesu ist seit 60 Jahren in steigendem Wachstum begriffen, schon an sich ein Zeichen einer Krisis, welche über das christliche Bewußtsein der Gegenwart hereingebrochen ist. Auf dem Standpunkt des ältern Rationalismus steht Paulus (»Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums«, Heidelberg [* 12] 1828, 2 Bde.); ästhetisch-rationalistische Gesichtspunkte befolgt Hase [* 13] (»Das Leben Jesu, für akademische Vorlesungen«, 5. Aufl., Leipz. 1865; »Geschichte Jesu«, das. 1876). Die kritische Richtung konsequent verfolgend, hat Strauß [* 14] (»Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet«, Tübing. 1835-36, 2 Bde.; 4. Aufl. 1840; für das deutsche Volk bearbeitet, Leipz. 1864; 4. Aufl. 1877) in scharfsinniger Polemik sowohl gegen die übernatürlichen Annahmen des Supernaturalismus als gegen die natürlichen Auslegungen des Rationalismus den faktischen Inhalt der Evangelien als Mythus aufgefaßt, in dessen vergrößerndem, durch alttestamentliche Vorbilder und messianische Erwartungen gebildetem Reflex nur wenige einfache Linien der geschichtlichen Wahrheit noch zu erkennen seien. Gleichzeitig mit Strauß hat Weiße (»Die evangelische Geschichte, kritisch und philosophisch bearbeitet«, Leipz. 1838, 2 Bde.), von der Echtheit und Vorzüglichkeit des ¶
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Markus-Evangeliums ausgehend, mit origineller und geistreicher Kritik in der evangelischen Geschichte historische und unhistorische Bestandteile zu scheiden versucht, und Gfrörer (»Geschichte des Urchristentums«, Stuttg. 1838, 5 Bde.) wollte zeigen, wie das Christentum auf dem Boden des vom Talmud aus zu erkennenden Judentums aufgewachsen sei. Neuere, durch die Straußsche Kritik hervorgerufene und sie mit mehr oder weniger Erfolg bekämpfende Bearbeitungen des Lebens Jesu sind von Neander (Hamb. 1837, 5. Aufl. 1852), Krabbe [* 16] (das. 1839), Kuhn (Mainz [* 17] 1838, Bd. 1), J. ^[Julius] Hartmann (Stuttg. 1837-39, 2 Bde.), Theile (Leipz. 1837), J. P. ^[Johann Peter] Lange (Heidelb. 1844-1847, 3 Bde.), Ammon [* 18] (Leipz. 1842-47, 3 Bde.), Friedlieb (Bresl. 1855, 2. Aufl. 1886), Riggenbach (Basel [* 19] 1858), Baumgarten (Braunschw. 1859).
Vgl. Strauß, Streitschriften zur Verteidigung meiner Schrift über das Leben Jesu und zur Charakteristik der gegenwärtigen Theologie (Tübing. 1837, 3 Hefte).
Ein ähnliches Aufsehen wie Strauß in Deutschland [* 20] erregte in Frankreich das Werk von Renan: »Vie de Jésus« (Par. 1863), welches in kurzer Zeit in viele Sprachen übertragen wurde. Renan hat darin bei mehr geistreicher als methodisch-korrekter Quellenbenutzung und phantasiereicher Ausschmückung das Leben Jesu auf reizendstem landschaftlichen Hintergrund gezeichnet als Bild eines liebenswürdigen und heitern Propheten, welcher, einmal in Gegensatz zu Pharisäern und Priestern getreten und zum Fortgehen auf dieser Bahn gedrängt, zum Schwärmer wird und sich allmählich darin gefällt, den mit der Wundergabe ausgerüsteten Messias zu spielen, bis er diesen Genuß mit dem Tod büßt.
Von den zahllosen Streitschriften wider das Renansche Werk heben wir nur hervor die französischen, wissenschaftlich auf freiestem Standpunkt stehenden Kundgebungen von Réville, Colani, Schérer und Coquerel. Gleichfalls mit der Menschheit Jesu vollsten Ernst zu machen, war die durchschlagende Tendenz in Schenkels »Charakterbild Jesu« (Wiesbad. 1864, 4. Aufl. 1873),
in welchem mit Zugrundelegung des zweiten Evangeliums das Leben Jesu vorzugsweise nach der Seite seiner der Satzungsreligion entgegentretenden Lehrwirksamkeit hin dargestellt wird. Das Trifolium »Strauß, Renan, Schenkel« wurde nun sofort wieder zum Gegenstand des Angriffs von seiten einer ganzen Reihe von theologischen und theologisierenden Schriftstellern, unter welchen auf katholischer Seite Veuillot (»Leben unsers Herrn J.«, deutsch, Köln [* 21] 1864) und Sepp (»Thaten und Lehren [* 22] Jesu«, Schaffh. 1864),
auf holländischer van Oosterzee (»Das Bild Christi nach der Schrift«; »Geschichte oder Roman«, beides deutsch, Hamb. 1864),
auf französisch-protestantischer Pressensé (»Jésus-Christ, son temps, sa vie, son œuvre«, 3. Aufl., Par. 1866; deutsch, Halle [* 23] 1866) genannt werden mögen. Eine Arbeit von großer Bedeutung für die kritische Feststellung der Grundlagen sind Weizsäckers »Untersuchungen über die evangelische Geschichte, ihre Quellen und den Gang [* 24] ihrer Entwickelung« (Gotha [* 25] 1864). Vermittelnd schrieb Krüger-Velthusen: »Das Leben Jesu« (Elberf. 1872). Die über das Leben Jesu Christi angefachte wissenschaftliche Bewegung hat dann auch das nachgelassene »Leben Jesu« von Schleiermacher (Berl. 1864) sowie dasjenige von Bunsen (Leipz. 1865) an das Licht gebracht, mit welchen die unklar apologetisch gehaltene »Geschichte Christus'« von Ewald (3. Aufl., Götting. 1867) den allgemeinen Standpunkt teilt. In der neuesten Phase der auf die Geschichte Jesu Christi bezüglichen wissenschaftlichen Forschung ragt ganz entschieden Keims Werk hervor: »Geschichte Jesu von Nazara, in ihrer Verkettung mit dem Gesamtleben seines Volkes« (Zürich [* 26] 1867-72, 3 Bde.; dritte [kurze] Bearbeitung, 2. Aufl. 1875). Ähnlich, jedoch statt des Matthäus den Markus zu Grunde legend, stehen auch Holtzmann in der mit Weber gemeinsam bearbeiteten »Geschichte des Volkes Israel und der Entstehung des Christentums« (Leipz. 1867, 2 Bde.),
Hausrath (»Neutestamentliche Zeitgeschichte«, Teil 1: »Die Zeit Jesu«, Heidelb. 1868; 3. Aufl. 1879) und Wittichen (»Das Leben Jesu in urkundlicher Darstellung«, Jena [* 27] 1876),
während auf gleicher Grundlage Volkmar (»Jesus Nazarenus und die erste christliche Zeit«, Zürich 1882) wieder näher an Strauß (s. d.),
bez. B. Bauer (s. d.) heranrückt, B. Weiß aber eine die apologetischen Bemühungen in ermäßigender Form zusammenfassende Darstellung gibt (»Das Leben Jesu«, Berl. 1882; 2. Aufl. 1884, 2 Bde.),
zu welcher Beyschlags Werk ein farbenreicheres Seitenstück bildet (»Das Leben Jesu«, Halle 1885-86, 2 Bde.).
Als Stifter der christlichen Religion bildete J. auch für die mittelalterliche Dichtung, voran die deutsche, den Mittelpunkt aller Empfindung und Phantasievorstellung. Für die geistliche Dramatik, die aus den Kulthandlungen selbst hervorwuchs und vom 12. Jahrh. an mit deutsch geschriebenen Weihnachtsspielen, Passions- und Osterspielen einen außerordentlichen Umfang erlangte, blieb J. lange Zeit der ausschließliche Held; seine Geburt, sein Leiden, [* 28] seine Auferstehung und Himmelfahrt bildeten die Haupthandlungen der geistlichen Aufführungen.
In der epischen Dichtung treten den gereimten Evangelienharmonien, dem »Krist« des Otfried, dem »Heliand«, dem »Leben Jesu« der Dichterin Ava etc., allerdings bald andre Stoffe zur Seite, und in der Fülle der Legenden verschwindet die Christusgestalt hinter der großen Schar der Heiligen und Märtyrer. Die Nachwirkungen des geistlichen Dramas lassen sich durch die protestantisch-biblische Dramatik des 16. und noch durch die Operndichtung des 17. Jahrh. hindurch verfolgen.
Solange sie währten, blieb Leben und Sterben des Erlösers Lieblingsstoff der Darstellung und gewährte den Dramatikern den Vorteil eines allbekannten epischen Unter- und Hintergrundes. In der neuern deutschen Dichtung begann die epische Behandlung des Lebens Jesu mit Klopstocks »Messias« (1748-73),
an den sich Lavaters »Jesus Messias« (1783),
v. Halems »Jesus, der Stifter des Gottesreiches« (1810),
Mehrings »Jesus in seiner siegenden Gotteskraft« (1821),
Friedr. Rückerts »Leben Jesu« (1839),
Karl Moritz' »Christus der Überwinder« (1841) und K. Siebels »Jesus von Nazareth« (1856) anreihen. Neuere dramatische Versuche gehen von ganz andern Voraussetzungen als die naiv-gläubigen Dramen der ältern Zeit aus; eine charakteristische Probe dieser veränderten Anschauung ist »Jesus der Christ« von Albert Dulk (1865).