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richtete sich die Sekte in Newman Street ein Lokal für ihre Gottesdienste ein. Vor das Presbyterium von Annan auf geladen, replizierte Irving, daß man nicht ihn, sondern den Heiligen Geist anklage. Von der schottischen Kirche ausgestoßen, lebte er nun ganz der unabhängigen Genossenschaft, die sich in London [* 2] um ihn sammelte. Hier schuf er eine Menge Ämter mit Namen, die der apostolischen Zeit entnommen waren, und traf die Anordnung, daß die gesamte Jugend seiner Gemeinde, Knaben und Mädchen, in dem Schiff [* 3] der Kirche in einem amphitheatralisch sich erhebenden Chor vereinigt um ihn herum zu sitzen kam, so daß er auf seinem erhabenen Stuhl, nach allen Seiten von jugendlichen Gesichtern umgeben, wie ein Heiliger erschien. Aber die fortwährenden Angriffe auf ihn hatten seine Gesundheit untergraben; er starb in Glasgow, [* 4] wohin er sich aus Gesundheitsrücksichten begeben hatte. Irvings »Collected writings« gab Gavin Carlyle heraus (Lond. 1865, 5 Bde.). Seine Biographie schrieben Wilks (Lond. 1860) und Mrs. Oliphant (3. Aufl., das. 1865).
Vgl. auch »Bruchstücke aus dem Leben und den Schriften Edward Irvings«, herausgegeben von Hohl (2. Aufl., St. Gallen 1850).
Bei Irvings Tod ward seine Lehre [* 5] allein in London schon in sieben Kapellen verkündigt. Der Muttersitz der Irvingianer oder Irvingiten ward Albury, eine Besitzung Sir Henry Drummonds, eines Londoner Bankiers, von dem schon Irving unterstützt worden war. Die zwölf Apostel konstituierten sich 1835, teilten die Erde in zwölf Missionsbezirke für sich ein und überreichten 1836 dem König eine Denkschrift über ihre Tendenzen; ihnen untergeordnet sind die Propheten, Evangelisten und Hirten als allgemeine Kirchenämter, die Engel, Ältesten, Priester und Diakonen als Gemeindeämter. Zu dieser streng gegliederten und unter Entfaltung von großem Pomp fungierenden Hierarchie gesellt sich die buchstäbliche Anwendung der alttestamentlichen Typen, z. B. der Stiftshütte, auf die christlichen Zustände, weshalb man den Irvingianismus auch als Anglo-Judaismus bezeichnet hat.
Auch das Abendmahl wird als Opfer aufgefaßt, aber nicht im römisch-katholischen Sinn. Im übrigen ruht das ganze Lehrgebäude auf apokalyptischer Basis. Die protestantischen Kirchen nicht weniger als die römisch-katholischen sind in dem Zustand Babylons; wer sich von dieser babylonischen Verbindung trennt und unter die Leitung des Heiligen Geistes stellt, hat die Aussicht, vor dem bevorstehenden Gericht in die Luft entrückt und gerettet zu werden. Sobald sich die Kirche so weit gereinigt hat, um ihren Bräutigam würdig empfangen zu können, erfolgt Christi sichtbare Wiederkunft.
Von England gingen 1836 die Glaubensboten nach allen Ländern Europas aus, kamen 1838, nach 1260 Tagen (vgl. Offenb. Joh. 11, 2. ff.), wieder in London zusammen, glichen einige Differenzen aus und begannen sodann ihre Wirksamkeit nach außen von neuem. In der Schweiz [* 6] konkurrierten mit ihnen die Jünger Darbys, die sogen. Plymouthbrüder (s. d.), welche von ähnlichen Grundsätzen ausgehen wie die Irvingianer. Nur in Basel, [* 7] wo namentlich Caird und Woringer thätig waren, haben sich die Irvingianer auf die Dauer behauptet. In Deutschland [* 8] gewann der Irvingianismus besonders seit 1848 Anhänger. In Berlin [* 9] war es ein gewisser Charles Böhm, der Proselyten machte. Im Mai 1848 war die neue Gemeinde zu Berlin schon so gewachsen, daß der Apostel Gavin Carlyle (derselbe, welcher auch den protestantischen Theologen Thiersch für den Irvingianismus eroberte) dieselbe in pomphafter Weise weihen konnte.
Hohe Militärpersonen und Zivilbeamte ließen sich für den Irvingianismus gewinnen, außerdem Geistliche, wie Köppen, Schriftsteller, wie Wagener, der Redakteur der »Neuen Preußischen Zeitung«. Als Prophet wurde Smith aus England berufen, ein Hilfsprediger des Dompredigers v. Gerlach zum Vizeengel, ein Geheimer Obertribunalrat zum Presbyter bestellt. Es war der antidemokratische Zug des Irvingianismus, die Polemik gegen alle Ordnung, die »von untenher« sich aufbaut, verbunden mit romantisch-apokalyptischem Pomp und Prunk, was der Sache damals mächtigen Vorschub leistete.
Schon 1850 zählte die Sekte in Berlin über 500 Mitglieder und rekrutierte sich fortwährend stark aus den höhern Ständen. Zu den Versammlungen, die in einem Hintergebäude der Johannesstraße abgehalten wurden, war der Zutritt aber nur dem gestattet, der durch ein Gemeindeglied eingeführt wurde. Von Berlin gingen Sendboten namentlich nach Schlesien, [* 10] wo Liegnitz [* 11] ein Hauptherd der Sekte wurde. Auch in Königsberg, [* 12] Posen, [* 13] Magdeburg, [* 14] Rostock [* 15] und andern Städten entstanden Irvingianergemeinden; 1871 wurden in Preußen [* 16] 1710 Irvingianer gezählt.
Selbst unter der katholischen Bevölkerung [* 17] in der Umgegend von Augsburg [* 18] fand der Irvingianismus Eingang, bis 1857 das bischöfliche Ordinariat sämtliche Bekenner desselben, namentlich deren Haupt, den Priester Lutz in Oberroth, exkommunizierte. Auch in Württemberg [* 19] und in Kurhessen, hier durch H. W. Thiersch (s. d.), fand die Sekte Sympathien. Jetzt ist die Sache überall im Niedergang begriffen; seit 1879 ist von den zwölf Aposteln nur einer noch am Leben.
Vgl. außer den Schriften von Thiersch: Jacobi, Die Lehre der Irvingiten (2. Aufl., Berl. 1868);
Böhm, Schatten [* 20] und Licht [* 21] in dem gegenwärtigen Zustand der Kirche (Frankf. 1855);
Köhler, Het Irvingisme (Haag [* 22] 1876);
Miller, History and doctrines of Irvingism (Lond. 1878, 2 Bde.).