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Die Heilmittel
lassen sich in zwei Kategorien scheiden: in Maßregeln, welche die Mitwirkung der öffentlichen Gewalt erfordern (obrigkeitliche Maßregeln), und in solche, welche ohne diese Mitwirkung durch die einzelnen anzuwenden sind (private Maßregeln).
1) Die obrigkeitlichen Maßregeln haben zunächst dahinzugehen, die thatsächlichen Verhältnisse der Arbeiter genau festzustellen (Zahl, Lohnhöhe, Familien-, Wohnungsverhältnisse etc.), eine Aufgabe, welcher bisher nur England genügt hat.
Vgl. »Das Verfahren bei Enqueten über soziale Verhältnisse«, Band [* 2] 13 der »Schriften des Vereins für Sozialpolitik« (Leipz. 1877).
Der Forderung der Gerechtigkeit und Billigkeit entspricht die gesetzliche Anerkennung des Koalitionsrechts (Rechts der freien Vereinigung) der Lohnarbeiter zur Besserung ihrer Lage, weil die Arbeiter nur durch Vereinigung mit andern dem großen Unternehmer gegenüber in die Stellung eines diesem gleichen Kontrahenten gelangen. Sie erfolgte in England teilweise 1824, voll 1859, in Frankreich in beschränkter Weise 1864, in Belgien [* 3] 1864, Österreich [* 4] 1870, in Deutschland [* 5] in den meisten Staaten durch die Gewerbeordnung von 1869, in einzelnen schon zu Anfang der 60er Jahre.
Allerdings dürfte die Vereins- und Agitationsfreiheit keine unbedingte sein, wie denn die Ausübung von Zwang gewöhnlich auch bei Koalitionsfreiheit bei Strafe verboten ist (vgl. Kontraktbruch). Von hoher Wichtigkeit ist die dem Staat obliegende Fürsorge für einen guten (obligatorischen) Unterricht in der Volksschule, welcher durch denjenigen der Fortbildungsschule (s. d.) zweckmäßig zu ergänzen ist. Dann bedarf die Arbeit der Kinder, jugendlicher Personen (14.-18. Lebensjahr) und Frauen (über 18 Jahre) der gesetzlichen Regelung und obrigkeitlicher Überwachung, da diese Personen nicht in der Lage sind, ungünstige Bedingungen der Arbeit zu verhüten.
Für Kinder ist das Verbot jeder regelmäßigen Erwerbsarbeit zu fordern und höchstens ausnahmsweise mit obrigkeitlicher Genehmigung die Beschäftigung dann zu gestatten, wenn die Konkurrenz- oder Familienverhältnisse eine vollständige oder unvermittelte Beseitigung der Kinderarbeit nicht zulassen. Jedenfalls sollte ein Minimalalter der Beschäftigung und eine Maximalarbeitszeit festgesetzt, Sonntags- und Nachtarbeit sowie jede gesundheitsschädliche Arbeit verboten werden.
Alle industriellen Staaten außer Belgien haben Gesetze zum Schutz der Kinderarbeit, die meisten aber ungenügende. Ähnliche Beschränkungen sind für jugendliche Arbeiter zu fordern. Für weibliche Arbeiter sollten die gleichen Schutzbestimmungen (mit einzelnen Abänderungen) erlassen werden wie für jugendliche Arbeiter; aber weiter wären zu verbieten: die Bergwerksarbeit unter Tag und andre Arbeiten, welche die Moral dieser Personen gefährden, ferner schwangern Personen in der zweiten Hälfte ihrer Schwangerschaft gewisse ihnen schädliche Arbeiten;
Wöchnerinnen sollten eine Zeit nach und möglichst auch noch vor der Entbindung nicht arbeiten dürfen, und Hausfrauen sollten mittags eine Pause von 1½ Stunde und den Sonnabend-Nachmittag frei haben.
Abgesehen von der Schweiz, [* 6] läßt die Gesetzgebung aller Staaten auf diesem Gebiet noch viel zu wünschen übrig (vgl. Fabrikgesetzgebung).
Eine vollständig genügende Arbeiterschutzgesetzgebung kann erst durch internationale Regelung erzielt werden. Zu den berechtigtsten Forderungen der Arbeiterklasse gehört die Durchführung einer humanen Arbeitszeit und Arbeitsart auch für erwachsene Arbeiter. Sie zu verwirklichen, gibt es nur zwei Mittel: die Organisation der Arbeiter in Verbänden (Gewerkvereinen, s. d.) und die staatliche Intervention. Letztere ist an sich das einfachere und sicherere Mittel.
Daß der Staat dazu, selbst zur Bestimmung einer Maximalarbeitszeit (sogen. Normalarbeitstag), das Recht hat, unterliegt keinem Zweifel. Ob er eingreifen soll, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Einen solchen Normalarbeitstag hat die Gesetzgebung in der Schweiz und in Österreich eingeführt, in andern Ländern, wie insbesondere in England, wurde durch die Bestimmungen über Arbeit von Kindern, Frauen und jugendlichen Personen mittelbar auch auf die Arbeitszeit von Männern eingewirkt.
Dagegen sollten Nacht- und Sonntagsarbeit überall beseitigt werden, wo nicht die Technik den ununterbrochenen Betrieb erheischt. In der Schweiz nahm der Gesetzgeber an, daß Nacht- und Sonntagsarbeit unbeschadet der Konkurrenzkraft fortfallen könnte, und verbot sie unbedingt. Andre Staaten gingen nicht so weit. Allgemein aber sollte auch in diesen für die gestattete Nacht- und Sonntagsarbeit die Gesetzgebung den Schichtwechsel vorschreiben. Auf Verhinderung der gesundheitsschädlichen Arbeitsart können Arbeiterverbände naturgemäß in geringerm Grad einwirken.
Hier ist Einschreiten des Staats teils auf gesetzlichem, teils auf dem Verwaltungsweg geboten; am weitesten gehen in dieser Beziehung England und die Schweiz (s. Fabrikgesetzgebung). Weiter sind zu fordern: Bestimmungen über Erlaß von Fabrikordnungen (s. d.);
polizeiliche Überwachung der
Arbeiterwohnungen und das Verbot der Benutzung schlechter, insbesondere
gesundheitsschädlicher,
Wohnungen (ein Arbeiterwo
hnungsgesetz, das wenigstens einem Teil der Übelstände begegnet, besteht
allein in
England,
Gesetz vom
die Errichtung von Gewerbegerichten (s. d.);
die staatliche Anerkennung von Einigungsämtern (s. d.);
die gesetzliche Regelung des Hilfskassenwesens (s. Hilfskassen), der Haftpflicht (s. d.);
das Verbot des Trucksystems (s. d.) und endlich die Errichtung besonderer obrigkeitlicher Organe (Fabrikinspektoren, Gewerberäte in Preußen) [* 7] zur steten Kontrolle der thatsächlichen Arbeiterverhältnisse und zur Sicherung der guten Durchführung der Schutzgesetze (s. Fabrikinspektion).
2) Private Maßregeln können sich erstrecken auf Beschaffung gesunder und billiger Wohnungen (vgl. Arbeiterwohnungen), dann darauf, daß man den Arbeitern die Vorteile des Genossenschaftswesens (s. Genossenschaften) zugänglich macht, wobei möglichst zu sorgen ist, daß (bei Konsumvereinen) der Arbeiter auch Ersparnisse erzielen kann.
Eine Erhöhung des Einkommens der Arbeiter kann im allgemeinen nicht durch eine anderweitige Verteilung des bisherigen Ertrags der Unternehmungen erreicht werden, sondern nur durch Steigerung von Arbeitsfähigkeit und Arbeitsfleiß und durch eine Organisation der Lohnarbeiter (in Gewerkvereinen), welche bewirkt, daß der hierdurch entstehende Mehrwert der Arbeitsleistungen auch wirklich den Arbeitern zu teil werde. Als besondere Mittel, um Arbeitsfleiß und Arbeitserfolg zu erhöhen, sind zu erwähnen: die Einführung des Akkord- oder Stücklohns, wo diese Lohnzahlung anwendbar, statt des Zeitlohns und, wo der Zeitlohn die einzig mögliche Lohnart ist, die Gewährung von Prämien für Mehrleistungen über die Normalleistungen;
ferner die nur in beschränkten Maß anwendbare, früher in ihrer ¶
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Bedeutung sehr überschätzte Beteiligung am Gewinn. Auch kann durch Gründung von Produktivgenossenschaften (s. Genossenschaften) das Einkommen bisheriger Lohnarbeiter erhöht werden, doch lassen leider die Schwierigkeiten, welche sich der Gründung und dem Betrieb derselben entgegenstellen, diese Unternehmungsform nur in einem eng begrenzten Maß anwendbar erscheinen. Eins der wichtigsten und für die friedliche Lösung der industriellen Arbeiterfrage unentbehrlichen Mittel sind die Gewerkvereine (s. d.) in der Organisation und mit den Zielen der englischen Trades' Unions. Weitere wesentliche Heilmittel sind die Hilfs- und Versicherungskassen (Kranken-, Unfall-, Alters-, Witwen-, Waisen-, Begräbniskassen), die Arbeiterbildungsvereine, Sparkassen (insbesondere auch in der Form von Postsparkassen, Fabriksparkassen und Pfennigsparkassen), Einigungsämter etc. (s. die betreffenden Artikel).
Für industrielle Arbeiterinnen sind insbesondere von Frauen aus den besitzenden Klassen zu gründen und zu leiten: Vereine zur Pflege der kleinen Kinder, deren Mütter den Tag über außer dem Haus beschäftigt sind, in Kleinkinderbewahranstalten (Krippen, Kindergärten), Vereine zur Unterstützung von Wöchnerinnen und Vereine, welche unverheirateten Arbeiterinnen eine ordentliche Wohnung und Verpflegung vermitteln und ihnen in den freien Stunden Gelegenheit geben, sich in weiblichen Arbeiten und anderm, was eine tüchtige Arbeiterfrau wissen sollte, auszubilden.
Ein Hauptmittel für die Lösung ist aber auch noch die individuelle Einwirkung der Arbeitgeber auf ihre Arbeiter zur Besserung der Lage derselben. Gerade die Arbeitgeber vermögen, wenn sie in dem Bewußtsein ihrer sittlichen Pflichten energisch für das Wohl ihrer Arbeiter sorgen, dasselbe am meisten zu fördern. Der Haß und die Erbitterung von Arbeitern gegen Arbeitgeber, über welche so oft geklagt wird, wären sicher nicht vorhanden, wenn alle Arbeitgeber diese Pflichten erfüllten. Gute, humane, für das Wohl der ihnen anvertrauten Personen sorgende Menschen laden nicht auf sich den Haß und die Erbitterung derer, denen sie nur Gutes erwiesen.
Vgl. Schönberg, Die gewerbliche Arbeiterfrage (»Handbuch der politischen Ökonomie«, 2. Aufl., Tübing. 1885);
weitere Litteratur s. Arbeiterfrage.