beobachtet werden. In der
Regel sind die Idiosynkrasien angeboren; doch können sie auch, besonders infolge erschöpfender
Krankheiten, erworben werden, und in diesem
Fall nähern sie sich dem Zustand der
Hyperästhesie, d. h. einer krankhaft gesteigerten
Empfindlichkeit der
Nerven.
[* 2]
(Idiotismus, griech.), in der
Medizin derjenige Zustand der geistigen Abschwächung und des
Blödsinns, welcher entweder (meist) angeboren, oder in frühster Kindheit erworben ist. Das
Wesen der I. beruht deshalb im
allgemeinen auf einer Entwickelungshemmung des
Gehirns, welcher die mannigfaltigsten krankhaften Veränderungen der knöchernen
Hülle
(Schädel), der
Häute und des
Gehirns selbst zu
Grunde liegen; indes ist dieser Zustand auch bei anscheinend normalem
Verhalten des
Schädels und
Gehirns beobachtet worden, obwohl auch in diesen
Fällen eine nähere oder entferntere
Ursache
(Erblichkeit,
Epilepsie in den verschiedensten
Graden) sich in der
Regel nachweisen ließ.
Jene Veränderungen können teils direkt durch
Verletzungen vor, bei oder nach der
Geburt, teils indirekt durch lokale Erkrankungen
während der frühsten Entwickelungsepochen hervorgerufen worden sein, oder sie beruhen auf angebornen
Bildungsfehlern im
Zentralorgan mit seinen
Hüllen. Die Gestalt und der
Umfang des
Schädels sind bei den Idioten außerordentlich
mannigfaltige, in die äußersten
Extreme überspringende; doch tritt die
Mikrokephalie im ganzen häufiger auf als die
Makrokephalie.
[* 3]
Von ersterer finden sich ganz minimale Verhältnisse bei sonst nahezu normalen
Körpermaßen verzeichnet,
und man gibt der frühzeitigen
Verknöcherung der
Nähte sowie der dadurch herbeigeführten
Verengerung der im
Knochen
[* 4] liegenden
Kanäle für die aufsteigenden Ernährungsgefäße zum
Gehirn
[* 5] die Hauptschuld; weniger häufig tritt die
Makrokephalie im ursachlichen
Zusammenhang mit abnorm massenhafter Wasseransammlung in
Höhlen und
Häuten des
Gehirns auf, doch finden
sich auch hier Aufzeichnungen von wahrhaft erstaunlichen
Ausdehnungen des knöchernen
Gewölbes.
Außer diesen beiden extremen Dimensionsanomalien finden sich
Anomalien des Längendurchmessers
(Lang- und Kurzschädel), des
Breitendurchmessers
(Breit- und Schmalschädel), der
Höhe
(Spitz- und Flachschädel) und der
Symmetrie (Schiefschädel, vorwaltend
entwickelter
Stirn- und Hinterhauptteil, eingesattelte und einseitig eingedrückte
Schädel). Die
Häute
können gleichmäßig oder stellenweise verdickt, mit dem
Schädel oder der Gehirnoberfläche verwachsen, teilweise verknöchert,
mit losen Knochenlamellen (in der Falx),
Fibroiden,
Tuberkeln und andern
Neubildungen besetzt sein; das
Gehirn kann in seiner
Konsistenz oder
Textur total oder lokal verändert (erweicht, wassersüchtig, sklerosiert) sein.
Jede einzelne dieser
Anomalien kann sich mit der andern verbinden, und so gestaltet sich eine unendliche
Mannigfaltigkeit der
Formen; namentlich ist ein Hauptaugenmerk auf die Zuckerhut- und platte Form zu richten, welch letztere
nicht bloß bei Breitschädeln, sondern auch bei der
Makrokephalie und dem Schmalschädel vorkommt. In gleicher
Weise treten
die
Erscheinungen der Entwickelungshemmung im übrigen
Körper sowohl in seiner
Totalität als in einzelnen
Teilen auf, und es mag nur hervorgehoben werden, daß das Wachstum und die
Entwickelung des
Körpers bei der I. im allgemeinen
wesentlich zurückbleiben
(Kind).
Mögen aber nun die ätiologischen
Momente näher oder entfernter liegen, in der individuellen
Konstitution, organischen
Struktur oder in dem Vorleben der Eltern zu
suchen
sein - in allen
Fällen ist das
Wesen der I. ein Schwächezustand aller Seelenvermögen:
der
Intelligenz, des
Willens und des Gemütslebens, welcher teils schon von
Geburt an, teils in der frühsten Kindheit in die
Erscheinung tritt und zwar in allenGraden, von der absoluten
Nullität und Unzugänglichkeit anhebend bis
nahezu an die
Grenzen
[* 6] der normalen geistigen Thätigkeit und
Empfänglichkeit gleichalteriger Durchschnittsindividuen heranreichend.
Diesen verschiedenen
Graden entsprechend, sind denn auch die Bezeichnungen eingeführt:
Blödsinn (I., Fatuitas),
Schwachsinn
(Imbecillitas). Infolge der abgestumpften, verminderten
Empfänglichkeit für äußere Sinneseindrücke und sinnliche
Wahrnehmungen
kommen entweder gar keine
Anschauungen oder
Vorstellungen, oder nur sehr unbestimmte und korrumpierte oder
rudimentäre zu stande, und dem entsprechend werden auch weder
Begriffe noch
Urteile gebildet, oder die erzeugten
Eindrücke
gehen rasch wieder zu
Grunde.
Hieraus entsteht Mangel an
Aufmerksamkeit, an
Gedächtnis, an Sprech- und Sprachfähigkeit und an Produktivität. Bei dem tiefsten
Grade der I. herrscht ein apathisches, ödes, unzugängliches Traumleben, in welchem selbst die
Sinnesorgane kaum die
Eindrücke
aufnehmen und nach innen vermitteln können. In gleichem
Grad ist das Gemütsleben stumpf, wenn auch immer noch im allgemeinen
empfänglicher als die intellektuelle
Sphäre. Ebenso sind auch die Reaktionsfähigkeit vermindert und abgestumpft, der
Willensimpuls abgeschwächt und verlangsamt, die beabsichtigten
Bewegungen retardiert, unvollkommen, energielos oder auch
dem
Willen ganz entrückt, unzweckmäßig, automatisch.
Idioten des niedrigsten
Grades sind gleichgültig und reaktionslos gegen alles, was um sie her geschieht; sie folgen den Gegenständen
oder
Personen mit den
Augen nur langsam und mühsam ohne besonderes
Interesse oder auch gar nicht, sie hören
auf keinen
Ruf, verbrennen sich am heißen
Öfen,
[* 7] greifen in die heiße Suppenschüssel ohne lebhafte Schmerzensäußerungen,
geben bei entzündlichen
Krankheiten nur geringe subjektive
Symptome zu erkennen; der
Geschmack und
Geruch haben für sie keine
Bedeutung, der
Geschlechtstrieb ist meist ganz erloschen.
Diesem
Torpor derSinnes- und Bewegungsorgane steht die Agilität und Versatilität andrer Idioten gegenüber,
welchen bei steter, anscheinend zweckmäßiger Beweglichkeit,
Elastizität der
Muskeln
[* 8] aller willkürlichen Bewegungsorgane
und bei großer Volubilität der
Zunge dennoch in den niedrigsten
Graden dieselbe Unzugänglichkeit und Unempfänglichkeit
für alle äußern Sinneseindrücke zukommt wie der torpiden Form, weil die
Eindrücke hier zu flüchtig,
wechselnd, blitzartig, oberflächlich sind, als daß dieselben wirklich zur
Perzeption gelangen und haften bleiben können.
Was aber etwa ja aufgenommen worden ist, bleibt zusammenhangslos, chaotisch-wirr und wird auch in dieser
Weise bunt durcheinander
reproduziert. Von dieser niedrigsten
Stufe aufwärts gibt es eine unendlich verschiedene
Staffel bis zumSchwachsinn
(Imbecillität), vom bloßen
Vermögen der einfachsten Wortformation bis zur zusammenhängenden Satzbildung, von der primitivsten
Anschauung bis zu koordinierten Vorstellungsreihen, von der automatischen, trägen Bewegungsäußerung bis zur mechanischen
Geschicklichkeit und nützlichen Verwendbarkeit, von der Gemütsstumpfheit bis zur kindlichen Anhänglichkeit und
Liebe. Aber
in allen Äußerungen der
Intelligenz, des
Gefühls, desGemüts und des
Willens bleiben sie unter der
Norm
selbständiger
¶
mehr
Gedankenoperationen stehen; die psychischen Akte entbehren der Raschheit, Schärfe, Logik und der Spontaneität.
Hiernach gestaltet sich auch die äußere Erscheinung der Idioten, die bald plump, ungelenk, still im Winkel
[* 10] hockend, träumerisch
den Blick ins Leere gerichtet, geifern, ihre Exkrete von sich gehen lassen oder die Fingernägel abkauen, die Haare
[* 11] auszupfen,
die Kleider zerzupfen, bald unmotiviert umherspringen, tanzen, im Ring sich drehen, trällern, lachen, laut aufkreischen, nergeln,
weinen oder plötzlich aus einer Ecke in die andre schießen, bald in monotonen Schaukelbewegungen den ganzen Oberkörper
nach Art der Bären hin- und herwiegen, einen Faden
[* 12] vor den Augen drehen, starr in die Sonne
[* 13] sehen, die gespreizten
Finger vor den Augen auf- und abbewegen, alles betasten, belecken, beriechen, zerstören oder mutwillig umwerfen.
Die einzelnen typischen Formen der I., wie sie aus der Praxis herausgegriffen sind, können in folgende zusammengefaßt werden.
Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß bei den Makrokephalen mehr der torpide, bei den Mikrokephalen
mehr der agitierte (versatile) Typus vorherrscht. Eine ganz besondere Art der Mikrokephalie ist der Aztekentypus mit verschwindend
niederm Schädeldach, zurücktretendem Stirnteil, vorstehenden Augäpfeln, scharf hervortretender, spitzer Nase
[* 14] und zurückweichendem,
kleinem Kinn, so daß diese Art von Idioten einem Vogelkopf ähnelt.
Eine andre Form kommt vorwaltend bei dem breiten Plattschädel vor mit vorgedrängtem Stirnteil, tief
eingedrücktem Nasenrücken, aufgestülpter Nase, breitem und vorstehendem Oberkiefer. Was endlich die Typen anlangt, welche
von der gesamten Konstitution abhängig sind, so treten vornehmlich zwei Formen hervor, denen die lymphatisch-skrofulöse Konstitution
zu Grunde liegt. Die Idioten der einen Form zeichnen sich durch auffällige Kleinheit des ganzen Körpers
wie auch des Schädels aus, haben hervorquellende Augen, kleines, stumpfes, aufgestülptes Näschen, aufgesprungene Lippen,
dicke, zerfurchte Zunge, kahnförmig gewölbten, harten Gaumen, defekte Zähne,
[* 15] dünnen Hals, schmale, flache Brust, aufgetriebenen
Unterleib, rhachitisch gekrümmte, dünne Beine, rauhe, näselnde Stimme und sind beweglich, agil, stets munter, fahrig und
possenhaft. Die Prognose ist schlecht. Die andre Form ist der Kretin, eine Komplikation der I. mit körperlicher
Verunstaltung und plumpem Äußern, dessen Grundtypus in dem sogen. alpinen oder endemischen
Kretin sich ausspricht.
Neben diesen Typen treten einzelne schärfer sich abzeichnende Formen psychischer Abnormitäten heraus, welche den wirklichen
Psychosen mehr oder weniger entsprechen und als kindliche Irreseinsformen zu bezeichnen sind. Hierher
gehören die Zustände von Beängstigungen mit Willensschwäche, Abneigung gegen Berührung, gegen den Verkehr mit andern,
mit Vernichtungs- und Selbstvernichtungstrieb (meist bei Epileptikern), wie sie in der Melancholie vorkommen; die Exaltationszustände
mit Zerstörungstrieb und Lärmsucht, welche der Manie entsprechen; die perversen Sinnesempfindungen, Halluzinationen und
krankhaften Auffassungen alles Geschehens, wie beim Wahnsinn, wobei eine größere geistige Kapazität vorausgesetzt werden
muß. Gerade diese Formen des kindlichen Irreseins werden oft als Ungezogenheiten, Bosheiten u. dgl. aufgefaßt und geben Anlaß
zu ungerechter, falscher Behandlung (s. unten).
Die I. bietet ihrem degenerativen Wesen nach eine sehr traurige Prognose für die Heilung, wenn auch vereinzelte Fälle von körperlichen
Schwäche- und Ernährungszuständen nach vorausgegangenen akuten Krankheiten eine Ausnahme bilden dürften;
allein sie ist dennoch besserungsfähig und bedarf deswegen immer der dringendsten Beachtung und pfleglicher Behandlung,
wenn nicht durch Vernachlässigung und Verwahrlosung für die Gesellschaft, die Familien und Individuen selbst unübersehbare
Nachteile entstehen sollen.
Die Behandlung richtet sich nach dem Grade des Blödsinns und nach den Komplikationen und muß deshalb durchaus
individualisierend sein. Dieselbe kann aber, da hierzu ein intimes Verhältnis des oft sehr dunkeln Zustandes vorausgesetzt
werden muß, keineswegs ausreichend innerhalb des Familienkreises gepflegt und ausgeübt werden, sondern kann eigentlich
nur in hierzu eigens eingerichteten Anstalten mit besonders geschultem Personal von wirklichem Vorteil sein.
Noch weit mehr als die Irrsinnigen gehören die Idioten in diese Anstalten, deren Aufgabe es ist,
die I. durch direkten und indirekten Einfluß, Schutz vor Reizungen, Unbilden und übeln Beeinflussungen sowie vor tieferm
Versinken zu bekämpfen, entsprechend zu nähren, zu kräftigen und womöglich in die Bahnen nützlicher Thätigkeit zu leiten,
vor allem aber die rudimentären geistigen Kräfte zu konservieren, auszubilden und der Norm möglichst
nahe zu bringen. Dies geschieht durch Pflege, Erziehung und Unterricht. Da nun der ganze Zustand ein psychopathologischer ist,
so sind vor allen Dingen die Irrenärzte berufen, die Leitung solcher Anstalten zu übernehmen und nach den Bedürfnissen
der individuellen Krankheitszustände des Gehirns die Pflege wie die Erziehung zu überwachen.
Die Pflege der Verkümmerten, Verkrüppelten und Siechlinge, wie sie entweder den Anstalten zugeführt werden, oder wie sich
das traurige Ende ihres kümmerlichen Daseins so oft gestaltet, fällt ganz mit der gewöhnlichen Krankenpflege zusammen,
und selbst die Spiele, die Beschäftigungen und der erste Anschauungsunterricht erheischen das Festhalten
an jenen Grundsätzen der Diätetik. Hier berühren sich die Aufgaben des Arztes und Pädagogen, und es war zuerst Karl Ferd.
Kern, der sich als Taubstummenlehrer schon 1839 mit der Erziehung der idiotischen Kinder beschäftigte, später in der Erkenntnis
jener Notwendigkeit selbst Medizin studierte und nach den Grundsätzen seiner Dissertation »De fatuitatis
cura et medica et paedagogica consocianda« die von ihm
¶