Die Entziehung der
Nahrung wurde früher zu Heilzwecken nicht selten angewendet auf
Grund mannigfacher theoretischer
Vorstellungen, welche durch das fortschreitende Verständnis für die
Physiologie der
Ernährung allmählich in Vergessenheit
geraten sind. So wurde eine Hungerkur empfohlen bei allgemeiner Fettleibigkeit, wo heute zweckmäßige
Regulierung der
Ernährung,
Brunnen- und
Badekuren oder auch die
Bantingkur gebraucht wird;
ja, man glaubte sogar
Neubildungen,
Krebse u. dgl. durch allgemeine Nahrungsentziehung,
sozusagen durch
Aushungern, zum
Schwund bringen zu können.
Jede Hungerkur ist ein gefährliches
Heilmittel, da es die Körperkräfte schwächt, und selbst bei manchen fieberhaften
Zuständen, bei denen das
Hungern von ältern
Ärzten für die erste Grundbedingung für die
Heilung betrachtet wurde, kommt
man davon mehr und mehr zurück. Die
Methoden der Hungerkur sind hauptsächlich folgende: Bei der schmalen oder Fieberdiät erhält
der Kranke entweder nur
Getränke mit säuerlichen, süßen oder schleimigen Zusätzen, welch letztere
ihm statt gelinder
Nahrung dienen, oder, was besser ist, er genießt täglich zwei-, auch wohl dreimal zur Zeit des Fiebernachlasses
einen dünnen
Aufguß eines feinen und fettlosen Weizengebäcks in Gestalt von
Suppe oder
Thee mit
Zwieback etc.; Fleischkost
ist gänzlich ausgeschlossen.
Von andern
Speisen sind fast nur die gekochten süßern Obstarten und allenfalls, doch schon der festern
Textur wegen nur mit Vorsicht, einige Wurzelgemüse: junge
Möhren, Pastinaken u. ähnliche, erlaubt. Eine eigentliche Hungerkur. (Curatio
per inediam, Nestotherapia) ist es, wenn bei Tobsüchtigen bis zum Ende des Anfalls
Speise und Trank versagt bleiben; hier
tritt am reinsten der wirkliche
Hunger (nicht bloße Eßlust) als mächtig heilender
Instinkt auf. Bei den folgenden
Methoden
dagegen, welche gemeinhin den
Namen Hungerkuren tragen, ist es mehr ein unterhaltenes Schmachten, welches neben dem direkt
vegetationswidrigen Eingreifen der übrigen
Mittel in Anwendung gebracht wird.
Die sogen. große
Hunger- oderSchmierkur bei
Syphilis ist die künstliche Erregung eines Konsumtionszustandes
von 6-8wöchentlicher Dauer, eingeleitet durch eine 14tägige Vorbereitungskur, welche durch
Purganzen, auch wohl durch
Aderlässe,
durch allmähliche Verringerung der
Speisen und Entziehung tierischer
Nahrung, durch warme
Bäder und Stubenwärme allmählich
eine Beschränkung der
Nutrition bewirkt. Darauf folgt die eigentliche
Schmierkur, wobei einen
Tag um den
andern eine ziemliche
Dosis (8 g)
Quecksilbersalbe eingerieben wird, bis sich
Speichelfluß einstellt.
Nachdem dieser
Abschnitt der
Kur unter fortwährender Beschränkung der
Diät auf ein
Minimum von schleimiger
Suppe, Semmel und
mäßigem
Getränk gerade vier
Wochen gedauert hat, beginnt der dritte
Abschnitt, welcher den Übergang von der Entziehungsdiät
zur gewöhnlichen Lebensweise zu vermitteln hat. Diese große
Kur ist
nicht nur
an sich höchst angreifend, sondern auch möglicher
Zwischenfälle wegen geradezu gefährlich und kann langes und unheilbares Siechtum hinterlassen.
Die Vorbereitung besteht bloß in einem
Bade; die
Speisen werden dem Kranken allmählich entzogen, ein mageres, nicht zu stark
nährendes
Fleisch in kleinen
Mengen wird ihm manchmal die ganze
Kur hindurch, nebst einer gleichen
Portion Weizenbrot, gestattet.
Dabei gibt
Struve nur pflanzliche scharfe
Mittel:
Pillen von Schierlingsextrakt mit
Seife und
Holztränke
von
RadixChinae, Sassaparillae, Bardanae mit
Senna etc. Ähnlicher Art, nur daß statt der scharfen
MittelQuecksilberpräparate
innerlich oder als
Einreibung gebraucht werden, ist die Extinktionskur der
Syphilis.
Vgl. Chossat,Recherches expérimentales
sur l'inanition (Par. 1843).
zum Andenken an Mißwachsjahre geprägte
Münzen. ^[= # geprägtes Geld, s. Münzwesen; im engern Sinn s. v. w. Scheidemünze; dann das Haus und die ...]
[* 4]
(auch
Maibrunnen), periodische
Quellen, welche während der trocknen
Jahreszeit versiegen. Wenn die Landleute
aus der Reichhaltigkeit und längern Dauer der besonders aus schmelzendem Gebirgsschnee gespeisten Hungerquellen auf
bevorstehenden Mißwachs schließen, wogegen das Ausbleiben derselben als Vorbedeutung einer reichen
Ernte
[* 5] gilt, so läßt
sich dafür der Umstand anführen, daß Hungerquellen in
Niederungen und nassen Gegenden, aber auch an Berghängen
entstehen, wenn der Erdboden eine
MengeFeuchtigkeit im
Winter bereits aufgenommen hat, damit getränkt ist und also das Schneewasser
der nächsten
Erhöhungen nicht mehr einsaugen kann, so daß dieses über der Erdoberfläche zum Vorschein kommt. Da der
Boden infolgedessen wegen mangelnder
Wärme
[* 6] und
Verdunstung zu kalt bleibt, so gedeihen die
Gewächse nicht, und
es entsteht Mißwachs.
Der Mangel an den zur
Ernährung erforderlichen Brotfrüchten infolge von Mißwachs, verursacht durch große
Dürre, übergroßen Regenfall, Insektenfraß,
Pflanzenkrankheiten
[* 7] etc., hat für
Europa
[* 8] gegenwärtig keine Bedeutung mehr,
trat aber früher in den verschiedenen
Ländern unsers
Erdteils häufig und zeitweise in verheerendem
Umfang
auf. Unter den beschränkten
Wirtschafts- und Verkehrsverhältnissen, bei der Unterdrückung des Kornhandels und bei der Schwierigkeit,
Getreidevorräte aufzuspeichern oder rasch für genügende Zufuhren zu sorgen, kehrten eigentliche Hungersnöte mit einer
gewissen Regelmäßigkeit nach Mißjahren wieder.
Die außerordentliche Strenge, welche in der
Gesetzgebung der griechischen Städterepubliken in betreff
des Kornhandels herrschte, zeigt uns die
Größe der
Gefahr, vor welcher man bei jeder Mißernte in
Sparta und
Athen
[* 9] stand; ebenso
ist bekannt, daß die
Römer
[* 10] zur Zeit ihrer höchsten politischen Macht von den Getreidezufuhren aus
Sizilien
[* 11] und
Ägypten
[* 12] so
abhängig waren, daß das Ausbleiben der Getreideschiffe stets örtliche Hungersnot brachte. Besonders
heftig und mit entsetzlichen sozialen
Erscheinungen traten Hungersnöte im
Mittelalter in jenen
¶
mehr
Teilen Europas auf, wo die Bevölkerung
[* 14] rasch zugenommen hatte und der Landwirtschaftsbetrieb noch ungenügend entwickelt war.
Im ganzen karolingischen Zeitalter folgten sich die Hungersnöte, teils durch natürliche Ursachen, teils durch Aberglauben
veranlaßt, mit erschreckender Raschheit; solche werden z. B. im J. 795, dann in den »Annales
Fuldenses« für die Jahre 850, 868, 873, 874, 880, 889 beschrieben; sie wiederholten sich in den
folgenden Jahrhunderten und zwar 990, 1100, 1187 etc. mit solchen begleitenden Erscheinungen, welche den grellsten Barbarismus
hervortreten lassen. So kam es bei der Hungersnot in Frankreich 1030-32 vor, daß ein Mann 48 andre getötet und verzehrt hatte.
Ähnliche Grausamkeiten werden von einer Hungersnot in Böhmen
[* 15] 1280-82 erzählt. Selbst in Kornländern, wie Preußen,
[* 16] hörte man bei Hungersnot jener Zeit häufig, daß Leichen ausgegraben wurden, Eltern ihre Kinder schlachteten und Kinder ihre Eltern.
Die Hungersnot von 1125 verminderte Deutschlands
[* 17] Bewohner angeblich um die Hälfte. Zahlreich findet man bei den Chronisten, daß
in einer einzigen Stadt viele Hunderte von Menschen gestorben sind, sich erhängt haben etc. Allgemein galt es im Mittelalter
als eine durch die Sitte nicht verurteilte Hilfe der Stadtverwaltungen, ihre Armen vor die Stadtthore zu treiben, wo sie der
Hungertod ereilte.
Bei einer Hungersnot in Ungarn
[* 18] (1505) wurden hungernde Eltern, die ihre Kinder geschlachtet und gegessen hatten,
nicht bestraft;
noch um die Mitte des 17. Jahrh. waren in Deutschland
[* 19] Hungersnöte eine sehr häufige Erscheinung, und selbst
im 18. Jahrh. traten sie noch in der größten Ausdehnung
[* 20] auf;
so starben z. B. 1772 in Kursachsen 150,000 Menschen aus Mangel
an Nahrung. 1817 trat in Deutschland die letzte Mißernte ein, welche örtlich noch mit dem Namen Hungersnot bezeichnet
wird, und ebenso brachte noch die Mißernte von 1846 in manchen Teilen DeutschlandsFolgen, welche an die alte Hungersnot erinnern;
auch in Irland, wo die Getreidemißernte mit der Kartoffelkrankheit zusammenfiel, sollen im J. 1847 noch mehr
als 1 Mill. Menschen der und den ihr folgenden Epidemien erlegen sein.
Seit der Mitte des 19. Jahrh. ist aber eine Wiederkehr
solcher Erscheinungen unmöglich gemacht. Durch die völlige Umwälzung im Betrieb der Landwirtschaft und in der Zusammensetzung
unsrer täglichen Nahrung, noch mehr durch die Regelung und internationale Organisation derGetreide- und
Fleischzufuhr sowie die Verbesserung unsrer Handelsverhältnisse, welche eine rasche Ausgleichung von Wert und Bedarf sowie
der Preise gesichert haben, sind wir jetzt vor Hungersnöten geschützt.
Für Amerika
[* 21] wird keine einzige allgemeine Hungersnot aufgeführt; der neue Kontinent lernte bei der allmählichen Art seiner Besiedelung
nur Notstände kennen, wie sie Dürre oder andre klimatische Verhältnisse örtlich in kleinern Kreisen
bedingten. Anders liegen die Verhältnisse in Asien.
[* 22] Der Verkehr mit dem Innern ist nur in einigen Teilen von der Natur durch
schiffbare Flüsse
[* 23] erleichtert, Kanäle und Straßen bilden keine genügende Ergänzung, der Widerwille gegen Eisenbahnen oder
die Schwierigkeiten ihrer Errichtung sind nur in Ostindien
[* 24] und Japan
[* 25] überwunden. Im Innern und im hohen
Norden
[* 26] sind ungeheure Strecken Wüsteneien oder Steppen mit äußerst geringer Fruchtbarkeit, gute Ernten werden nur längs der
Flüsse oder durch künstliche Bewässerung erzielt. Im Süden mit seiner üppigen Vegetation hängen reiche Ernten von rechtzeitigem
Eintreten der Regenzeit ab. Klima
[* 27] und Religionsvorurteile bedingen eigentümliche Lebensgewohnheiten: Millionen
enthalten sich der Fleischnahrung oder
genießen nur Getreide
[* 28] bestimmter Art, z. B. Reis.
Dazu kommt stellenweise eine große Dichtigkeit der Bevölkerung, welche um so stärker von jedem Mißwachs berührt wird,
als sie an eine durchaus einseitige Ernährung gewöhnt ist und für einen Ausgleich mit dem Überschuß
andrer Gegenden alle Bedingungen fehlen. Hungersnotjahre mit allen ihren Schrecken können hier in kurzen Zwischenräumen beobachtet
werden; seit dem Beginn unsers Jahrhunderts wurde Indien schon siebenmal, Persien,
[* 29] Türkisch-Armenien und China ebenfalls wiederholt
von Hungersnot im strengsten Sinn heimgesucht.
Noch die Hungersnot von 1866 soll in Ostindien nahezu 7½ Mill. Menschen als Opfer gefordert haben, dagegen bildet
eine der interessantesten Erscheinungen, welche einen Wendepunkt für die Lebensmittelversorgung Ostindiens bedeutet, die drohende
Hungersnot des Mißjahrs 1873/74 in Bengalen. Bei derselben äußerten sich die Erfolge einer freisinnigen Kornhandelspolitik und
der Verkehrsentwickelung so glänzend, daß damit wohl die Vorbeugungs- und Heilmittel für die Zukunft
vorgezeichnet sind.
Für eine Bevölkerung von 15 Mill. Menschen mußten Lebensmittel herbeigeschafft werden, sollte nicht ein großer Teil der
Bewohner dem Elend erliegen. Es gelang der britischen Regierung, durch vortreffliche Einleitungen von Zufuhren, durch einen
gut organisierten Staats- und freien innern Kornhandel den Ausbruch einer wirklichen Hungersnot, zu deren Abwehr
die Bevölkerung niemals die eigne Kraft
[* 30] oder das richtige Verständnis hatte, zu verhüten; nur 26 Personen starben Hungersoder an Entkräftung! Allerdings wiederholte sich bald die Gefahr viel dringender im südlichen Indien; Ende 1876 war im Dekhan
unter 23 Mill. Einw. der PräsidentschaftenBombay
[* 31] und Madras,
[* 32] dann der ProvinzMaissur nur ein Sechzehntel
einer Durchschnittsernte erzielt worden.
Die Verkehrsverhältnisse lagen zwar günstiger: statt genötigt zu sein, Getreide selbst einzuführen, konnte die Regierung
dies dem Privathandel überlassen und hatte nur durch Arbeits- und Almosenverteilung einzugreifen;
allein das Mißverhältnis
zwischen der Bevölkerung und dem Lebensmittelvorrat war ein viel größeres, die Sterblichkeit war eine
sehr große, und bis zum Ende der Hungersnot (Januar 1878) erlagen 1,300,000 der Bevölkerung den Entbehrungen.
Die systematischen
Verwaltungsmaßregeln, welche von der Famine Commission besonders in Bezug auf das Netz der Verkehrsmittel und die Hebung
[* 33] der
Bodenkultur eingeleitet wurden, dürften auch Ostindien bald vor der häufigen Wiederkehr eigentlicher
Hungersnot bewahren. Persien brachte die Hungersnot von 1870 bis 1872, die sich über das ganze Reich verbreitete, nach dem Urteil eines Augenzeugen
um 30 Jahre zurück; es verlor nicht weniger als 1½ Mill. Menschen, d. h. ein Viertel seiner Einwohner.
Die Kopflosigkeit und Habgier der Behörden trugen wesentlich die Schuld an dieser Größe des Elends. In
Kleinasien wurden 1873-1875 die innern ProvinzenAngora und das südlich daran anschließende Konia (Ikonion) schwer heimgesucht.
In Chinawar in den Nordprovinzen Schensi, Schansi und Honan eine Bevölkerung von 56 Mill. infolge anhaltender Dürre und Mißernte
seit 1877 einem fürchterlichen Notstand jahrelang preisgegeben. In ihrer Verzweiflung griffen die niedern
Volksklassen zu ganz unmenschlichen Mitteln, wie Kindermord und -Verkauf, plündernde Banden verwüsteten das Land. Man schätzte
die Zahl der Opfer auf 4-6 Mill. Menschen. Die größte Schuld trugen die schlechten Verkehrswege, welche Zufuhren unmöglich
machten.