Homöopathie
(griech.), ein von Samuel Hahnemann (s. d.) erfundenes Heilsystem, dessen Name nur zu verstehen ist, sobald man das Hauptprinzip der Homöopathie begriffen hat. Dieses Prinzip geht von dem Dogma aus, daß jedes Heilmittel im gesunden Körper eine Krankheit hervorrufe, wie solche auch selbständig entstehen kann, und daß es darauf ankomme, eine jede Krankheit durch das ihr ähnliche (homoios) Mittel (similia similibus) zu bekämpfen. Es würde zu weit führen, das mystische, überall den Erfahrungen der Chemie, Physik und Pathologie widersprechende System, das, anstatt auf Beobachtungen, auf gänzlich unbewiesenen Glaubenssätzen aufgebaut ist, hier auszuführen, zumal eine treue Wiedergabe bei den vielfachen Änderungen, welche die Homöopathie täglich erfährt, ganz unmöglich wäre.
Das philosophische Beiwerk ist auch nicht von so großer praktischer Bedeutung wie die Heilmethode selbst. Hier steht obenan wiederum ein Satz, der so aller täglichen Erfahrung widerstreitet, daß wohl nur das unbegreiflich Paradoxe viele gläubige Menschen fesseln mag; er lautet: »Je geringer die Dosis der Arznei, um so größer die Wirkung!« Wer diesen Glaubensartikel auf die tägliche Nahrung ausdehnte, würde wohl bald bekehrt werden;
allein die Homöopathie treibt mit ihm einen eigentümlichen
Kultus: »Durch anhaltendes Schütteln und Reiben wird die
Wirkung der Arzneien am meisten verstärkt und zwar
bis zu völliger
Auflösung des arzneilichen
Stoffes zu lauter arzneilichem
Geiste. Dies geht so weit, daß selbst solche
Substanzen, die im rohen Zustand gar keine arzneiliche Wirksamkeit haben, wie
Blattgold,
Blattsilber,
Kohle, je länger sie gerieben
und verdünnt werden mit und durch unarzneiliche (also unarzneiliche mit unarzneilichen)
Substanzen, um so höhere arzneiliche
Kraft
[* 2] entwickeln. So wirkt z. B. das
Gold
[* 3] in der 12. Verdünnung so stark, daß bloßes Daranriechen schon
hinreicht, die zum
Selbstmord treibende
Melancholie in einer
Stunde zu vernichten und volle
Liebe zum
Leben zurückzurufen. Im
Reiben und Schütteln ist
Maß zu halten, damit man die Potenzierung nicht zu weit treibe; denn ein
Tropfen
von
Drosera, in 30. Verdünnung mit 20 Armschlägen bei jeder Verdünnung geschüttelt, bringt ein am
Keuchhusten erkranktes
Kind in Lebensgefahr, während er, wenn nur zweimal geschüttelt wurde, dasselbe leicht heilt. Ebendeshalb muß man auch
höchst genau bei der Bereitung der Arzneien verfahren und stets bezeichnen, wie stark Verdünnung und
Potenzierung ist. Man nimmt von der zu verdünnenden Arznei, wenn sie flüssig ist, 1
Tropfen und vermischt ihn mit 100
Tropfen
destillierten
Wassers oder
Weingeistes, indem man das Gläschen zwei- bis zehnmal mit kräftigen Armschlägen auf- und niederschüttelt;
wenn es
Pulver ist, nimmt man 1/16 g und zerreibt es 10
Minuten lang, indem man abwechselnd 10
Sekunden
reibt und 4
Sekunden lang zusammenscharrt, mit 6,25 g
Milchzucker.
Pulver brauchen nur bis zur 3. Verdünnung verrieben zu werden,
da sie von da ab schon auflöslich sind. Man bringt dann, da die flüssige Form leichter zu behandeln ist als
Pulver, 1/16
g desselben in 100
Tropfen
Flüssigkeit und verfährt nun, als wenn die Arznei ursprünglich flüssig gewesen
wäre.
Soll von diesen Arzneien 1
Tropfen gegeben werden, so bezeichnet man dies durch eine arabische
Eins; ist es aber wegen
der großen
Kraft der Arzneien nötig, die in möglichst kleinem
Raum anzuwenden, so nimmt man
Streukügelchen,
vom
Konditor aus
Stärkemehl oder
Zucker
[* 4] bereitet, von denen etwa 200 auf 1/16 g gehen, befeuchtet diese Kügelchen mit der
verlangten Verdünnung und läßt sie wieder trocken werden. Von diesen
Kügelchen nimmt man nun, je nach der Absicht, 1, 2 oder 3 und
bezeichnet diese Absicht im
Rezept mit ebenso vielen
Punkten. Wo aber die
Kraft des
Mittels selbst bei einem
dieser Kügelchen noch so
groß ist, daß die Wirkungsdauer, wie z. B. beim Kaustikum und beim
Kochsalz, über 50
Tage anhält,
da ist es besser, an einem solchen
Streukügelchen nur riechen zu lassen, was die Wirkungsdauer ungefähr um
die Hälfte abkürzt. Solange die Besserung in irgend einer
Krankheit anhält, darf keine neue Anwendung irgend eines
Mittels
erfolgen. Erst wenn die Besserung einen Stillstand macht und die
Krankheit doch noch fortdauert, hat man, da nun die Wirkungsdauer
des vorigen
Medikaments beendet ist, die Krankheitssymptome von neuem zu prüfen und von neuem ein passendes
Mittel auszuwählen, das nur selten dasselbe sein wird.
Wäre es aber der
Fall, so muß es in immer kleinerer
Gabe gereicht werden,
um die Besserung nicht zu stören; denn jede zweite
Gabe derselben Arznei hebt zum Teil die
Wirkung der ersten wieder auf durch
Äußerung der gegenteiligen
Wechselwirkung. Verschlimmert sich aber die
Krankheit, so war
die Arznei nicht
homöopathisch gewählt, und hier darf man die Wirkungsdauer der gereichten
Gabe nicht abwarten
, sondern muß eine andre,
genauer passende Arznei geben.«
Diese Probe dürfte ausreichen, um zu zeigen, daß die Homöopathie dem gesunden Verstand mehr als dem kranken Körper zumutet, und es ist bedauerlich, daß aus Mangel an Kritik die Homöopathie von vielen Dilettanten und Dilettantinnen selbst in Fällen betrieben wird, bei denen im Vertrauen auf die Zuckerkügelchen die rechtzeitige ärztliche Hilfe verabsäumt wird. Ein Verdienst, wenn auch ein mehr negatives, hat sich der Begründer der Homöopathie allerdings um die Heilkunst erworben; denn er hat durch sein Verfahren den Beweis dafür geliefert, daß viele Krankheiten, bei zweckmäßiger Diät, auch ohne allen Arzneigebrauch gehoben werden können.
Wie in diesem Punkt, so nähern sich überhaupt die Anhänger der Homöopathie in der Neuzeit in vielen Beziehungen den therapeutischen Grundsätzen der modernen wissenschaftlichen Medizin, indem sie manche Sätze Hahnemanns aufgegeben, andre bedeutend abgeändert, die ins Unendliche gehenden Verdünnungen abgeschafft und die Arzneien stoffreicher gemacht sowie insbesondere die pathologischen und physiologischen Entdeckungen der neuern Heilkunde sich angeeignet und für die Behandlung der Kranken nutzbar zu machen gesucht haben.
Diese Fraktion der Homöopathen ist besonders vertreten in Hirschels »Zeitschrift für homöopathische Klinik« (1851-79) und in der »Homöopathischen Vierteljahrsschrift« (1850-64). Während die Homöopathie früher ausschließlich von Laien, d. h. von Personen betrieben wurde, welche ohne medizinische Vorkenntnisse nur nach vorgeschriebenem Schema Verordnungen trafen, zählt die Homöopathie der Neuzeit zahlreiche approbierte Ärzte zu ihren Anhängern, von denen allerdings die wenigsten ausschließlich nach den Hahnemannschen Grundsätzen verfahren, sondern je nach Ermessen bald homöopathische Mittel, bald die großen Gaben der von ihnen so heftig bekämpften medizinischen Schulen verordnen. Eine wirksame Unterstützung gewährt der Homöopathie die ihr vom Staat zugestandene Dispensierfreiheit, welche den Homöopathen gestattet, ihre Mittel selbst zu bereiten und zu verkaufen, während die Ärzte solche nur durch den Apotheker herstellen und abgeben lassen dürfen. In den Vereinigten Staaten [* 5] von Nordamerika [* 6] blüht die unter staatlichem Schutz mit denselben Rechten wie die übrigen medizinischen Schulen. Es gibt daselbst auch Hospitäler, ¶
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sogar mit chirurgischen Abteilungen, was nur möglich ist unter der nahezu unbegrenzten Dehnbarkeit, welche dem Begriff der Homöopathie von ihren Anhängern im Lauf der Zeit errungen worden ist. Eine gute, kurze Anweisung zur praktischen Ausübung der Homöopathie vom neuern Standpunkt aus ist: Hirschel, Der homöopathische Arzneischatz in seiner Anwendung am Krankenbett (13. Aufl., Leipz. 1884);
dann Clotar Müller, Homöopathischer Haus- und Familienarzt (11. Aufl., das. 1884);
Hering, Homöopathischer Hausarzt (14. Aufl. Jena [* 8] 1876);
v. Gerhardt, Handbuch der Homöopathie (4. Aufl., Leipz. 1885).
Vgl. ferner, was die Theorie der modernen Homöopathie anbetrifft: Hirschel, Grundriß der Homöopathie (2. Aufl., Dess. 1854);
Derselbe, Die und ihre Bekenner, ein Mahnruf (2. Aufl., Dresd. 1863);
Wislicenus, Entwickelung eines wahrhaft physiologischen Heilverfahrens (Leipz. 1860);
Jahr, Die Lehren [* 9] und Grundsätze der homöopathischen Heilkunst (Stuttg. 1857);
Lutze, Lehrbuch der Homöopathie (Sondersh. 1847; 10. Aufl., Köth. 1882).
Sehr viele gute homöopathische Arzneiprüfungen findet man in der »Österreichischen Zeitschrift für Homöopathie«, herausgegeben vom Verein österreichischer homöopathischer Ärzte. In der gleichen Richtung werden die Monographien von Sorge über den Phosphor (Leipz. 1862),
von Bahr über die Digitalis (das. 1859) u. a. gerühmt. Über die Vorkommnisse auf dem Gesamtgebiet der Homöopathie geben verschiedene Zeitschriften Auskunft, von welchen noch anzuführen sind: die »Allgemeine homöopathische Zeitung« (Leipz., seit 1832 erscheinend);
die »Homöopathischen Monatsblätter« (11. Jahrg., Stuttg. 1886);
»Populäre Zeitschrift für Homöopathie« (Leipz., seit 1870) u. a. Für die ältere Homöopathie sind außer den oben angeführten besonders zu nennen: Stapf, Archiv für homöopathische Heilkunst (Leipz. 1822-48);
Hartlaub, Annalen der homöopathischen Klinik (das. 1830-33).
Über die Schriften Hahnemanns s. d.
Vgl. Kleinert, Geschichte der Homöopathie (Leipz. 1862);
Köppe, Die Homöopathie Hahnemanns und die der Neuzeit (Berl. 1880).
Eine Kritik der Homöopathie auf geschichtlicher Grundlage gibt Rigler, Die und ihre Bedeutung für das öffentliche Wohl (Berl. 1882).