bei größern Tieren die Hinterfußwurzel oder das Sprunggelenk, auch die Partie des Unterschenkels oberhalb
des Sprunggelenks, wo die Achillessehne liegt.
1) Auguste, franz. Maler, geb. 1795 zu Paris, Schüler von Gros, errang 1818 mit dem Bild: Philemon und Baucis den
römischen Preis und hatte sich bereits mit Erfolg in Darstellungen aus der Profangeschichte bethätigt, als er zur Ingresschen
Richtung übertrat und nun meist auf religiösem Gebiet sich bewegte. Die Kirchen Notre-Dame de Lorette,
Ste.-Elisabeth, Bonne Nouvelle, St.-Eustache, St.-Séverin und St.-Sulpice besitzen Malereien von seiner Hand. Hesse starb in
Paris.
2) Alexandre, franz. Maler, Neffe des vorigen, geb. zu Paris, Schüler von Gros, bildete dann durch Studien in Venedig
sein Kolorit weiter aus und begründete seinen Ruf durch das Leichenbegängnis Tizians (im Salon von 1833).
Er suchte zwischen der romantischen und historischen Richtung zu vermitteln, schadete seinen Bildern aber durch zu große
Glätte. Seine Hauptwerke sind: Leonardo da Vinci (1836), Tod des Präsidenten Brisson (1840), Triumph Pisanis (1847), die beiden
Foscari (1853), Adoption Gottfrieds von Bouillon durch Alexander Komnenos und Belagerung von Beirut durch die
Kreuzfahrer (beide in Versailles). In der Kirche St.-Sulpice führte er einen Cyklus religiöser Malereien, Momente aus dem Leben
des heil. Franz von Sales, andre in den Kirchen von St.-Séverin und St.-Gervais aus. Er starb in
Paris.
3) Adolf Friedrich, Organist und Komponist, geb. zu Breslau, erhielt seine Ausbildung durch Berner, trat 1827 als Komponist
mit einer Ouvertüre und als Klavierspieler mit Hummels H moll-Konzert in die Öffentlichkeit und wurde in demselben Jahr als
zweiter Organist an der Elisabethkirche seiner Vaterstadt angestellt. Diesen Posten vertauschte er 1831 mit
dem des ersten Organisten an der Hauptkirche zu St. Bernhardin, den er bis zu seinem Tod, bekleidete.
Als einer der größten Orgelvirtuosen wurde Hesse nicht nur auf seinen wiederholten Kunstreisen in Deutschland hochgefeiert,
sondern auch in Paris, wohin er 1844 zur Einweihung der Orgel der Kirche St.-Eustache eingeladen war, und 1852 in
London. Gleich erfolgreich wirkte er als Lehrer und als Dirigent der Symphoniekonzerte der Breslauer Theaterkapelle. Von seinen
zahlreichen Kompositionen verschiedener Gattungen haben nur die für die Orgel weitere Verbreitung gefunden.
4) Otto Ludwig, Mathematiker, geb. zu Königsberg, Schüler Bessels, lehrte 1840 bis 1856 als außerordentlicher
Professor in Königsberg, ging dann als ordentlicher Professor nach Halle, 1857 nach Heidelberg und wirkte seit 1869 in gleicher
Eigenschaft an der polytechnischen Schule zu München, wo er starb. Seine vorzüglichen Lehrbücher, in denen er das
viele Rechnen aus der analytischen Geometrie zu verbannen und durch Räsonnement zu ersetzen suchte, sind:
»Vorlesungen über die analytische Geometrie des Raums« (Leipz. 1861, 3. Aufl. 1877);
»Vorlesungen aus der analytischen Geometrie
der geraden Linie, des Punktes und des Kreises« (das.
1865, 3. Aufl. 1881);
»Vier Vorlesungen aus der analytischen Geometrie«
(das. 1866),
denen 1874 sieben weitere folgten;
»Die Determinanten, elementar behandelt« (das. 1871) und
»Die vier Spezies« (das. 1872).
Einen besonders glücklichen Gebrauch wußte Hesse von den sogen. Determinanten zu machen, die
er zu einem der wichtigsten Hilfsmittel geometrischer Forschung umgestaltete.
Vgl. den Nekrolog Hesses von Borchardt (in
dessen »Journal für Mathematik«).
isoliert liegender Bergrücken im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken, nordwestlich von Wassertrüdingen,
ist 698 m hoch und wird durch die Wörnitz von dem Bergrücken Öttinger Forst (511 m hoch) getrennt, die beide, aus braunem
Jura bestehend, nördlich dem Nördlinger Ries vorgelagert sind.
[* ] (Heesen), das Durchschneiden der großen Flechse (Heese) über dem Knie am Hinterlauf der Hirsche, um einen gekrellten
(s. Birschzeichen) oder bei der Parforcejagd von den Hunden gestellten Hirsch am Entkommen zu hindern.
Hasen und Füchse heßt
man zum Aufhängen ein, indem man zwischen Sehne und Knochen des einen Hinterlaufs einen Schlitz schärft,
durch welchen man den andern Lauf zieht.
[* ] alter Name eines deutschen Stammes und Landes an der Lahn, der Eder und der untern Fulda und Werra. Der Stamm der
Hessen, rein deutsch und von echt germanischem Gepräge, ist wohl mit den Katten (s. d.) verwandt. Ihre Mundart bildete einen Übergang
vom hochdeutschen zum niederdeutschen Dialekt; in ihr ist das wichtigste Denkmal altdeutscher Poesie, das »Hildebrandslied«,
verfaßt. Das alte Land Hessen, zu verschiedenen Zeiten mit verschiedener Begrenzung, gehörte zum Herzogtum Franken und bildete
bis zum Anfang des 12. Jahrh. mehrere Gaue oder Grafschaften, über welche die Regierung von den Kaisern verschiedenen
Grafen anvertraut war.
Unter ihnen ragten die Grafen von Gudensberg hervor, die den eigentlichen »Hessengau«, den nördlichen
Teil, beherrschten. 1137 erwarb Ludwig I. von Thüringen durch seine Heirat mit Hedwig von Gudensberg ansehnliche Güter in Hessen, dessen
größter Teil fortan mit Thüringen vereinigt war. Als die thüringischen Landgrafen 1247 ausstarben, entstand
um ihr Erbe der thüringische Erbfolgekrieg zwischen Heinrich dem Erlauchten von Meißen und Sophie, der Tochter Ludwigs des Heiligen
und Gemahlin des Herzogs Heinrich von Brabant, der 1265 mit einer Teilung endete, Sophie erhielt für ihren Sohn Heinrich I., das
Kind von Brabant, Hessen, das bald zu einer besondern Landgrafschaft und 1292 vom König Adolf zu einem erblichen
Reichsfürstentum erhoben und durch Boyneburg und Eschwege vergrößert wurde.
Bei Heinrichs Tod (1308) teilten seine Söhne Otto I. (1308-28) und Johann I. das Erbe, so daß jener Oberhessen mit Marburg, dieser
Niederhessen mit Kassel erhielt. Doch starb Johann schon 1311, und Otto I. erhielt ganz Hessen, wozu er 1327 Gießen
erwarb. Sein Sohn Heinrich der Eiserne (1328 bis 1377) vergrößerte sein Gebiet um Treffurt und einen Teil von Itter und Schmalkalden
und erhielt 1373 von Karl IV. die Belehnung mit ganz als Reichsfürstentum. Ihm folgte, da sein Sohn Otto der
Schütz, der nach der Sage als Schützenhauptmann unerkannt um seine Braut Elisabeth von Kleve geworben, schon vor ihm gestorben
war, sein Neffe Hermann I. (1377-1413), der Gelehrte (weil er für den geistlichen Stand erzogen worden war). Seine Regierung war
fortwährend durch Fehden mit den
mehr
Ritterbünden und den Nachbarn beunruhigt, aber dennoch für Begründung der Landesherrschaft nicht ohne Gewinn. Sein Sohn
Ludwig I., der Friedsame (1413 bis 1458), erwarb 1450 die Grafschaften Ziegenhain und Nidda und gehörte zu den mächtigsten
Reichsfürsten. Seine Söhne Ludwig II. (1458-71), der Freimütige, und Heinrich III. (1458-83), der Reiche, teilten
Hessen wieder in zwei Linien, Kassel und Marburg. Letzterer erwarb 1479 durch seine Gemahlin die Grafschaft Katzenelnbogen sowie durch
Kauf Dietz, Klingenberg und Eppenstein.
Mit seinem Sohn Wilhelm III., dem jüngern, starb 1500 die Marburger Linie wieder aus, und ihre Besitzungen fielen an die Kasseler.
Hier waren 1471 auf Ludwig II. seine Söhne Wilhelm I., der ältere, und Wilhelm II., der mittlere, gefolgt.
Ersterer, auf einer Fahrt nach Palästina trübsinnig geworden, dankte 1493 ab, und so vereinigte Wilhelm II. seit 1500 alle
hessischen Besitzungen, die er 1505 durch Homburg vergrößerte. Er starb aber schon 1509 und hinterließ das Land seinem
fünfjährigen Sohn Philipp dem Großmütigen (1509-67), der anfangs unter Vormundschaft seiner Mutter Anna von Mecklenburg, seit 1518 selbständig
regierte.
Unter ihm spielte Hessen in der weltlichen und kirchlichen Geschichte des Reichs eine bedeutende Rolle. Er bekämpfte Sickingen
und den Bauernaufstand. Schon seit 1521 Luthers Anhänger und seit 1526 mit Johann von Sachsen verbündet,
führte er die Reformation in seinem Land ein und stiftete die erste protestantische Universität in Marburg. Seit 1531 eins
der Häupter des Schmalkaldischen Bundes, ward er 1547 gefangen genommen und erst 1552 freigelassen. Bei seinem Tode teilte er
aber unter seine Söhne Wilhelm IV., der Niederhessen mit Ziegenhain u. Schmalkalden, Ludwig, der Oberhessen
nebst Nidda und Eppstein, Philipp, der Niederkatzenelnbogen mit Rheinfels und St. Goar, und endlich Georg, der Oberkatzenelnbogen
mit Darmstadt erhielt.
Doch starben Philipp schon 1583, Ludwig 1604, und ihre Gebiete fielen an die Linien Kassel (s. Hessen-Kassel) und Darmstadt (s.
unten »Großherzogtum Hessen«),
in welche Hessen fortan geteilt blieb. Von jener zweigten sich die Seitenlinien
Rotenburg (bis 1658), Eschwege (bis 1655), Rheinfels-Rotenburg (bis 1834, s. Hessen-Rheinfels-Rotenburg) und Rheinfels-Wanfried
(bis 1755), ferner Philippsthal und Philippsthal-Barchfeld (s. Hessen-Philippsthal), die noch bestehen, ab, während von der
Linie Hessen-Darmstadt die Linie Hessen-Homburg (s. d.) abstammte, die 1866 erlosch. Als
souveränes Fürstenhaus besteht nur noch die Linie Hessen-Darmstadt.
Vgl. Rommel, Geschichte von Hessen (Gotha 1820-58, 10 Bde.);
Landau, Beschreibung des Hessengaues (Kassel 1856);
Hoffmeister, Historisch-genealogisches Handbuch über alle Linien des Regentenhauses
Hessen (3. Aufl., Marb. 1874);
ein deutscher Bundesstaat, besteht aus zwei getrennten
Hauptteilen nebst elf kleinern Exklaven und liegt mit seinen Hauptteilen zwischen 7° 51' u. 9° 39' östl.
L. v. Gr. und 49° 24' und 50° 50' nördl. Br. Das südliche Hauptgebiet wird durch den Rhein in die Provinzen Starkenburg und
Rheinhessen getrennt und grenzt nördlich an Preußen, östlich an Bayern und Baden, südlich an Baden, westlich
an die Rheinpfalz und Rheinpreußen; der nördliche Hauptteil umfaßt die Provinz Oberhessen und wird gänzlich von Preußen
umschlossen.
Von den Exklaven sind die größten die zusammenhängenden Gemarkungen Wimpfen
und Hohenstadt, an Baden und Württemberg grenzend,
die Gemarkung Helmhof, von Baden umschlossen, und der größere Teil der Gemarkung Steinbach, sämtlich zur
Provinz Starkenburg gehörig. Die zur Provinz Oberhessen gehörenden Parzellen (mehrere Walddistrikte) liegen südwestlich von
dieser Provinz in preußischem Gebiet. Enklaven fremder Staaten (Preußen und Baden) sind acht von hessischem Gebiet eingeschlossen.
Das Großherzogtum Hessen ist zusammengesetzt teils aus den ältern Ländern, nämlich der Obergrafschaft
Katzenelnbogen (1567) und dem größern Teil von Oberhessen (1584 und 1627), teils aus den seit 1803 zur Entschädigung und
durch Tausch hinzugekommenen Teilen von Kurpfalz und Kurmainz, dem Bistum Worms, der Abtei Seligenstadt, den ehemaligen Reichsstädten
Worms, Friedberg und Wimpfen und einem Teil des ehemaligen französischen Departements Donnersberg (Provinz
Rheinhessen, s. unten: Geschichte), ferner den Standesherrschaften Isenburg, Solms, Schlitz, Stolberg, Erbach, Löwenstein-Wertheim
etc. sowie den reichsritterschaftlichen Besitzungen der Familien Riedesel, Löw, Wambolt, Gemmingen etc.
Bodenbeschaffenheit.
Die Bodenbeschaffenheit des Landes ist ziemlich mannigfaltig. Oberhessen hat Gebirgscharakter; hier erhebt sich im O. der Vogelsberg
(Basalt) mit dem 772 m hohen Taufstein als dem höchsten Punkte des Landes, dem Siebenahorn (753 m), der
Herchenhainer Höhe (741 m), dem wilden Felskopf (729 m) und dem Geiselstein (721 m), im SW. eine Verzweigung des Taunus; zwischen
beiden Gebirgen breitet sich nach dem Main hin eine fruchtbare, wellenförmige Landschaft, die Wetterau, aus.
Die Provinz Starkenburg ist im SO. von dem größern Teil des Odenwaldes erfüllt, der in der Seidenbucher
Höhe (höchster Punkt) 598 m, im Hardberg bei Siedelsbrunn 594 m, in der Neunkircher Höhe 590 m, der Tromm 554 m, im Melibokus
bei Zwingenberg 520 m und im Felsberg 517 m Höhe erreicht. Im westlichen Teil des Odenwaldes wechseln Syenit,
Grünschiefer und Granulit zonenweise miteinander ab, während der südöstliche Teil desselben aus Buntsandstein besteht.
Beide Hauptteile sind durch ein von Schaafheim in südwestlicher Richtung bis nach Hammelbach hinziehendes Lager von Gneis getrennt.
Durch die Bergstraße (s. d.) wird das Gebirge von der westlich gelegenen Rheinebene geschieden, an die
sich im nördlichen Teil der Provinz die Mainebene anschließt. Rheinhessen endlich umfaßt das fruchtbare, volkreiche Hügelland
im N. des Pfälzer Gebirges zwischen Kreuznach, Mainz und Worms, im SW. noch vom Hardtgebirge durchzogen, das im Eichelberg bei
Fürfeld 320 m hoch ansteigt.
Die Gewässer des Großherzogtums gehören größtenteils dem Rheingebiet an. Nur der östliche Teil
des Vogelsbergs schickt seine Flüsse in die Fulda und gehört somit in das Wesergebiet. Der Hauptfluß ist der Rhein, welcher
bei Worms das Land betritt, Rheinhessen von der Provinz Starkenburg scheidet, dann von unterhalb Mainz an die Grenze gegen Preußen
bildet und nach einem Laufe von etwa 100 km das Land bei Bingen wieder verläßt. Von seinen Nebenflüssen
gehören Hessen ganz oder zum Teil an, rechts: der Neckar, welcher die Parzelle Wimpfen berührt und auf einer kurzen Strecke die
Provinz Starkenburg gegen Baden abgrenzt, die Weschnitz, Modau, der Main, welcher die Grenze gegen Preußen,
teilweise auch gegen Bayern bildet, die Mümling, die Gersprenz und die Nidda (mit Wetter und Nidder) aufnimmt und bei Kostheim
mündet,
Maßstab 1:850000.
Die Regierungssitze sind doppelt, Kreisstädte einfach
unterstrichen.
Zum Artikel »Hessen«.
mehr
endlich die Lahn (mit der Ohm, Lumda und Wieseck); links: die Selz und die Nahe. Zur Fulda, welche den nordöstlichen Teil von
Oberhessen bewässert, fließen die Schlitz und die Schwalm. Landseen sind nicht vorhanden, dagegen Mineralquellen in allen drei
Provinzen. Die bekanntesten sind die Sauerquellen des Ludwigs- und Selzerbrunnens bei Okarben und die Kochsalzquellen
zu Bad-Nauheim und Salzhausen. Wie die Qualität des Bodens, ist auch das Klima sehr verschieden. Während dasselbe in den südlichen
ebenern Gegenden so mild ist, daß Wein und Obst aller Arten vortrefflich, selbst süße Kastanien und Mandeln gedeihen, ist es
in den nördlichen Gegenden rauh, und in den höhern Punkten des Vogelsbergs wird nicht viel mehr als Hafer
und Kartoffeln erzielt.
Areal und Bevölkerung.
Das Land hat einen Flächeninhalt von 7682 qkm (139,51 QM.) mit
(Ende 1885) 956,556 Einw., die sich auf die genannten drei Provinzen (die ihrerseits wieder in 18 Kreise geteilt sind) folgendermaßen
verteilen:
QKilom.
QMeilen
Einwohner
Starkenburg
3019
54.83
402370
Oberhessen
3288
59.72
263044
Rheinhessen
1375
24.96
291142
Die Bewohner des Großherzogtums gehören der Abstammung nach (mit Ausnahme weniger germanisierter Franzosen und Wallonen)
dem hessischen oder westfränkischen Zweig des oberdeutschen Stammes an, und es bekennen sich 67,38 Proz. zur evangelischen,
28,77 Proz. zur römisch-katholischen, 0,94
Proz. zu sonstigen christlichen Konfessionen. 2,85 Proz. sind Juden und der Rest von 0,06 Proz. Bekenner andrer Religionen oder
Personen von unbekannter Religion. Die Zahl der Gemeinden beträgt 998 und zwar 920 Gemeinden von weniger als 2000 Einw. (sogen.
ländliche Gemeinden) und 78 Gemeinden von 2000 Einw. und darüber (sogen.
städtische Gemeinden).
Die Bevölkerung teilt sich in 529,092 Bewohner jener ländlichen Gemeinden und 427,464 Bewohner von städtischen Gemeinden.
Die Zahl der Wohnplätze beläuft sich auf etwa 2800. Im allgemeinen kommen 125 Einw. auf 1 qkm.
Am dichtesten bevölkert sind der rheinhessische Kreis Mainz mit 550, die Starkenburger Kreise Darmstadt mit 282 und
Offenbach mit 227 Bewohnern auf 1 qkm; am dünnsten die oberhessischen Kreise Lauterbach (mit 53) und Schotten (mit 58). Die
Bevölkerungszunahme beträgt im Jahresdurchschnitt von 1816 bis 1885: 0,671 Proz.
Sehr bedeutend war in den letzten Jahrzehnten die Auswanderung, besonders in den Jahren 1843-1867, 1871-73
und 1880-85. Es belief sich der Überschuß der Auswanderungen über die Einwanderungen 1822-85 auf ca. 230,000 Personen (1885
betrug die überseeische Auswanderung über Bremen, Hamburg, preußische Häfen und Antwerpen nach außereuropäischen Ländern 2503 Personen).
Der sittliche Zustand der Bevölkerung, insoweit hierauf aus der Zahl der unehelichen Geburten ein Schluß zu
ziehen gestattet ist, hat sich seit einer Reihe von Jahren merklich gehoben. Auf 100 Geburten fallen nach dem Durchschnitt der
Jahre 1870-85: 7,6 uneheliche (1885: 7,9). Die Zahl der rechtskräftig
erfolgten Ehescheidungen betrug 1885: 75 (in der Periode 1881-85 durchschnittlich jährlich 65,8). Im J. 1880 lebten 204 männliche
Geschiedene (= 0,04 Proz. der männlichen Bevölkerung) und 408 weibliche Geschiedene (= 0,09 Proz. der
weiblichen Bevölkerung).
Für die geistige Kultur geschieht im Großherzogtum viel, namentlich
sind die Unterrichtsanstalten vortrefflich eingerichtet.
Von den 49,025 in den Jahren 1868-85 in das Militär eingestellten Mannschaften waren nur 141 = 0,29 Proz. ohne Schulbildung.
Die oberste Landesbehörde für Schulsachen ist das Ministerium des Innern und der Justiz, mit einer besondern
Abteilung für Schulangelegenheiten (an Stelle der aufgehobenen Oberstudiendirektion), unter welcher die 18 Kreisschulkommissionen
in den einzelnen Kreisen stehen.
Die Kosten für die Volksschulen werden in der Regel von den Gemeinden bestritten. Anfang 1885 zählte man
im Land 987 Volksschulen mit 81,962 Schülern und 82,888 Schülerinnen; daneben 875 Fortbildungsschulen mit 21,283 Schülern, 3 Schullehrerseminare
zu Friedberg, Bensheim, beide verbunden mit Taubstummenanstalten, und zu Alzey, ein Lehrerinnenseminar (verbunden mit der höhern
Mädchenschule zu Darmstadt), 3 Schullehrer Präparandenanstalten zu Lindenfels, Lich und Wöllstein.
Waisenhäuser bestehen in Mainz (2) und Sandbach (1), auch sorgt eine Landeswaisenanstalt (mit beträchtlichen
Fonds) für die Unterkunft der Waisen. Höhere Mädchenschulen (mit staatlicher Anerkennung) bestehen zu Darmstadt, Offenbach,
Gießen und Worms. Gymnasien gibt es 7: zu Darmstadt, Bensheim, Gießen, Büdingen, Laubach (Privatgymnasium), Mainz und Worms, letzteres
verbunden mit einer Realschule;
Realgymnasien 4: zu Darmstadt, Offenbach, Gießen und Mainz, sämtlich mit
Realschulen verbunden;
außer den genannten 5 Realschulen gibt es noch 8 weitere: zu Großumstadt, Michelstadt, Wimpfen, Alsfeld,
Friedberg, Alzey, Bingen und Oppenheim.
Die Landesuniversität ist Gießen (s. d.). Außerdem bestehen eine technische Hochschule
(in Darmstadt), ein Predigerseminar (in Friedberg, seit 1803), ein bischöfliches Seminar (in Mainz), ein
landwirtschaftliches und ein Forstinstitut (mit der Universität Gießen verbunden), 4 Ackerbauschulen (landwirtschaftliche
Winterschulen), 2 Wiesenbauschulen, 3 Obstbauschulen, 2 Brauerschulen, Handelsschulen, Industrieschulen und zahlreiche Handwerker-Fortbildungsschulen.
An der Förderung der geistigen Bildung nehmen endlich einen bedeutenden Anteil die wissenschaftlichen und Kunstsammlungen, unter
welchen die Hofbibliothek und das Museum in Darmstadt in erster Linie stehen, sowie verschiedene wissenschaftliche
Gesellschaften und Kunstvereine.
Landwirtschaft, Bergbau.
Den wichtigsten Nahrungszweig des Landes bildet die Bodenkultur, die von der Regierung wie von den Bewohnern (durch Versicherungsanstalten,
landwirtschaftliche Vereine und Lehrinstitute etc.) gleich kräftig gefördert wird. 1882 zählte
man 157,430 in der Landwirtschaft, Gärtnerei etc. mit ihrem Hauptberuf erwerbstätige Personen und im ganzen
386,360 Personen (oder 41,55 Proz. der Gesamtbevölkerung), welche von der
Landwirtschaft etc. lebten. Von der gesamten Bodenfläche sind 49,6
Proz. Ackerfeld und Grabgärten, 13,1 Wiesen, Grasgärten und Weiden, 1,4 Weinberge, 31,2 Wald, zusammen 95,3 Proz. produktive
Fläche, sodann 0,6 Proz. Hofraiten und 4,1 Proz. unbesteuerte Fläche, darunter 0,7 Proz. größere Flüsse.
Unter den Provinzen steht Rheinhessen bezüglich der relativen Größe der Ackerfläche (77,4 Proz.) und der Weinlandfläche
(7,4 Proz.), Starkenburg bezüglich der Waldfläche (41,9 Proz.), Oberhessen bezüglich der Wiesenfläche (18,2 Proz.) voran.
Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe betrug im J. 1882: 128,526; die durchschnittliche
mehr
Größe eines Betriebs nach der landwirtschaftlich benutzten Fläche betrug 3,4 Hektar, nach der Gesamtfläche 3,8 Hektar. Der
sehr rationell betriebene Ackerbau liefert Getreide aller Art und (besonders in Rheinhessen) in solcher Menge, daß ein großer
Teil davon ausgeführt werden kann. Hülsenfrüchte, namentlich Erbsen, und Kartoffeln werden überall, letztere in großer
Menge (1885 ca. 8,700,000 Doppelzentner) gezogen. Ebenso hat der Gemüsebau in einzelnen Gegenden eine hohe Entwickelung erlangt,
so in Starkenburg in der Gegend von Dornberg, Heppenheim und Bensheim, bei Darmstadt (Spargel), in Rheinhessen bei Mainz, Bingen
und Worms.
Rüben werden sehr viel angepflanzt (1885: 7,149,391 Doppelzentner), von Ölgewächsen besonders Raps (1885:
29,122 Doppelzentner). Tabaksbau (1885: 14,142 Doppelzentner) ist in Starkenburg von Bedeutung (14,140 Doppelzentner); der
Flachsbau herrscht in Oberhessen vor (1883 insgesamt 9250 Doppelzentner, wovon 8818 in Oberhessen). Der Obstbau ist sehr lohnend
und wird in allen drei Provinzen emsig gepflegt (1885 Gesamtertrag 300,242 Doppelzentner im Wert von 2,183,458 Mk.).
Noch bedeutender ist der Weinbau, besonders, wie schon erwähnt, in Rheinhessen (im Kreis Bingen kommen 14,2 Proz., in Oppenheim
9, in Mainz 5,7, in Alzey 5,4, in Worms 4,5 Proz. des Areals auf Weinland) und an der Bergstraße, wo er einen wichtigen Artikel
für den Export liefert. Die Hauptorte in Rheinhessen für weiße Weine sind Nierstein, Büdesheim (mit dem
berühmten Scharlachberg), Bingen, Oppenheim, Worms (mit den berühmten Sorten Liebfrauenmilch, Luginsland und Katterlöcher), Dienheim,
Laubenheim etc., für Rotweine Gundersheim, Ober- und Nieder-Ingelheim und Heidesheim. In Starkenburg sind die Weine von Zwingenberg,
Auerbach, Bensheim und Heppenheim sehr geschätzt.
Der gesamte Weinertrag belief sich 1875-85 auf durchschnittlich 275,782 hl im Jahr (1880: 38,079 hl, 1885:
547,027 hl). Die Wiesenkultur hat seit Jahrzehnten außerordentliche Fortschritte gemacht, am reichsten an Wiesen und Weiden
ist Oberhessen; auch die Forstkultur ist überall (mit Ausnahme Rheinhessens) sehr ansehnlich und in hoher Blüte. Von den Waldungen
sind nach Erhebungen im J. 1883: 87,57 Proz. Hochwald (48,13 Proz. Laub- und 39,44 Proz. Nadelholz), 1,12
Proz. Mittelwald und 11,31 Proz. Niederwald.
Sie sind zu 27,4 Proz. Kron- und Staatsforste, 1,5 Proz. Staatsanteilsforste, 36,2
Proz. Gemeindeforste, 0,3 Proz. Stiftungsforste,
0,9 Proz. Genossenforste und 33,7 Proz.
Privatforste. Die größte Waldfläche besitzt der Kreis Erbach (58,5 Proz. des Areals); am schlechtesten
bewaldet sind die Kreise Worms (0,9 Proz.) und Oppenheim (2,4 Proz.). Als Gegenstände der Jagd sind zu nennen: Edel- und Damwild,
Sauen, Rehe, Hasen, Kaninchen, Fischottern, Füchse, Marder, Falken, Birk- und Auerhühner etc. Was die Viehzucht anlangt, so ist besonders
die Rindviehzucht von großer Wichtigkeit und bietet in ihren Produkten einen ansehnlichen Ausfuhrartikel
dar.
Man zählte 1883: 290,105 Stück Rindvieh (die meisten in Oberhessen) mit einem Wert von ca. 62 Mill. Mk. Die Schafzucht (101,663
Stück) ist nur in Oberhessen (74,968 Stück), die Schweinezucht (162,920 Stück) in Oberhessen und Starkenburg von Bedeutung.
Ziegen (93,646 Stück) werden in Rheinhessen und Starkenburg fast gleichmäßig, in Oberhessen in etwas geringerer
Anzahl gehalten. Zur Verbesserung der Pferdezucht (47,546 Stück) trägt das Landgestüt zu Darmstadt viel bei. Der gesamte
Kapitalwert der Pferde etc., des Rindviehs,
der Schafe, Schweine und Ziegen berechnet sich auf ca. 98 Mill. Mk. Federvieh
wird überall in Masse gezogen, die Bienenzucht strichweise (namentlich im Odenwald und in Rheinhessen) betrieben.
Der Bergbau, der schon in alten Zeiten in Hessen heimisch war und teils vom Staate, teils von Privaten betrieben wird, ist nur in
Oberhessen von Bedeutung und liefert gegenwärtig Braunkohlen, Eisen-, Mangan- und Bleierze und Salz als wichtigste
Objekte. 1884 waren im Betrieb: 27 Eisenerzbergwerke (26 in Oberhessen, 1 in Starkenburg) mit einer Produktion von 128,105 Ton.
zu 1000 kg im Wert von 798,723 Mk. (1885: 109,832 T. im Wert von 669,445 Mk.), 2 Braunsteinbergwerke, auf welchen Mangan als
Nebenprodukt gewonnen wird, ein Bleierzbergwerk u. 10 Braunkohlenbergwerke
mit 67,724 T. Produktion im Wert von 393,706 Mk. (1885: 59,992 T. im Wert von 397,258 Mk.). Die drei Salinen des Landes (Ludwigshalle
bei Wimpfen, Bad-Nauheim und Theodorshalle bei Kreuznach) mit 161 Arbeitern produzierten 1884: 15,747 T. Kochsalz im Wert von
410,519 Mk. Von großer Bedeutung sind endlich die Torflager, besonders in Starkenburg; auch an Erden und
Thon und an Steinbrüchen ist das Land reich. Ein Marmorbruch befindet sich in der Nähe von Auerbach.
Industrie.
Die gewerbliche Thätigkeit in Hessen ist ansehnlich und im stetigen Fortschritt begriffen. Seit Einführung der deutschen
Gewerbeordnung herrscht vollständige Gewerbefreiheit und ist nur der Betrieb einzelner Gewerbe, wie Apotheken,
Schankwirtschaften etc., aus polizeilichen Gründen von einer Konzession abhängig. Zur Hebung des Gewerbewesens wirken neben
den Handelskammern (s. unten) in erster Linie die Zentralstelle für Gewerbe und der Landesgewerbverein zu Darmstadt mit zahlreichen
Zweigvereinen an allen bedeutenden Orten des Landes, eine große, sich stets vermehrende Zahl von Vorschuß-
und Kreditvereinen und ähnlichen Genossenschaften sowie die an allen gewerbreichern Orten des Landes befindlichen Handwerkerschulen
etc. 1882 zählte man 128,296 in der Industrie, dem Bergbau, Hütten- und Bauwesen mit ihrem Hauptberuf erwerbstätige Personen
und im ganzen 339,809 Personen (oder 36,55 Proz. der Gesamtbevölkerung), welche durch
die Industrie ernährt werden.
Gewerbebetriebe wurden 55,248 gezählt, wovon 48,311 Haupt- und 6937 Nebenbetriebe. Die Zahl der im Betrieb befindlichen Dampfkessel
betrug Anfang 1881 in Starkenburg 509, in Oberhessen 248, in Rheinhessen 331, zusammen 1088. Einen ziemlich bedeutenden Zweig
der hessischen Industrie bildet auch das Hüttenwesen. 1884 waren in Oberhessen für Roheisenproduktion
zwei Werke im Betrieb und produzierten aus 85,831 Ton. Erzen und Schlacken und 42,178 T. andern (Zuschlags-) Materialien 36,592
(1885: 28,311) T. Roheisen im Wert von 2,378,454 (1885: 1,557,160) Mk. Für die Roheisenverarbeitung
waren thätig 14 Eisengießereien etc. mit einer Produktion von 6663 (1885: 6883) T. im Wert von 1,207,057
(1885: 1,230,627) Mk.; weiter wurden 1884 an Fabrikaten aus Schweißeisen und Schweißstahl 85 T. im Wert von 13,612 Mk. dargestellt.
Die Fabrikation von Maschinen blüht hauptsächlich in Offenbach, Mainz, Darmstadt, Gustavsburg bei Mainz, Rüsselsheim, Worms und
Gießen. Für die Herstellung von Wagen, Wagenachsen und Waggons bestehen großartige Etablissements in
Offenbach und Mombach im Kreis Mainz. Der für Hessen bei weitem hervorragendste Industriezweig ist die Fabrikation von lackiertem
und gefärbtem Leder, welche mit einer
mehr
Gesamtproduktion im Wert von 20-25 Mill. Mk. hauptsächlich in Worms, Mainz und Offenbach betrieben wird. Zu Lackleder werden
jährlich etwa 3 Mill. Stück Felle, wovon auf Worms allein etwa 2½ Mill. kommen, zu gefärbtem Leder in Mainz allein über 900,000
Stück Ziegen- und Schaffelle verarbeitet. Auch in der Verfertigung von Sattlerarbeiten ragt Hessen stark hervor.
Von großer, weit über die Grenzen des Landes hinausreichender Bedeutung sind ferner die zu Mainz in der blühendsten Weise
in zahlreichen Fabriken mit über 1100 Arbeitern betriebene Fabrikation von Luxusmöbeln und die Offenbacher Portefeuillefabrikation,
die in Deutschland auf diesem Gebiet den ersten Rang einnimmt und die Wiener Portefeuille-Industrie in Bezug
auf den Betrag der Gesamtproduktion sogar noch übertrifft. Die Tabaks- und Zigarrenfabrikation (in etwa 200 Fabriken) bildet
einen der wichtigsten Industriezweige des Landes.
Erstere konzentriert sich hauptsächlich in den Städten Offenbach, Gießen und Alsfeld, letztere, zum größten Teil für den
Export arbeitend, in den Kreisen Heppenheim, Bensheim, Offenbach, Darmstadt, Gießen, Worms und Bingen. Eines ausgebreiteten
Rufs erfreuen sich die Erzeugnisse der chemimischen ^[richtig: chemischen] Industrie. Die bemerkenswertesten Etablissements,
zum Teil ersten Ranges, befinden sich in Darmstadt (Alkaloide, pharmazeutische und technische Präparate), Mainz (Essigsäure,
essigsaure Salze und Methylpräparate), Oppenheim (Chinin, Chinidin etc.), Pfungstadt im Kreis Darmstadt und
Marienberg im Kreis Bensheim (Ultramarin), Neuschloß bei Lampertheim (Mineralsäure, Soda, Chlorkalk), Offenbach (Anilinfarben- und
Alizarinfabrik) und Worms (Wasserglaskompositionen und Wasserglasseife).
Die Fabrikation von Zündhölzern wird schon seit längerer Zeit in Hessen in großer Ausdehnung, besonders in den Kreisen Darmstadt
und Dieburg, betrieben und ist durch den beträchtlichen überseeischen Export von Bedeutung. Ansehnliche
Seifensiedereien, ihrem Umfang nach wohl heute noch eine der ersten Stellen in der deutschen Seifenfabrikation einnehmend,
befinden sich in Offenbach. Von großer Wichtigkeit wegen des bedeutenden Exports nach Rußland, Amerika und besonders nach
Australien ist ferner die Erzeugung von Schuhwaren, welche mit einer Produktion von über 3 Mill. Mk. hauptsächlich
in Mainz, Offenbach, Darmstadt und Worms ihren Sitz hat. Auch die Hutfabrikation wird in großem Umfang in Darmstadt und Offenbach
betrieben und hat das Entstehen zahlreicher und ansehnlicher Hasenhaarschneidereien in Offenbach, Rüsselsheim und Seligenstadt
veranlaßt.
Was die Industrie in Konsumtibilien anbelangt, so ist wegen des bedeutenden Exports zunächst die Bierbrauerei
hervorzuheben, welche hauptsächlich in Mainz, Weisenau, Worms, Pfungstadt, Gießen und Darmstadt in größerm Maßstab betrieben
wird. Sehr ausgebreitet in einer Menge von Wasser- und Dampfmühlen ist die Mehlbereitung, ebenso die Essigsiederei und Branntweinbrennerei.
Die Fabrikation von moussierenden Weinen wird in beträchtlichem Umfang, besonders in Mainz in sechs Fabriken,
betrieben.
Kartoffel- und Stärkemehl sowie Stärkezucker werden in Gernsheim und Osthofen, Kaffeesurrogate (insbesondere Zichorien) in Offenbach,
Worms, Rüsselsheim, Bingen etc., Schokolade in Mainz und Darmstadt und Konserven in Mainz fabriziert. Einen namhaften Industriezweig
bildet die Metzgerei und Wurstfabrikation in Schotten mit einem jährlichen Umsatz von 6-700,000 Mk.
Die Textilindustrie
ist, abgesehen von einzelnen bedeutendern Etablissements, von mehr lokaler Bedeutung.
Tuchfabriken finden sich vorzugsweise in den Kreisen Schotten und Alsfeld und mehr noch im Kreis Erbach. Die Fabrikation von baumwollenen
Zeugen wird im Odenwald und in den oberhessischen Kreisen Alsfeld und Lauterbach betrieben. Die Leinenindustrie ist in Oberhessen
zu Haus und bildet einen wichtigen Erwerbszweig der Bevölkerung in den Kreisen Alsfeld und Lauterbach (insbesondere
Schlitz). Außerdem werden Posamentier-, Strumpf- und Filzwaren, Stramin und Wachstuch in Offenbach, Kokosmatten und Teppiche in
Rüsselsheim, Korsette in Offenbach und Gießen, Handschuhe in Friedberg und Darmstadt und Metallknöpfe in Bessungen und Offenbach
fabriziert.
Eine Strohhutfabrik besteht in Offenbach. Für die Bewohner des Vogelsbergs ist ferner das Fertigen von
Holzwaren und Schnitzarbeiten, für die des Odenwaldes die Herstellung feiner Elfenbeinschnitzereien ein nicht unwesentlicher
Erwerbszweig. Die Industrie von Stein-, Thon- und Glaswaren bietet außer der Zementfabrikation in Amöneburg bei Biebrich (wohl
der bedeutendsten in Deutschland), in Budenheim bei Mainz und in Offenbach, einigen Fayenceöfenfabriken
in Darmstadt, Mainz, Worms und Gießen, einer Steingutfabrik in Auerbach, einer Glasperlenfabrik in Mainz, Töpfereien und den überaus
zahlreichen Ziegeleien und Feldbackstein- und Kalkbrennereien im Land nichts Bemerkenswertes.
Vorzügliche Tapeten liefern Darmstadt, Offenbach und Mainz; Bunt- und Luxuspapier Offenbach; Spielkarten Darmstadt. Die Fabrikation
von gewöhnlichem Papier und von Papiermasse ist vorzugsweise vertreten in den Kreisen Darmstadt und Bensheim sowie in Wimpfen
und Nidda. An lithographischen Anstalten, Buch- und Notendruckereien fehlt es nicht, und es wird in diesem Fach namentlich in
Mainz, Offenbach, Darmstadt, Gießen und Worms Vorzügliches geleistet.
Handel und Verkehr.
Über den Umfang des besonders in Mainz sehr lebhaften Handelsverkehrs geben folgende Daten Aufschluß.
Die Zahl der in den Berufszweigen des Handels und Verkehrs mit ihrer Hauptbeschäftigung erwerbstätigen Personen betrug 1882:
31,492, mit ihren Angehörigen etc. 98,631 oder 10,61 Proz.
der Gesamtbevölkerung. Handels- etc. Betriebe wurden 24,378 gezählt, davon 15,177 Haupt- und 9201 Nebenbetriebe.
Die Ausfuhr aus dem Großherzogtum über Bremen betrug 1885: 1,918,146 Mk. Als hauptsächlichste Artikel sind hierbei zu nennen:
gegerbtes Leder, Lederwaren, Wein, Zigarren, präparierte Droguerien, Farbwaren, Hasen- und Kaninchenhaare (1,218,762 Mk.), Galanterie-
und Kurzwaren, Geräte und Mobilien.
Die Einfuhr über Bremen bezifferte sich 1885 auf 1,539,740 Mk. und bestand vorwiegend aus Tabak (929,531
Mk.), rohen Droguerien, Reis, Ölen, Petroleum, Schafwolle, Holzwaren und Zigarrenkistenbrettern. 1885 betrug in den drei Rheinhäfen
bei Mainz, Worms und Bingen die Zufuhr zu Berg 208,716 Ton., zu Thal 108,696 T., zusammen 317,412 T.; die Abfuhr zu Berg 5101 T.,
zu Thal 37,186 T., zusammen 42,287 T.; die gesamte Güterbewegung mithin 359,699 T. In Mainz, wo sich auch
eine Dampfschiffahrtsgesellschaft befindet, betrug die Gesamtzahl der im J. 1885 angekommenen und abgegangenen Dampf- und
Segelschiffe 7887, der Flöße 52, das Gesamtgewicht der mit denselben angekommenen Güter 180,243 T., der abgegangenen Güter
24,213 T., der Floßbestand 1063 T. Das Post-
mehr
und Telegraphenwesen steht unter der Verwaltung des Reichs. Die Länge der im Betrieb befindlichen Eisenbahnen beträgt 837,
die der Staatsstraßen 1859 km. Sonstige Förderungsmittel des Handels sind die Bank für Handel und Industrie und die Bank für
Süddeutschland (beide zu Darmstadt) sowie die sechs Handelskammern in Darmstadt, Offenbach, Gießen, Mainz,
Worms und Bingen. Außerdem befinden sich in eine Haupt- (in Mainz) und vier Nebenstellen (in Darmstadt, Offenbach, Gießen und
Worms) der Reichsbank.
Das in Hessen seit 1817 bestehende, auf dem metrischen System beruhende Maß- und Gewichtssystem hat durch die Reichsgesetze vom und
wodurch für ganz Deutschland einheitliches Maß und Gewicht eingeführt wurde, nur teilweise eingreifende
Abänderungen erfahren. Nachdem durch das Reichsmünzgesetz vom für das Deutsche Reich die Goldwährung und Markrechnung
eingeführt worden ist, hat der Übergang von dem frühern 52½-Guldenfuß zur Reichsmarkrechnung in Hessen stattgefunden.
Von den Humanitäts- und Wohlthätigkeitsanstalten sind hervorzuheben: die Staatsunterstützungskasse
in Darmstadt, die schon erwähnte Landeswaisenanstalt, das Landeshospital zu Hofheim, die Landesirrenanstalt zu Heppenheim,
die schon genannten Taubstummenanstalten, die Blindenanstalt in Friedberg, das Kaufunger Stift (für arme adlige Töchter), die
Ludwigs- und Mathilden-Landesstiftung, verschiedene Witwen-, Sterbe- und Krankenkassen, Krankenhäuser, Entbindungsanstalten,
die Idiotenanstalt und die Knabenarbeitsanstalt zu Darmstadt etc.
Staatsverfassung und Verwaltung.
Das souveräne Großherzogtum Hessen, zu einem solchen 1806 erhoben, bildet laut Verfassungsurkunde vom
als ein unter einer und derselben Verfassung stehendes Ganze, eine unteilbare konstitutionelle Monarchie. Der Landesherr, welcher
den Titel »Großherzog von und bei Rhein« mit dem Prädikat »Königliche Hoheit« führt, genießt alle mit
der königlichen Würde verbundenen Rechte, Ehren und Vorzüge und vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt, die er unter
den in der Verfassung festgesetzten Bestimmungen auszuüben hat. Er ist das Oberhaupt des großherzoglichen Hauses wie auch
der evangelischen Kirche des Landes und bezieht eine Zivilliste von 1,096,288 Mk., welche, gleich den übrigen
Bedürfnissen des Hofs, auf die als Familieneigentum anerkannten zwei Drittel der Domänen radiziert ist.
Die Regierung ist im großherzoglichen Haus erblich nach Erstgeburt und Linealerbfolge, auf Grund der Abstammung aus ebenbürtiger,
mit Bewilligung des Großherzogs geschlossener Ehe. In Ermangelung eines durch Verwandtschaft oder Erbverbrüderung
zur Nachfolge berechtigten Prinzen geht die Regierung auf das weibliche Geschlecht über. Beim Erlöschen des Mannesstamms ist
zur Thronfolge zunächst Hessen-Kassel berechtigt, sonst bestehen noch Erbverbrüderungen zwischen den hessischen Häusern, Sachsen
und Brandenburg, die zuletzt 1614 erneuert wurden.
Gegenwärtiger Regent ist der Großherzog Ludwig IV., der seit regiert. Alle Staatsbürger sind
vor dem Gesetz gleich. Jedem ist vollkommene Gewissensfreiheit zugesichert, und die Freiheit der Person und des Eigentums ist
keiner andern Beschränkung unterworfen, als welche Recht und Gesetz bestimmen. Die Verschiedenheit des Religionsbekenntnisses
hat keine Verschiedenheit in den politischen und bürgerlichen Rechten zur
Folge. Niemand soll seinem gesetzlichen
Richter entzogen werden. Die frühern Vorrechte der Standesherren etc., welche in der Ausübung von Hoheitsrechten bestanden,
sind seit 1848 erloschen.
Die Stände des Großherzogtums bilden zwei Kammern, über deren Zusammensetzung das Gesetz vom neue Bestimmungen enthält.
Danach besteht die Erste Kammer aus den Prinzen des großherzoglichen Hauses, den Häuptern der standesherrlichen
Familien, dem Senior der freiherrlichen Familie v. Riedesel, einem protestantischen Geistlichen, welchen der Großherzog auf Lebenszeit
mit der Würde eines Prälaten ernennt, dem katholischen Landesbischof, dem Kanzler der Landesuniversität, 2 von dem angesessenen
Adel aus seiner Mitte gewählten Mitgliedern und aus höchstens 12 vom Großherzog auf Lebenszeit berufenen
ausgezeichneten Staatsbürgern.
Die Zweite Kammer besteht aus 10 Deputierten der Städte (Darmstadt 2, Mainz 2, Gießen, Offenbach, Friedberg, Alsfeld, Worms, Bingen
je 1) und 40 Abgeordneten der kleinern Städte und Landgemeinden. Die Ernennung der Abgeordneten für die Zweite Kammer geschieht
durch indirekte Wahl. Der Großherzog beruft, vertagt und löst die Ständeversammlung auf oder schließt
dieselbe, die wenigstens alle drei Jahre einberufen werden muß. Erfolgt die Auflösung derselben, so wird binnen sechs Monaten
eine neue einberufen, zu welcher neue Wahlen stattfinden müssen.
Ohne Zustimmung der Stände kann weder eine direkte noch indirekte Steuer ausgeschrieben oder erhoben werden.
Das Finanzgesetz wird auf drei Jahre gegeben und muß zuerst der Zweiten Kammer vorgelegt werden, welche die Beschlüsse zu
fassen hat, die von der Ersten Kammer nur im ganzen angenommen oder verworfen werden können. Im letztern Fall wird das Finanzgesetz
in einer gemeinschaftlichen Sitzung beider Kammern, unter dem Vorsitz des Präsidenten der Ersten, diskutiert
und der Beschluß nach absoluter Stimmenmehrheit gefaßt.
Ohne Zustimmung der Stände kann kein Gesetz, auch in Beziehung auf das Polizeiwesen, gegeben, aufgehoben oder abgeändert
werden. Das Recht der Initiative steht dem Großherzog zu, während die Stände nur auf dem Weg der Petition auf neue
Gesetze oder auf Abänderung und Aufhebung bestehender antragen können. Den Präsidenten der Ersten Kammer ernennt der Großherzog,
den der Zweiten wählt derselbe aus drei ihm hierzu vorgeschlagenen Kandidaten. Die Sitzungen der Kammern sind öffentlich. Die
Minister sind verantwortlich und können von den Ständekammern in Anklagestand versetzt werden.
Die oberste Staatsbehörde bildet das Staatsministerium. Innerhalb des Staatsministeriums bestehen das
Ministerium des Innern und der Justiz und das Ministerium der Finanzen. Der Präsident des Staatsministeriums ist zugleich Minister
des großherzoglichen Hauses und des Äußern. Das Ministerium des Innern und der Justiz zerfällt in zwei Sektionen, die Sektion
für innere Verwaltung und die Sektion für Justizverwaltung. Bei der Sektion für innere Verwaltung bestehen
besondere Ministerialabteilungen für Schulangelegenheiten (an Stelle der frühern Oberstudiendirektion) und für öffentliche
Gesundheitspflege (früher Obermedizinaldirektion), bei dem Ministerium der Finanzen eine Abteilung für Bauwesen (früher Oberbaudirektion),
eine Abteilung für Forst- und Kameralverwaltung (früher Oberforst- und Domänendirektion) und eine Abteilung für
Steuerwesen (früher Obersteuerdirektion).
mehr
Über Verwaltungsstreitigkeiten entscheidet der Verwaltungsgerichtshof im öffentlichen und mündlichen Verfahren. Die Verwaltung
sämtlicher sogen. innern Angelegenheiten leitet das Ministerium des Innern und der Justiz mit seiner Sektion für innere Verwaltung.
Ihm sind für einzelne Geschäftszweige besondere Zentralstellen untergeordnet, z. B. die
Zentralstellen für die Landesstatistik, für die Gewerbe und für die Landwirtschaft (sämtlich in Darmstadt).
An der Spitze jeder Provinz des Landes steht eine Provinzialdirektion, an der eines jeden der 18 Kreise ein Kreisamt (mit einem
Kreisrat). Jeder Kreis bildet einen Verband zur Selbstverwaltung seiner Angelegenheiten, mit den Rechten einer Korporation. Dasselbe
gilt von den Provinzen. Für jeden Kreis besteht ein Kreistag, dessen Mitglieder zu ⅓ von den Höchstbesteuerten,
zu ⅔ von den Bevollmächtigten der Gemeindevorstände auf 6 Jahre gewählt werden. Nach 3 Jahren scheidet die Hälfte aus.
Den Vorsitz hat der Kreisrat. Zur Verwaltung der Angelegenheiten des Kreises, nach Maßgabe der Gesetze und der Beschlüsse des
Kreistags, ist der Kreisausschuß bestellt, welcher aus dem Kreisrat und 6 von dem Kreistag auf 6 Jahre gewählten
Mitgliedern besteht. In analoger Weise ist der Provinzialtag, dessen Abgeordnete von den Kreistagen der Provinz ebenfalls auf 6 Jahre
gewählt werden, zur Vertretung des Provinzialverbandes und der Provinzialausschuß (bestehend aus dem Provinzialdirektor
und 8 von dem Provinzialtag auf 6 Jahre gewählten Mitgliedern) zur Verwaltung der Angelegenheiten der
Provinz, beide unter der Leitung des Provinzialdirektors, berufen. Die Oberaufsicht des Staats über die Provinzial- und Kreisverbände
übt das Ministerium des Innern und der Justiz. Auf dessen Antrag kann ein Provinzial- sowie Kreistag durch landesherrliche Verordnung
aufgelöst werden, worauf neue Wahlen binnen 6 Monaten stattzufinden haben.
Rechtspflege, Kirchenwesen.
Die Justiz ist von der Verwaltung scharf getrennt. Soweit nicht durch die Reichsgesetzgebung (z. B. das Handelsgesetzbuch seit
1862, die Wechselordnung seit 1849, die Konkursordnung seit 1877 etc.) mit den andern deutschen Bundesstaaten gemeinsames Recht
eingeführt ist, gilt in Hessen, abgesehen von Rheinhessen, wo das französische Recht in Geltung geblieben
ist, für Zivilrecht gemeines Recht, modifiziert durch Landrechte (Katzenelnbogener, Erbacher, Solmser, Kurmainzer, Pfälzer etc.
Landrecht), ferner Stadtrechte (z. B. Wimpfen) und einzelne Landesgesetze (insbesondere das Pfandgesetz von 1858, das Gesetz
über die Erwerbung des Grundeigentums von 1852, das Gesetz über die Verjährung der persönlichen Klagen
von 1853); für den Strafprozeß gilt die deutsche Strafprozeßordnung vom Gemeinsam für das ganze Land sind weiter:
das Reichsstrafgesetzbuch von 1872, das Polizeistrafgesetz von 1855, soweit es nach dem Übergangsgesetz vom noch
neben dem Reichsstrafgesetzbuch in Geltung geblieben ist, und das deutsche Militärstrafgesetz vom sowie
die Disziplinarstrafordnung für das Heer vom Für das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gilt die
Reichszivilprozeßordnung vom Administrativbehörde für die oberste Leitung des Justizwesens ist das Ministerium
des Innern und der Justiz mit einer Sektion für Justizverwaltung.
Die Rechtspflege wird gehandhabt in Gemäßheit des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes vom Es
bestehen: ein Oberlandesgericht zu Darmstadt (letzte Instanz, insofern nicht als solche das Reichsgericht zuständig
ist), drei
Landgerichte: zu Darmstadt, Gießen und Mainz (für jede Provinz eins), Schwurgerichte zu Darmstadt, Gießen und Mainz, Kammern für
Handelssachen zu Darmstadt, Offenbach, Gießen, Mainz und Worms, 49 Amtsgerichte, ein Rheinschifffahrtsgericht
zu Mainz, ferner eine kaiserliche Disziplinarkammer zu Darmstadt sowie Militärgerichte.
Das Verhältnis des Staats zur Kirche ist durch die Kirchengesetze vom geregelt:
1) Gesetz, betreffend die rechtliche Stellung der Kirchen- und Religionsgemeinschaften im Staat;
2) Gesetz, betreffend den Mißbrauch der geistlichen Amtsgewalt;
3) Gesetz, betreffend die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen;
4) Gesetz, betreffend die Orden und ordensähnlichen Kongregationen;
5) Gesetz, betreffend das Besteuerungsrecht der Kirchen- und Religionsgemeinschaften. Nach der Kirchenverfassung vom umfaßt
die evangelische Landeskirche sämtliche evangelische (lutherische, reformierte und unierte) Gemeinden des Großherzogtums,
unbeschadet des Bekenntnisstandes der einzelnen Gemeinden. Das Kirchenregiment wird von dem evangelischen
Landesherrn nach Maßgabe der Verfassung durch die oberste Kirchenbehörde, das Oberkonsistorium, ausgeübt.
Jede Kirchengemeinde verwaltet innerhalb der verfassungsmäßig bestimmten Grenzen ihre Angelegenheiten selbst, und zwar zunächst
durch die Gemeindevertretung und den Kirchenvorstand. Die Gesamtheit der evangelischen Kirchengemeinden eines Dekanats
(die Zahl derselben beträgt 23) findet ihre Vertretung in der in der Regel einmal jährlich zusammentretenden Dekanatssynode,
bestehend aus sämtlichen Geistlichen des Dekanats und ebenso vielen von den Gemeindevertretungen gewählten weltlichen Mitgliedern.
Vorsitzender ist der Dekan, welcher von der Dekanatssynode für 6 Jahre gewählt und von dem Großherzog bestätigt wird.
Die Gesamtheit der evangelischen Kirche wird durch die Landessynode vertreten. Dieselbe tritt regelmäßig alle 5 Jahre zusammen
und besteht aus je einem geistlichen und je einem weltlichen von jeder Dekanatssynode gewählten Abgeordneten, dem evangelischen
Prälaten und 7 (3 geistlichen und 4 weltlichen) von dem evangelischen Landesherrn zu ernennenden Mitgliedern. Der
Landessynode steht das Gesetzgebungsrecht in allen kirchlichen Angelegenheiten in Gemeinschaft mit dem Landesherrn zu. Die katholische
Landeskirche (Landesbistum Mainz) bildet einen Bestandteil der oberrheinischen Kirchenprovinz und steht unter einem Bischof (mit
Domkapitel), dem wiederum 16 katholische Dekanate und 158 Pfarreien untergeordnet sind. Für den israelitischen Kultus bestehen 7 Rabbinate
(1880: 26,746 Israeliten).
Finanzen, Heerwesen etc.
Die jährlichen Einnahmen des Staats betragen nach dem Staatsbudget für die Finanzperiode 1885 bis 1888: 19,902,099 Mk., nämlich
aus:
Domänen
333189 Mark
Regalien
6900 Mark
Direkten Steuern
8200186 Mark
Indirekten Auflagen
4411298 Mark
Überschüssen, Strafen etc.
2950526 Mark
Die Ausgaben betragen 18,416,098 Mk., nämlich:
Lasten, Abgänge etc.
1212630 Mk.
Staatsschuld
1211734 Mk.
Pensionen
990657 Mk.
Zivilliste und Apanagen
1255917 Mk.
Landstände
44650 Mk.
Staatsministerium
315540 Mk.
mehr
Ministerium des Innern und der Justiz
6729689 Mk.
darunter: Ministerium selbst
249700 Mk.
Sektion für innere Verwaltung
4303266 Mk.
Sektion für Justizverwaltung
2176723 Mk.
Ministerium der Finanzen
5087281 Mk.
Matrikularbeiträge zur Reichskasse
1568000 Mk.
Nach dem Stand vom betragen:
Aktiva Mark
Passiva Mark
A. Die eigentliche Staatsschuld
7689278
36244040
B. Die Staatsrentenschuld
5360400
C. Die Landeskulturrentenschuld
494700
494700
D. Die Aktiven der Hauptstaatskasse (Darlehen für Eisenbahnbauten, an Banken und Bankhäuser, Kapitalwert von angekauften Obligationen
etc.)
13253540
Zusammen:
21437518
42099140
Hiernach Überschuß der Passiva
-
20661622
Das Militär des Großherzogtums ist nach der Konvention vom als geschlossene Division (großherzoglich
hessische [25.] Division) vom an in den Etat und in die Verwaltung des Reichsheers und zwar speziell in den Verband
der preußischen Armee (11. Armeekorps) eingetreten. Es behält im Frieden Garnison innerhalb des Großherzogtums; doch kann
der Kaiser vorübergehend in außerordentlichen, durch militärische und politische Interessen gebotenen
Fällen von dem ihm verfassungsmäßig zustehenden Dislokationsrecht auch in Bezug auf die hessische Division, nach vorherigem
Benehmen mit dem Großherzog, Gebrauch machen. Im übrigen finden die Vorschriften der Reichsverfassung über das Kriegswesen
auch auf das großherzogliche Militär Anwendung.
Das Staatswappen (s. Tafel »Wappen«) ist ein mit der Königskrone bedeckter, von den Orden umhangener und
von zwei Löwen gehaltener blauer Schild mit einem gekrönten, von Silber und Rot zehnmal quergestreiften Löwen, der in der rechten
erhobenen Vordertatze ein Schwert hält. Die Landesfarben sind Rot und Weiß. Orden und Ehrenzeichen sind: der Ludwigsorden, der
goldene Löwenorden, das Militärverdienstkreuz, das Militärsanitätskreuz, der Verdienstorden Philipps des Großmütigen
(s. Tafel »Orden«),
die Verdienstmedaille für Wissenschaft, Kunst, Industrie und Landwirtschaft, ein allgemeines Ehrenzeichen,
ein Ehrenzeichen für Verdienste während der Wassersnot 1882/83, die Militärdienstehrenzeichen für 25 und 50 Dienstjahre,
die Militärdienstalterszeichen für 10, 15 und 20 Dienstjahre, das militärische Erinnerungszeichen
an den Großherzog Ludwig I. und das Felddienstzeichen. Residenz- und Hauptstadt ist Darmstadt.
Walther, Das Großherzogtum Hessen nach Geschichte, Land, Volk, Staat und Örtlichkeit (das. 1854);
Dieffenbach, Das Großherzogtum
Hessen in Vergangenheit und Gegenwart (2. Aufl., das. 1885);
Hesse, Rheinhessen in seiner Entwickelung von 1798 bis 1834 (Mainz 1835);
Küchler, Die Verwaltungsgesetzgebung
im Großherzogtum Hessen (2. Aufl., Darmst. 1885, 2 Bde.);
Zeller, Handbuch der Verfassung und Verwaltung im Großherzogtum Hessen (das. 1885-86, 2 Bde.);
Becker, Geognostische Skizze des Großherzogtums Hessen (das. 1849);
R. Ludwig, Geologische Skizze des Großherzogtums Hessen (das.
1867);
Derselbe, Versuch einer
Statistik des Großherzogtums Hessen auf Grundlage der Bodenbeschaffenheit (das. 1868);
Weidenhammer, Die Landwirtschaft im Großherzogtum Hessen (das. 1883);
»Mitteilungen der großherzoglich hessischen Zentralstelle
für die Landesstatistik« (das. 1862-86, 16 Bde.)
und »Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Hessen« (das. 1862-86, 27 Bde.).
Topographische Karte von Hessen (1:50,000, 1832-50); Becker, Höhenschichtenkarte (1:250,000, 2 Blätter, seit
1872).
Geschichte des Großherzogtums Hessen.
Georg I., der Fromme, der Stifter der darmstädtischen Linie, erhielt beim Tod seines Vaters, Philipps des Großmütigen (gest.
1567), als jüngster der vier Söhne ein Achtel der hessischen Stammlande, die obere Grafschaft Katzenelnbogen mit Darmstadt,
welche allmählich im Gegensatz zu Hessen-Kassel den Namen Landgrafschaft Hessen-Darmstadt erhielt, obwohl sie nicht
zum eigentlichen Hessen gehörte. Hessen verdankt seine spätere Blüte ganz vorzüglich der weisen Regententhätigkeit seines ersten
Fürsten, der als thatkräftiger und über seine Jahre hinaus gereifter Jüngling ein wenige QMeilen umfassendes, einige Tausend
Gulden jährlich einbringendes Land übernahm und nach 30jähriger Regierung seinen Nachfolgern ein schon
auf etwa 2000 qkm angewachsenes, von mehr als 25,000 Seelen (darunter 2000 zu Darmstadt) bewohntes, reiche Revenuen und selbst
einen beträchtlichen Überschuß gewährendes Land hinterließ.
Wie die bessern und reichern zwei Drittel des ganzen etwa 100 Ortschaften und Schlösser (darunter 5 Städte) zählenden
Landes dem Fürsten als Domanialbesitz erb- und eigentümlich, nur etwa 30 der geringern Orte Prälaten und Rittern der »Landschaft«
gehörten, so gestaltete sich auch das Regiment des Ländchens völlig patriarchalisch. Freilich war Georg auch unermüdlich
thätig, und sein ganzer Tag gehörte den Geschäften. Schon 1577, als die Linie der Grafen von Dietz, der
Kinder Philipps des Großmütigen aus zweiter morganatischer Ehe, nur noch durch den jüngsten in Gefangenschaft lebenden Sohn
repräsentiert war, teilten die vier Brüder deren Besitz, von dem drei Ämter an Georg fielen.
Bedeutender war der Zuwachs durch den 1583 erfolgenden Tod Philipps von Hessen-Rheinfels, des dritten der Brüder,
dessen Land unter die drei Überlebenden gleichmäßig verteilt wurde, und wovon Georg seinen Teil gegen die seinem ältesten
Bruder, Wilhelm, früher zugefallenen, ihm benachbarten Dietzschen Lande vertauschte, so daß sich sein Land, nördlich vom Main
bei Homburg beginnend, südlich von diesem Fluß bis zur pfälzischen Grenze erstreckte, im O. von den Höhen
des Odenwaldes, im W. vom Rhein begrenzt.
Als Georg 1596 starb, teilte er sein Land derart, daß die Hauptmasse, die Obergrafschaft, dem ältesten Sohn, Ludwig V., dem
Getreuen (1596-1626), zufiel, während die beiden jüngern, Friedrich, der Stifter der Homburger Linie, mit Homburg am Taunus, Philipp
mit Butzbach abgefunden wurde, das nach dem Aussterben dieser Linie 1643 wieder mit Hessen vereinigt wurde.
Ludwig glich seinem Vater in dem Fleiß, mit dem er die Regierungsgeschäfte versah, wie in dem Verlangen nach Vergrößerung
des Landes. Als daher die Linie Hessen-Marburg bereits 1604 mit ihrem Begründer Ludwig III. ausstarb, dessen
Land nun zwischen Moritz I. von Hessen-Kassel und Ludwig V. verteilt ward, ergriff er bei Ausbruch der Religionskämpfe in Deutschland 1618 die
Gelegenheit, auf Grund einer Testamentsbestimmung Ludwigs III., welche jede Religionsänderung untersagte, von dem zur reformierten
Kirche übergetretenen Landgrafen Moritz die ganze oberhessische Erbschaft
mehr
zu verlangen, und da dieser als Anhänger der Union und Friedrichs V. von der Pfalz den Zorn des Kaisers Ferdinand II. auf sich
gezogen, sprach ihm auch 1623 ein reichshofrätliches Erkenntnis die ganze Erbschaft zu, die er mit Hilfe ligistischer Truppen
in Besitz nahm, und in der er statt des reformierten Marburg die lutherische Universität Gießen gründete.
Auch erhielt Ludwig V. vom Kaiser die Ermächtigung zur Einführung der Primogenitur in seinem Haus, was das Land vor den verderblichen
Teilungen bewahrte.
Auf Ludwig V. folgte sein Sohn Georg II., der Gelehrte (1626-61). Während des ganzen Dreißigjährigen Kriegs blieben die Landgrafen
von Hessen der kaiserlichen Partei treu und verfeindeten sich bitter mit ihren Kasselschen Vettern, ohne doch
ihr Land vor den Verheerungen des Kriegs bewahren zu können. Auch die kaiserlichen Heerführer konnten in jener schweren Zeit
auf des Kaisers Verbündete keine Rücksicht nehmen, so daß der Landgraf Georg zuletzt den Kaiser direkt
um Schonung für sein verödetes Land anging.
Ferdinand III. willfahrte seinen Bitten, soviel es in seiner Macht stand, mußte es aber geschehen lassen, daß Georg durch
Separatverträge mit Frankreich und Schweden sich Schonung seitens der Feinde des Kaisers erkaufte. Hierzu kam der stets erneuerte
Erbschaftsstreit mit Hessen-Kassel. Erst der Westfälische Friede 1648 führte einen Ausgleich zwischen Georg
und der Landgräfin Amalie Elisabeth von Hessen-Kassel, der Vormünderin ihres unmündigen Sohns, auf eine für Hessen-Darmstadt immerhin
noch vorteilhafte Weise herbei, indem dasselbe die größere Hälfte Oberhessens behielt. Die Universität Marburg verblieb unter
gemeinschaftlicher Verwaltung; dagegen wurde dem Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, vorbehaltlich der
Alternierung, die ihm früher zugestandene Präzedenz im Rang und in der Vertretung nach außen wie im Reich zugestanden. Die
folgenden 13 Jahre, das letzte Drittel seiner Regierung, benutzte Georg mit Erfolg, die seinem Lande durch den Krieg geschlagenen
Wunden zu heilen.
Sein Sohn Ludwig VI. (1661-78) setzte des Vaters Bemühungen um die Hebung des Landes in materieller und geistiger
Beziehung fort durch Begünstigung von Einwanderungen, das Verbot des Kriegsdienstes außer Landes, eine neue Regelung des verfallenen
Schul- und Kirchenwesens, eine neue Hofgerichtsordnung etc. Getreu den Traditionen seiner Vorfahren, wußte er aus den Überschüssen
seiner Regierung von neuem einen Hausschatz zu sammeln, welcher ihm wie jenen Gelegenheit bot, sein Land
durch den Ankauf benachbarter Besitzungen (Eberstadt, Rodau, Frankenstein) noch besser abzurunden.
Sein Sohn Ludwig VII. starb als Jüngling vier Monate nach Antritt seiner Regierung, und statt des zweiten Bruders,
des erst elfjährigen Ernst Ludwig (1678-1738), regierte bis 1688 als Vormünderin die Mutter Elisabeth
Dorothea von Sachsen-Gotha. Auch Ernst Ludwig zeichnete sich gleich seinen Vorgängern durch die Standhaftigkeit und Entschiedenheit
aus, mit welcher er im Gegensatz zur Kasseler Linie dem kaiserlichen Interesse ergeben war; doch hatte das Land während der
Kriege mit Frankreich 1688-1714 viel zu leiden, die Landeshauptstadt ward zweimal von den Franzosen genommen
und gebrandschatzt, der Hof zur Flucht nach Oberhessen genötigt.
Einigen Ersatz brachten dem Lande die Kolonien der Waldenser zu Rohrbach, Weinbach, Walldorf etc., während der Landgraf den französischen
Refugiés aus Furcht vor Ludwig XIV. den Eintritt in sein
Land verwehrte. Übrigens ist Ernst Ludwig der erste,
der die alte Einfachheit und Wirtschaftlichkeit seines Geschlechts mit dem von Ludwig XIV. aufgebrachten Glanz und Pomp vertauschte.
Französische Sitte begann an seinem Hof die gute altdeutsche Einfachheit zu verdrängen.
Bauten, Theater und die Begünstigung aller schönen Künste verschlangen nicht nur die Ersparnisse der frühern Zeiten,
sondern stürzten auch das Land zum erstenmal in Schulden. Seinem Beispiel folgte auch sein Sohn Ludwig VIII. (1738-68), der,
obwohl er schon als Erbprinz durch Vermählung mit der Erbtochter des letzten Grafen von Hanau Lichtenberg über ein Einkommen
von 300,000 Gulden verfügte, das sich nach dem Anfall der größern Hälfte der Erbschaft (die kleinere
fiel nach 20jährigem Erbstreit an Hessen-Kassel) noch bedeutend erhöhte, doch infolge übermäßiger Jagdlust und der Vergeudung
großer Summen für Oper und Schauspiel sich selbst und das Land in große Schulden stürzte. In der äußern Politik schloß
auch er sich ganz an Österreich an und hatte daher im österreichischen Erbfolgekrieg von den französischen
Heeren zu leiden, dann im Siebenjährigen Krieg französische Besatzungen in seine Festungen aufzunehmen.
Sein Sohn Ludwig IX. (1768-90) war in manchen Stücken das Gegenteil seines Vaters, einfach, abgehärtet, ein großer Soldatenfreund
und Freund Friedrichs II. Er ließ es sich angelegen sein, durch ein strenges, thätiges, selbstherrliches
Regiment das, was sein Vater verschuldet, wieder gutzumachen, und es gelang ihm wirklich, die zerrütteten Finanzen wieder in
Ordnung zu bringen. Seine Residenz Pirmasens, Mittelpunkt der hanau-lichtenbergischen Besitzungen, die er zu Lebzeiten seines
Vaters verwaltet hatte, behielt er auch während der ganzen Dauer seiner Regierung bei und that viel zur
Hebung der Bevölkerung und der Kultur dieser Lande.
Sein aufgeklärtes Regiment schaffte eine Menge von Mißbräuchen, besonders in der Justiz, ab; er beseitigte den unter der Herrschaft
seines Vaters eingerissenen Jagdunfug und suchte durch die Regelung der Verwaltung, durch die Heranziehung trefflicher Beamten
und Gelehrten aus Nord- und Mitteldeutschland sein Land auf die Höhe Preußens zu bringen. Sein Hof war der
Sammelpunkt der hervorragendsten deutschen Künstler und Dichter, die schönste Zierde desselben seine Gemahlin, die vortreffliche
Karoline von Pfalz-Zweibrücken, die »große Landgräfin«, die Freundin Friedrichs d. Gr. Gegen das Ende seiner Regierung, kurz
nach dem Ausbruch der französischen Revolution, verlor der Landgraf durch Beschluß der französischen
Nationalversammlung seine Rechte und Einkünfte aus dem im Elsaß belegenen Teil der hanauischen Besitzungen (Buchsweiler, Brumath,
Pfaffenhofen etc.). Sein Sohn Ludwig X. (1790 bis 1830) schloß sich den Heeren der alliierten Preußen und Österreicher (1792)
an, als es galt, die französische Revolution zu bekämpfen und die ihm entrissene Grafschaft Hanau-Lichtenberg
wiederzuerlangen.
Doch sah er sich beim Rückzug der Alliierten 1793 genötigt, der feindlichen Übermacht zu weichen. Das ganze Land wurde
gleich den Nachbargebieten von den Franzosen besetzt und gebrandschatzt; die aus dem Land fortgeführten Männer bürgten als
Geiseln für die Neutralität von Fürst und Land. Der Friede von Lüneville (1801) brachte ihm als Entschädigung
für die an Frankreich abgetretenen linksrheinischen und einige andre an Baden und Nassau-Usingen abgetretene Lande das Herzogtum
mehr
Westfalen, einen Teil des ehemals mainzischen Gebiets und einige andre Parzellen mediatisierten Kirchengutes, im ganzen statt
der abgetretenen 2200 qkm mit 100,000 Einw. etwas über 5500 qkm mit 218,000 Einw.
Durch einen Tauschvertrag mit Baden 1803 arrondierte der von Bonaparte bevorzugte Fürst sein Land noch besser und brachte zugleich
die frühere Reichsstadt Wimpfen in seinen Besitz.
Die neuen Landschaften bildeten zusammen mit den alten die drei Provinzen: Starkenburg, Oberhessen und Westfalen. Als Mitglied
des Rheinbundes wurde dem Landgrafen 1806 die Souveränität zugestanden, worauf er (14. Aug.) den Titel Großherzog Ludwig I. annahm.
Zugleich hob er mit einem Federstrich die formell noch bestehende, doch seit 1628 nicht mehr aktive landständische
Verfassung auf und erwarb die Souveränität über sämtliche noch reichsunmittelbare Grafen und Freiherren innerhalb der Grenzen
seines Gebiets. Dafür mußten die hessischen Truppen bis Ende 1813 auf den verschiedensten Kriegsschauplätzen für Napoleon
kämpfen. Erst schloß sich Ludwig I. den Alliierten an. Die Bestimmungen des Wiener Kongresses
führten noch einige für das Land vorteilhafte Gebietsaustausche herbei, die den Territorialbestand um ein Geringes minderten,
die Bevölkerungsziffer etwas erhöhten. Der Großherzog mußte das Herzogtum Westfalen an Preußen, einige südlich gelegene
Ämter an Bayern abtreten und erhielt dafür ehemalige Mainzer, Wormser, Pfälzer Gebiete und die Oberhoheit
über einige bisher Reichsunmittelbare, wogegen er die Selbständigkeit der hessischen Seitenlinie Hessen-Homburg anerkennen mußte.
Wegen seiner am linksrheinischen Ufer gelegenen Besitzungen nannte er sich seit »Großherzog von und bei Rhein«.
Ludwig zeigte sich fortan redlich bemüht, nicht nur die tiefen durch den Krieg dem Wohlstand des Landes
geschlagenen Wunden zu heilen, sondern auch durch zeitgemäße Verwaltungsreformen dem modernen Geist Rechnung zu tragen. Auch
gab er dem Land eine neue ständische Verfassung mit zwei Kammern, deren zuerst sehr beschränkte Rechte er jedoch
auf Rat des Ministers v. Grolmann erweiterte, worauf die revidierte Verfassung den Ständen von Grolmann als
Landesgrundgesetz feierlich übergeben wurde.
Auf dem ersten Landtag wurden das Steuersystem und die Heereskonskription neu geordnet und eine neue Gemeindeordnung vereinbart.
Hierauf ward eine Zentralregierung, ähnlich wie im benachbarten Hessen-Kassel, neuorganisiert. An Stelle des bisherigen alleinigen
Kabinetts traten vier Departementsminister mit solidarischer Verantwortlichkeit; die Einrichtung
eines Staatsrats zur Vorberatung von Gesetzen und allgemein wichtigen Angelegenheiten wurde beschlossen, eine Oberrechnungskammer
und eine Staatshauptkasse eingerichtet.
Trotz der während der Kriegsjahre bedeutend angewachsenen Staatsschuld blieb das Staatsbudget doch stets im Gleichgewicht,
so daß die Finanzgesetze zum schnellen Abschluß gediehen, eine allmähliche Tilgung der Schuld in Aussicht
genommen werden konnte. In wirtschaftlichen Dingen zeigte der Großherzog einen klaren und unbefangenen Sinn. Auf die preußischen
Zollvereinsbestrebungen ging er sofort freudig ein und war einer der ersten, die 1828 dem neuen Zollverein freiwillig beitraten.
Besonders zeigte er sich für die Besserung der Lage des Bauern- und Arbeiterstandes besorgt, und wie schon
früher die Ablösbarkeit bäuerlicher Fronen,
so setzte er jetzt die Aufhebung sämtlicher Staats- und Jagdfronen durch.
Ihm folgte sein Sohn Ludwig II. (1830-48), der unter dem Eindruck der auf die Julirevolution folgenden Unruhen in den
Nachbarlanden in etwas reaktionärere Bahnen einlenkte und die Bundesbeschlüsse gegen die Presse und Vereine
bereitwilligst ausführte. Die Opposition des Landtags dagegen wurde im November 1833 mit der Auflösung desselben, der Pensionierung
der zur Kammeropposition gehörigen Beamten und der Verschärfung der Polizeimaßregeln gegen demokratische Umtriebe beantwortet.
Die Folge war, daß die Regierung wieder die Majorität in den Kammern erlangte und die Geschäfte in Ruhe
erledigte. Wichtig war die Auseinandersetzung zwischen Staats- und fürstlichem Domanialvermögen, indem der Großherzog ein
Drittel seines bisherigen Hausbesitzes dem Land als Schuldentilgungsfonds überließ. Neuen Anlaß zur Aufregung gab die Vorlage
eines neuen Zivilgesetzentwurfs in dem Ende 1846 berufenen Landtag, der einzelne freisinnige Rechtsbestimmungen
des in Rheinhessen geltenden Code Napoléon zu gunsten älterer deutscher und kirchlich beschränkterer Institutionen aufhob.
Dennoch wurde der Entwurf mit Ausnahme des die Aufhebung der Zivilehe in Rheinhessen betreffenden Paragraphen von beiden gefügigen
Kammern angenommen. Obwohl das Vorgehen der Regierung in dem Hungerjahr 1847 so energisch und erfolgreich war, daß
Unruhen völlig vermieden wurden, so gaben doch politische Debatten im Landtag von 1847 sowie der von der Opposition heraufbeschworne
blutige Schatten Weidigs (s. d.) bald neuen Stoff zu Unruhen. In dem Ende Dezember 1847 zusammenberufenen neuen Landtag befand sich
eine zahlreiche Opposition unter Führung des Vorkämpfers der Liberalen, Heinrichs v. Gagern. Aber erst der
Ausbruch der Pariser Februarrevolution gab auch hier der Volkspartei den Mut, offen mit ihren Forderungen hervorzutreten. In keinem
Land vollzog sich der Umschwung schneller und ordnungsmäßiger, doch auch in wenigen nur war der Sieg der Reaktion in den
Jahren 1850-66 entschiedener und rücksichtsloser als in Hessen.
Bereits stellten die Führer der Liberalen in der Kammer den Antrag auf Berufung einer Nationalvertretung
und Ernennung eines Bundesoberhauptes. Am 5. März gab die Regierung der Macht der öffentlichen Stimme nach; durch ein Edikt wurde
die Mitregentschaft des Erbgroßherzogs, der nach Ludwigs II. Tod als Ludwig III. Großherzog wurde,
verkündet und von letzterm sofort die Erfüllung der hauptsächlichsten liberalen Forderungen zugesagt. An Stelle des langjährigen
reaktionären Ministers du Thil ward Heinrich v. Gagern als Minister des Innern ins Kabinett gezogen, dem im Mai Jaup, ein tüchtiger
Staatsmann, folgte. Am 7. März wurde das Militär auf die Verfassung vereidigt.
In der deutschen Frage ging man im Verein mit Württemberg und Nassau auf der von Gagern gezeichneten Bahn vor. Trotzdem kam es
besonders im Odenwald und Vogelsgebirge zu Volksaufständen mehr sozialistischer als politischer Natur, die nur durch Waffengewalt
gedämpft werden konnten. Um Freiheit für seine Reformthätigkeit zu gewinnen, vertagte Jaup im Juli die
Kammern und führte darauf eine Reihe wichtiger Reformen: die Reorganisation der Verwaltung, die Aufhebung des Jagdrechts, eine
neue Kirchen- und Schulorganisation, mündliches und öffentliches Verfahren im Strafrecht
mehr
da, wo es noch nicht bestand, schnell und glücklich durch. Indes schon im Juli 1850 wurde das Ministerium Jaup wieder gestürzt;
den ostensibeln Vorwand zu seiner Entlassung gab seine preußenfreundliche Haltung in der deutschen Frage, welche auch in den
Kammern getadelt wurde und inzwischen durch Preußens Zurückweichen unterlegen war. Jaup wurde durch Dalwigk
ersetzt, welcher zunächst Österreich bei der Restauration des Bundestags eifrig unterstützte und mit diesem und dem Bischof
Ketteler von Mainz im Bund sofort einen Verfassungskonflikt mit dem Landtag begann, während dessen wichtige 1848 erworbene Rechte,
wie namentlich das Vereinsrecht, ohne weiteres aufgehoben und namentlich die Beamten durch allerlei direkte
und indirekte Gewaltmaßregeln zur Unterwürfigkeit gezwungen wurden.
Die katholische Kirche in und die staatlichen Aufsichtsrechte über dieselbe überlieferte Dalwigk durch die geheime Konvention
vom gänzlich dem Mainzer Bischof, der nun ungehindert sein hierarchisch-jesuitisches System durchführen konnte.
Die Proteste der Kammern gegen dieses gewissenlose Verfahren der Regierung blieben gänzlich erfolglos, außer
daß Dalwigk die Konvention 1862 veröffentlichen mußte. Der Pakt selbst blieb nach wie vor bestehen.
In der deutschen Frage war Dalwigk einer der eifrigsten Verfechter der preußenfeindlichen mittelstaatlichen Politik sowohl
in der Bundesreformfrage als in der schleswig-holsteinischen Verwickelung; in jener unterstützte er Österreich, in
dieser trat er energisch für den Augustenburger auf. Auch mit dem Hof Napoleons III. stand er in ununterbrochener Verbindung.
Natürlich stimmte unter Dalwigks Leitung Hessen für die Mobilmachung der Bundesarmee gegen Preußen und ließ, obwohl
die Kammern den Kriegskredit verweigerten, sein Kontingent zum 8. Bundeskorps stoßen, dessen Oberbefehl
der hessische Prinz Alexander erhielt.
Die hessischen Truppen erlitten durch die Ungeschicklichkeit ihrer Führer 13. Juli bei Laufach eine blutige Niederlage, und nach
dem Gefecht bei Aschaffenburg wurde fast ganz Hessen von den Preußen okkupiert, während der Großherzog nach Worms floh. Dennoch
blieben die alten Minister auch nach dem Ende des Kriegs in ihrer Stellung, und gerade Dalwigk war zur Führung
der Friedensunterhandlungen ausersehen, die wohl für das Land noch härter ausgefallen wären, wenn nicht die nahe Verwandtschaft
seines Herrscherhauses mit Rußland und England dem Sieger einige Rücksichten auferlegt hätte; die von Dalwigk angerufene
französische Intervention war daher überflüssig.
Die Hauptbestimmungen des am 3. Sept. abgeschlossenen Vertrags waren: Zahlung von 3 Mill. Gulden Kriegskosten; Abtretung des Gebiets
der erst im März an Hessen gefallenen Landgrafschaft Homburg mit der Herrschaft Meisenheim, ferner der Kreise Biedenkopf und Wehl,
des nordwestlichen Teils vom Kreis Gießen, des Ortsbezirks Rödelheim sowie endlich des hessischen Anteils
am Ortsbezirk Niederursel. Im ganzen kamen, abgesehen von Homburg und Meisenheim, beinahe 830 qkm des ehemals hessischen Gebiets
mit mehr denn 47,000 Einw. an Preußen.
Dagegen überließ dieses letztere Katzenberg, Nauheim, Reichelsheim, Trais, Dortelweil und Haarheim, etwa 83 qkm mit 12,000
Einw., an Hessen. Ferner mußte Hessen für Oberhessen dem Norddeutschen Bund beitreten, das Post- und Telegraphenwesen
an Preußen überlassen, diesem das Besatzungsrecht in Mainz einräumen und in die Aufhebung der Rheinschiffahrtsakte willigen.
Die Bevölkerung war meistens mit diesem Ergebnis des
Kriegs einverstanden und erwartete nun auch eine Änderung in der innern
Politik.
Indes hier machte Dalwigk bloß das Zugeständnis der Suspension des Vertrags mit Ketteler von 1854, der thatsächlich
doch bestehen blieb. Sonst trat er den Kammern schroff entgegen. In äußern Fragen versuchte Dalwigk zwar wiederholt eine Rolle
zu spielen, mußte sich aber durch die Militärkonvention vom und das Schutz- und Trutzbündnis vom 11. April noch
enger an Preußen anschließen. Der Krieg von 1870/71, während dessen die hessischen Truppen als 25. Division unter Führung
des Prinzen Ludwig zum 9. Armeekorps gehörten und an dessen Kämpfen rühmlichen Anteil nahmen, machte der 1866 geschaffenen
Zwitterstellung Hessens ein Ende und vereinigte den ganzen Staat mit dem Deutschen Reich durch den Vertrag
vom
Nun sah sich auch endlich Dalwigk genötigt, seine Entlassung einzureichen und nach Verlauf eines 18monatlichen
Übergangsstadiums unter dem Ministerium Lindelof kam mit Hofmann, bisherigem Vertreter Hessen-Darmstadts im Bundesrat,
ein ebenso begabter und arbeitsfähiger wie ehrlich deutsch gesinnter Minister an die Spitze der Regierung.
Vor allem war er entschlossen, Hessen von der unberechtigten Herrschaft des Bischofs Ketteler zu Mainz und seiner Agitatoren zu befreien.
Dem Vorgang Preußens folgend, brachte die Regierung 1874 ein neues Volksschulgesetz, welches die Oberaufsicht des Staats und
die Leitung des gesamten Volksschulwesens durch staatliche Behörden entschieden festhielt, bei den Kammern
zur Annahme, verkündete die mit der Landessynode vereinbarte neue Verfassung der evangelischen Kirche und legte im
September 1874 dem Landtag fünf Kirchengesetzentwürfe vor, die sich im wesentlichen an die preußischen Maigesetze von 1873 und 1874 anschlossen,
zum Teil aber noch über sie hinausgingen und trotz des Protestes und der Gehorsamsverweigerung des Bischofs
Ketteler im April 1875 zum Abschluß kamen. Im Mai 1876 ward der zum Präsidenten des Reichskanzleramts ernannte Minister Hofmann
durch Freiherrn v. Starck ersetzt, was aber die neue politische Richtung der Regierung um so weniger beeinflußte, als Ludwig
III. plötzlich starb und ihm sein Neffe, der durchaus national und liberal gesinnte Großherzog Ludwig IV., folgte.
Dieser war vor allem darauf bedacht, die finanziellen Verhältnisse des großherzoglichen Hauses zu regeln, die durch den
übermäßig belasteten Hofstaat und jahrelange Defizits in Verwirrung geraten waren. Im Mai 1878 ward die
Sache dahin geregelt, daß die Schulden der Zivilliste teils durch Verkauf von Domänen getilgt, teils vom Land übernommen,
die Zivilliste aber um 300,000 Mk., auf 1,096,000 Mk., vermindert wurde.
Ferner wurde die Zahl der Ministerien auf drei (Staatsministerium, Justiz und Inneres, Finanzen) verringert.
Nach Einführung der neuen Reichsjustizgesetze wurde eine Reform der Steuern vorgenommen und 1885 zum Abschluß
gebracht. Inzwischen hatte im Mai 1884 der Staatsminister v. Starck seine Entlassung genommen,
weil er mit der morganatischen Vermählung des Großherzogs mit einer Frau v. Kolemine (s. Ludwig) nicht einverstanden gewesen
war. An seine Stelle als Staatsminister war im August Staatsrat Finger getreten, der die Verwaltung ganz im
Sinn seines Vorgängers führte.
Vgl. Baur, Urkunden zur hessischen Landes-, Orts- und Familiengeschichte (Darmst. 1846-73, 5 Bde.);
Steiner, Geschichte des Großherzogtums
mehr
Hessen (das. 1833-34, 5 Bde.);
Klein, Das Großherzogtum Hessen, historisch und geographisch betrachtet (Mainz 1861);
Ewald, Historische Übersicht der Territorialveränderungen
der Landgrafschaft und des Großherzogtums Hessen (2. Aufl., Darmst.
1872);
[* ] Flecken im Herzogtum Braunschweig, Kreis Wolfenbüttel, hat eine evang. Pfarrkirche, ein Schloß, eine Zuckerfabrik
und (1885) 2360 Einw. In Hessen wurden die ersten Kartoffeln in Deutschland in Töpfen gezogen.