mehr
veränderte Lage günstig auf ihn, und wenn er auch herkömmlich über mancherlei Bürden seines Amtes klagte, so nahm gleichwohl seine litterarische Produktivität einen großen und immer gewaltigern Aufschwung. Der Läuterungsprozeß, durch welchen sich die hervorragendsten Repräsentanten des Sturms und Dranges in die Hauptträger der deutschen klassischen Litteratur verwandelten, nahm auch bei Herder zu Ausgang der 70er Jahre seinen Anfang. Die hochbedeutsame philosophische Abhandlung »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume« (Riga [* 2] 1778),
die »Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum« (das. 1778) und die Herausgabe der »Lieder der Liebe« (Leipz. 1778) sowie der längst vorbereiteten »Volkslieder« (erst später von Johannes v. Müller »Stimmen der Völker in Liedern« betitelt, das. 1778-79) waren seine ersten von Weimar [* 3] aus in die Welt gesandten Publikationen. Die von der Münchener Akademie preisgekrönte Abhandlung »Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten« (1778) galt einem neuen Nachweis, daß echte Poesie die Sprache [* 4] der Sinne, erster mächtiger Eindrücke, der Phantasie und der Leidenschaft, daher die Wirkung der Sprache der Sinne allgemein und im höchsten Grad natürlich sei, eine Wahrheit, welche die mit umfassender Litteraturkenntnis ausgewählten, lebendig nach- und anempfundenen, zum größten Teil vorzüglich übersetzten »Volkslieder« eben weiten Kreisen zum Bewußtsein brachten.
Einen höchst glücklichen Einfluß auf Herders weitere geistige Entwickelung übte seit den ersten 80er Jahren das wiederhergestellte innige Verhältnis Herders und seines Hauses zu Goethe. Herder trat in den regsten Gedankenaustausch wie in den lebendigsten persönlichen Verkehr zu dem jüngern Freund, und während er seinen Weg unter dessen bewundernder Teilnahme weiter verfolgte, steigerte sich sein Gefühl für Schönheit und Klarheit des Vortrags, selbst sein poetisches Ausdrucksvermögen durch den reinen Formensinn Goethes. In seinem Familienleben ward Herder durch die dauernde tiefinnige Liebe seines Weibes und die erfreulich heranwachsenden Kinder beglückt.
Freilich brachten auch die Sorgen um die Bildung und Zukunft dieser Kinder, eine gewisse Großartigkeit seines Naturells, welche mit den nicht dürftigen, aber mäßigen Einnahmen nie völlig in Harmonie kam, und mancherlei Krankheiten Herders, für welche er schon seit 1777 auf Badereisen Erholung zu suchen hatte, dunkle Stunden und Tage auch in diese lichtesten Jahre von Herders Leben. In ebendiesen 80er Jahren entstand beinahe alles, was Herders immer genialem Wirken durch innere Reife und äußere Vollendung bleibende Nachwirkung sicherte.
Bezogen sich die »Briefe, das Studium der Theologie betreffend« (Weim. 1780-81, 4 Tle.) und eine Reihe von vorzüglichen Predigten auf Herders Amt und nächsten Beruf, so leitete das große, leider unvollendet gebliebene Werk »Vom Geiste der Ebräischen Poesie« (Dessau [* 5] 1782-83, 2 Tle.) von der Theologie zur Poesie und Litteratur hinüber. Aus der tiefsten Mitempfindung für die Naturgewalt, die Frömmigkeit und eigenartige Schönheit der hebräischen Dichtung wuchs ein Werk hervor, von welchem Herders Biograph (R. Haym) mit Recht rühmt, daß es »für Kunde und Verständnis des Orients Ähnliches geleistet wie Winckelmanns Schriften für das Kunststudium und die Archälogie ^[richtig: Archäologie]«. 1785 aber begann Herder die Herausgabe seines großen Hauptwerkes, der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (Riga 1784-91, 4 Bde.), die endliche Ausführung eines Lieblingsplans, die breitere Ausführung von Gedanken, welche er längst in kleinern Schriften in die Welt gesandt hatte, und wiederum die energische Zusammenfassung alles dessen, was er über Natur und Menschenleben, die kosmische Bedeutung der Erde, über die Aufgabe des sie bewohnenden Menschen, »dessen einziger Daseinszweck auf Bildung der Humanität gerichtet ist, der alle niedrigen Bedürfnisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen sollen«, was er über Sprachen und Sitten, über Religion und Poesie, über Wesen und Entwickelung der Künste und Wissenschaften, über Völkerbildungen und historische Vorgänge gedacht und (wie seine Gegner erinnerten) geträumt hatte. Die Aufnahme des Werkes entsprach dem großen Verdienst desselben. Gleichzeitig veröffentlichte Herder die hochinteressante und nach den verschiedensten Richtungen bedeutende Sammlung seiner »Zerstreuten Blätter« (Gotha [* 6] 1785-97, 6 Tle.), in welcher eine Reihe der schönsten Abhandlungen und poetischen Übersetzungen die Geistesfülle und sittliche Grazie des Schriftstellers in herzgewinnender Weise offenbarte.
Einen großen Abschnitt in Herders Leben bildete die Reise, welche er 1788-89 nach Italien [* 7] unternahm. Seine hypochondrische Reizbarkeit und mancherlei ungünstige Zufälle wirkten zusammen, ihn eigentlich nur in Neapel [* 8] zum Vollgenuß dieser Reise kommen zu lassen; doch empfing er bedeutende und bleibende Eindrücke, die vielleicht noch günstiger gewirkt hätten, wenn ihn nicht in Italien eine abermalige ehrenvolle und vielverheißende Berufung nach Göttingen [* 9] erreicht und die schwere Frage des Gehens oder Bleibens in Weimar ihn während der Rückreise gequält hätte.
Goethe, von der Erwägung ausgehend, daß der Freund dem Kathederärger in Göttingen noch weniger gewachsen sein werde als dem Hof- und Konsistorialärger in Weimar, wirkte für Herders Bleiben und konnte im Einverständnis mit dem Herzog Tilgung der Herderschen Schulden, Gehaltsverbesserungen und mancherlei tröstliche Verheißungen für die Zukunft bieten. In seinen freundschaftlichen Erwägungen hatte er nur vergessen, daß in gewissen Lebenslagen und Gemütszuständen die bloße Veränderung eine Wohlthat und Notwendigkeit sein kann. Herder ließ sich mit einem gewissen Widerwillen zum Bleiben bestimmen, beide Freunde sollten dieser Entscheidung nur kurze Jahre froh werden.
Herders Gesundheitszustände waren nur vorübergehend gebessert, körperliche Leiden [* 10] brachen ihm Lebenslust und Arbeitskraft; der fünfte Teil der »Ideen« blieb ungeschrieben, und bereits die »Briefe zur Beförderung der Humanität« (Riga 1793-97, 10 Sammlungen) trugen die Farbe seines verdüsterten Geistes. Die materiellen Sorgen im Herderschen Haus hatten sich leider nur vorübergehend gemildert, und die nur halb gerechtfertigten Ansprüche, welche und seine Gattin auf Grund der Abmachungen von 1789 erhoben, führten zu einem unheilbaren Bruch mit Goethe. Herder hatte schon zuvor mit reizbarer Eifersucht die wachsende Intimität zwischen Goethe und Schiller betrachtet. So trat allmählich ein Zustand der Isolierung und kränklich verbitterten Beurteilung alles ihn umgebenden Lebens bei ein. Die geistigen Gegensätze, in denen er sich zur Philosophie Kants, zur klassischen Kunst Goethes und Schillers fand, verstärkte und verschärfte Herder gewaltsam und ließ sie in seinen litterarischen Arbeiten mehr und mehr hervortreten. Zwar gab er, sowie er auf neutralem Gebiet stand, auch jetzt noch Vorzügliches und Erfreuliches. ¶
mehr
Seine »Terpsichore« (Lübeck [* 12] 1795),
welche den vergessenen neulateinischen Dichter Jakob Balde wieder einführte, seine »Christlichen Schriften« (Riga 1796-1799, 5 Sammlungen),
in denen das unbeirrteste Gefühl für den eigentlichen Kern des Christentums den schönsten und maßvollsten Ausdruck fand, seine Aufsätze für Schillers »Horen« [* 13] bewährten den alten Herderschen Geist. Aber voll grimmer Bitterkeit und dazu mit unzulänglichen Waffen [* 14] bekämpften Herders »Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft« (Leipz. 1799, 2 Tle.) und die »Kalligone« (das. 1800) die Philosophie Kants, voll absichtlicher Verkennung und unwürdiger Lobpreisung des Abgelebten und Halben richtete seine »Adrastea« (das. 1801-1803, 6 Tle.) alle ihre versteckten Spitzen gegen die lebendige, schönheitsfreudige Dichtung Goethes und Schillers.
Nur die Qual eines Zustandes, der ihn tief niederdrückte, und in dem er sich selbst bald als »dürrer Baum und verlechzte Quelle«, [* 15] bald als »Packesel und blindes Mühlenpferd« schilderte, konnte diese letzte verhängnisvolle Wendung seiner litterarischen Thätigkeit entschuldigen. Letzte Erquickung bereitete ihm, dessen körperliche Kraft [* 16] mehr und mehr erlag, die poetische Arbeit an seinen »Legenden«, an der Übertragung der Romanzen vom »Eid« und an den dramatischen Gedichten: »Prometheus« und »Admetus' Haus«.
Die Annahme eines vom Kurfürsten von Bayern [* 17] 1802 ihm verliehenen Adelsdiploms bereitete Herder schweren Ärger, und seine endliche Ernennung zum Präsidenten des Oberkonsistoriums kam zu spät, ihm Lebensmut zurückzugeben. In den Sommern 1802 und 1803 suchte er Heilung in den Bädern von Aachen [* 18] und am Egerbrunnen, im Herbste des letztgenannten Jahrs erfolgte ein neuer heftiger Anfall seines unheilbaren Leberübels, dem er erlag. Vor der Stadtkirche zu Weimar wurde ihm 1850 ein ehernes Standbild (modelliert von Schaller) errichtet.
Mannigfach rätsel- und widerspruchsvoll, ungleicher in seinen Leistungen als seine großen Zeitgenossen, aber unvergleichlich reich, vielseitig, voll höchsten Schwunges und schärfster Einsicht, eine Fülle geistigen Lebens in sich tragend und um sich erweckend, steht Herder in der deutschen Litteratur. In der großen Umbildung des deutschen Lebens am Ende des vorigen Jahrhunderts hat er mächtiger und entscheidender eingegriffen als einer, und die Spuren seines Geistes lassen sich in der Litteratur im engern Sinn, in Fachwissenschaften und Spezialzweigen, die aus seinen Anregungen hervorgegangen sind, überall nachweisen.
Der verschwenderische Überreichtum seiner Gedanken, die Genialität seiner Einsichten und die wunderbarste Anempfindung für das echt Poetische offenbaren sich in beinahe allen seinen Werken; die Forderung der »Humanität«, der Heranbildung und Läuterung zum vergöttlichten Menschlichen, einem Lebens- und Bildungsideal, dem noch ganze Jahrhunderte nachringen können, ist der durchgehende Grundgedanke in der Vielheit und Mannigfaltigkeit seiner Schriften.
Bei allen seinen Gaben war ihm die künstlerische Gestaltungskraft versagt, so daß er als Dichter nur in einzelnen glücklichen Momenten und auf dem Gebiet der didaktischen Poesie zu wirken vermochte. Die Verbindung seines eignen ethischen Pathos mit Stimmungen und Gefühlen, welche ihm aus der Dichtung der verschiedensten Zeiten und Völker aufgingen, war nie ohne Reiz; sein Verdienst als poetischer Übersetzer, als Aneigner und Erläuterer fremden poetischen Volksgeistes kann kaum zu hoch angeschlagen werden.
Die große Zahl von Herders poetischen Übertragungen aus den verschiedensten Sprachen, ihre Auswahl und die Resultate, welche Herder jedesmal aus ihnen zog, haben einer allgemeinen, über die »Gelehrtengeschichte« der vorausgegangenen akademischen Perioden hinauswachsenden Litteraturgeschichte den Boden bereitet. Neben den »Stimmen der Völker in Liedern« dem »Cid«, den Epigrammen aus der griechischem Anthologie, den Lehrsprüchen aus Sadis »Rosengarten« und der ganzen Reihe andrer Dichtungen und poetischer Vorstellungen, welche Herders anempfindender Geist für die deutsche Litteratur gewann, stehen jene morgenländischen Erzählungen, jene Paramythien und Fabeln, die Herder im Wiedererzählen benutzt, Momente seiner eignen sittlichen Anschauung, seiner Humanitätslehre beizugesellen, und die hierdurch wie durch ihre Vortragsweise zu seinem geistigen Eigentum werden.
Höher aber als der Dichter steht überall der Prosaiker Herder, der große Kulturhistoriker, Religionsphilosoph, der feinsinnige Ästhetiker, der im Sinn Lessings und doch in völlig andrer Erscheinung produktive Kritiker, der glänzende Essayist, der gehaltreiche und in der Form anmutvolle Prediger und Redner. Es ist Herders eigenstes Mißgeschick gewesen, daß die großen Resultate seines Erkennens und Strebens rasch zum Gemeingut der Bildung, seine Anschauungen zu Allgemeinanschauungen wurden, so daß es erst der historischen und kritischen Zurückweisung auf die Genialität, die seelische Tiefe und den verschwenderischen Gedankenreichtum der Herderschen Schriften bedurfte, um das größere Publikum zu denselben zurückzuführen.
Herders »Sämtliche Werke« erschienen zuerst in einer von J. Georg Müller, Johannes v. Müller und Heyne unter Mitwirkung von Herders Witwe u. Sohn veranstalteten Ausgabe (Stuttg. 1805-20, 45 Bde.; mit den Nachträgen 1827-30, 60 Bde.; spätere Ausg., das. 1852-54, 40 Bde.). Die Entfremdung des Publikums veranlaßte die »Ausgewählten Werke« in einem Band [* 19] (Stuttg. 1844),
»Geist aus Herders Werken« (Berl. 1826, 6 Bde.),
»Ausgewählte Werke« (hrsg. von Herder. Kurz, Hildburgh. 1871, 4 Bde.),
»Ausgewählte Werke« (hrsg. von Ad. Stern, Leipz. 1881, 3 Bde.). Dagegen erstrebten wieder Vollständigkeit die Ausgabe in der Hempelschen »Nationalbibliothek« (Berl. 1869-79, 24 Tle., mit Biographie von Düntzer) und die große kritische, von Suphan geleitete Ausgabe von »Herders Werken« (das. 1877 bis 1887, 32 Bde.),
eine Musterarbeit ersten Ranges, ein Zeugnis höchster Pietät, Gewissenhaftigkeit und kritischer Sorgfalt. Auf Grund der letztern Ausgabe gaben Suphan und Redlich »Herders ausgewählte Werke« (Berl. 1884 ff.) in 9 Bänden heraus. Eine ungekrönte Preisschrift Herders: »Denkmal Joh. Winckelmanns«, von 1778 gab Alb. Duncker (Kassel [* 20] 1882) heraus. Sammlungen von Briefen Herders veröffentlichen Düntzer und F. G. v. Herder in den Werken: »Aus Herders Nachlaß« (Frankf. 1856-57, 3 Bde.),
»Herders Briefwechsel mit seiner Braute« (das. 1858),
»Herders Reise nach Italien« (Gießen [* 21] 1859) und »Von und an Herder« (Leipz. 1861-62, 3 Bde.).
Vgl. auch Suphan, Goethe und Herder (»Preußische Jahrbücher« 1878).
Ein sehr reichhaltiger litterarischer Nachlaß Herders ward für die königliche Bibliothek in Berlin [* 22] angekauft und von Suphan und seinem Mitarbeitern bei der kritischen Ausgabe wohl benutzt.
Von biographisch-kritischen Schriften über Herder sind außer den von seiner Gattin gesammelten »Erinnerungen« (s. unten) und dem von seinem Sohn Emil Gottfried v. Herder verfaßten »Lebensbild« (Erlang. 1846-47, 3 Bde.) zu erwähnen: Danz und Gruber, Charakteristik J. G. v. Herders (Leipz. 1805); ¶