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projektierte ins Weite, baute mit teurem Material, und es entstanden industrielle Anstalten, die lediglich auf den Eisenbahnbau [* 2] berechnet waren und mit so großen Kapitalien ausgestattet wurden, als ob die Gewähr fortgesetzter Thätigkeit vorhanden sei. Trotzdem hatten die Eisenbahnen ihren Anteil an der kritischen Lage des Effektenmarktes im J. 1874 mit geringen Opfern abgetragen, und erst 18. Jan. brach die Krisis über die Eisenbahnaktien herein. Gleichzeitig offenbarte sich die schwer bedrängte Lage, in welcher sich die Kohlen- und Eisenindustrie befand. Hochöfen wurden ausgeblasen, Arbeiter entlassen, Verkäufe von Lagern zu Preisen erzwungen, welche die Produktionskosten nicht deckten. Anfang 1875 hatten die Aktien von 556 Aktiengesellschaften (darunter 105 Eisenbahnen), welche zusammen ein Nominalkapital von 6,770,412,000 Mk. repräsentierten, einen Kursverlust von 2,344,784,379 Mk. aufzuweisen; ihr Durchschnittskurs war von 110,8 Proz. auf 65,6 Proz. gefallen.
Aber nicht bloß Österreich [* 3] und Deutschland, [* 4] sondern alle übrigen Länder der Welt sind der Reihe nach von der Krisis des Jahrs 1873 teils in akuter Form, teils durch nachfolgende chronische Erkrankungen betroffen worden. In England machte sich deren erste Wirkung an der Londoner Börse im November 1873 bemerkbar: und in den folgenden Jahren traten alle nachteiligen Konsequenzen auf den verschiedensten Gebieten hervor;
in der Baumwollindustrie brach im J. 1878 eine Krisis aus, schwerer, als sie die gegenwärtige Generation je erlebt hatte;
mehr als die Hälfte aller Hochöfen stand kalt, die Preise der meisten Güter und die Arbeitslöhne wurden reduziert, die Kurswerte der fremden Anlehen, der Aktienbanken und Industrieunternehmungen erlitten in kürzester Zeit Einbußen, deren Höhe annähernd auf 170 Mill. Pfd. Sterl. berechnet wurde, die Fallimente vermehrten sich von 8112 des Jahrs 1872 stetig bis auf 16,637 im J. 1879, Streiks und Arbeiterrevolten nahmen zu.
Noch greller äußerten sich dieselben Erscheinungen in den Vereinigten Staaten [* 5] von Nordamerika, [* 6] wo eine Überspekulation, kühner und rücksichtsloser als in Europa, [* 7] vorausgegangen war. Doch brach die Deroute an der New Yorker Börse aus und führte zu einer Panik, welche die Schließung der Fondsbörse als Zwangsmaßregel notwendig machte; in diesen Ereignissen hatte aber doch nur ein oberflächliches Symptom gelegen, viel gefährlicher waren die Wirkungen auf dem Gebiet der Industrie und des Verkehrs.
Das Eisenhüttengewerbe wurde auf ein Dritteil seiner Leistungsfähigkeit reduziert, die Revolten in den Bergwerksdistrikten von Pennsylvanien nahmen furchtbare Dimensionen an, der Baumwollverbrauch sank im J. 1874-75 auf zwei Dritteile desjenigen von 1873, ähnlich ging es in den andern Textilindustrien; im J. 1877 brach eine Eisenbahnkrisis aus, welche unter den Bediensteten zu Streiken und zu blutiger Unterdrückung derselben führte; die Fallimente, welche im Durchschnitt der Jahre 1866 bis 1872: 2889 Fälle mit 83 Mill. Doll. Passiven betragen hatten, stiegen in den Jahren 1873-78 auf 7866 mit 200 Mill. Doll. und erreichten im J. 1878 mit 10,478 Fällen und 234 Mill. Doll. Passiven ihren Höhepunkt.
Die von 1873 bis 1878 eingetretene Entwertung der Eisenbahnpapiere allein wurde auf 1 Milliarde Doll. veranschlagt. Verhältnismäßig am wenigsten unter allen europäischen Staaten war Frankreich von den Folgen der 1873er Krisis betroffen, weil es in den unmittelbar vorhergehenden Jahren durch jene Entkräftung, die der verlorne Feldzug und die Milliardenzahlung hervorgerufen hatten, vor der Teilnahme an der Überspekulation bewahrt war und der wirtschaftlichen Regeneration sein ganzes Augenmerk zuwendete.
Nach dem »Moniteur des intérêts matériels«, dessen Angaben allerdings nicht exakt, aber doch annäherungsweise richtig sind, stiegen und fielen die Emissionen auf den europäischen und amerikanischen Börsen in nachstehender Weise:
Staats- und Städteanlehen | Kreditinstitute | Eisenbahn- und Industrieunternehmungen | Zusammen | |
---|---|---|---|---|
in Millionen Mark | ||||
1870 | ? | ? | ? | 4560 |
1871 | 9360 | 1200 | 2000 | 12560 |
1872 | 4380 | 1564 | 4166 | 10110 |
1873 | 3470 | 1396 | 3856 | 8722 |
1874 | 1268 | 236 | 1864 | 3368 |
1875 | 372 | 350 | 646 | 1368 |
1876 | 2356 | 66 | 498 | 2920 |
1877 | 4618 | 320 | 1384 | 6322 |
1878 | 2896 | 126 | 622 | 3644 |
1879 | 4406 | 1902 | 1212 | 7520 |
Man sieht aus den Totalziffern die ungeheure Überspekulation in den Gründungsjahren, die tiefe Depression [* 8] in den Jahren 1874-76 und die allmähliche Besserung bis 1879; aus der Bestimmung der Emissionen entnimmt man aber das Vorwiegen der solidern oder minder soliden Absicht. Ein andres interessantes Merkmal liegt in den Umsätzen des Welthandels, diese stiegen
vom Jahr 1860-65 jährlich im Durchschnitt um 941 Mill. Mk. | |
vom Jahr 1865-70 jährlich im Durchschnitt um 959 Mill. Mk. | |
vom Jahr 1870-73 jährlich im Durchschnitt um 2772 Mill. Mk. | |
vom Jahr 1873-79 jährlich im Durchschnitt um 126 Mill. Mk. |
sie betrugen nämlich im J. 1860 ca. 23 Milliarden, im J. 1865 ca. 27, im J. 1870: 46,3, im J. 1873, auf dem Höhepunkt der Überspekulation, 57,8 und 1879: 58,5 Milliarden;
der normale, durch die Bevölkerungszunahme und die erhöhten Bedürfnisse bedingte Zuwachs wurde also in der Gründungsepoche weit überschritten, und es folgte dann der naturgemäße Rückschlag.
Die Krisis des Jahrs 1873 hat nach dem an einzelnen Orten erfolgten akuten Ausbruch in den Jahren 1874-79 einen chronischen, schleppenden Verlauf genommen; nach allen statistischen Merkmalen findet man den tiefsten Stand in den Jahren 1875 und 1876, aber auch die folgenden drei Jahre zeigen noch immer alle Symptome der schweren Erkrankung. Erst in der zweiten Hälfte 1879 traten in den Vereinigten Staaten von Amerika [* 9] die ersten Anzeichen der Besserung hervor und übertrugen sich von dort im J. 1880 allmählich auf die europäischen Westländer: Großbritannien, [* 10] die Niederlande, [* 11] Belgien, [* 12] Frankreich, Deutschland, zuletzt Österreich.
Die Jahre 1881-83 boten das Bild voller Wiederaufnahme der frühern Thätigkeit, so daß die Nachwirkungen der Krisis nach neun Jahren als überwunden gelten konnten. Indessen zeigte sich bald, daß tiefer liegende Krankheitskeime und vielleicht auch nebenher auftretende Störungen, welche von einigen mit der Goldknappheit und dem Währungssystem, von andern mit der noch immer bestehenden Überproduktion und der raschen Verbilligung der Transporte in Verbindung gebracht werden, die Rekonvaleszenz nicht völlig fortschreiten ließen.
Eine zu Beginn des Jahrs 1882 in Frankreich ausgebrochene Börsenkrisis, welche mit einer Anzahl Bontouxscher Gründungen, besonders der Union générale, der Banque de Lyon [* 13] et de la Loire, und mit ¶
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einer vorausgehenden tollen Agiotage zusammenhing, hatte zwar einen mehr lokalen Charakter, erschütterte aber nicht nur die französischen, sondern auch die übrigen europäischen Geldmärkte. In Lyon begann die Deroute Mitte Januar, in Paris [* 15] hatte sie in den letzten Tagen des Januars ihren Höhepunkt erreicht; zwar vollzog sich die Liquidation rascher, als man anfänglich besorgen mußte, aber das Mißtrauen des Kapitals wurde durch diese Vorfälle neuerdings wachgerufen. Seit 1884 nimmt die Nachwirkung der Krisis einen schleichenden Verlauf, dessen hauptsächliche Symptome die tiefe Senkung der meisten Güterpreise, die geringe Rentabilität der Unternehmungen, die niedrigen Diskontsätze, der Mangel jedes Impulses zu neuen wirtschaftlichen Schöpfungen und die immer sich verschlimmernden sozialen Zustände mit wachsendem Gegensatz der arbeitenden und kapitalistischen Klassen bilden.
Häufigkeit und Periodizität der Krisen. Vorbeugungs- und Heilmittel.
Die wirtschaftliche und soziale Entwickelung der neuern Zeit trägt wesentlich dazu bei, die Krisen häufiger und intensiver zu machen. Zunächst liegen die Keime derselben in der veränderten Produktionsweise;
seitdem die Arbeitsteilung im größten Umfang angewendet und die Maschine [* 16] an Stelle der Handarbeit gesetzt wurde, wird es immer schwieriger, die Produktion den wirklichen Bedürfnissen anzupassen;
es treten sehr leicht Überschätzungen der Aufnahmsfähigkeit der Märkte ein, welche erst fühlbar werden, wenn es schon zu spät ist;
jeder trachtet, die Kapitalien und Arbeiter auch dann noch zu beschäftigen, wenn er knapp an der Grenze der Rentabilität angelangt ist, und in diesem Kampf lassen sich viele sogar verleiten, zeitweilig mit Verlusten fortzuarbeiten, um ihre schwächern Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen.
Notverkäufe und Schleuderpreise beschleunigen dann den Ausbruch der Krisen. Hierzu kommt weiter, daß die Vermittlerthätigkeit durch Kaufleute, Makler, Agenten etc. in neuerer Zeit sehr umfangreich ausgebildet worden ist; diese Personen haben das Interesse, den wahren Zustand des Marktes möglichst zu verschleiern; Spekulationen führen zu geheimer Aufhäufung von Vorräten oder zu ebensolcher Räumung der Lagerbestände, sie führen zu Verabredungen (Kartellen, rings), um die Marktpreise künstlich zu erhöhen oder zu erniedrigen, und rufen dadurch gewaltsame Störungen des Gleichgewichts hervor.
Ein weiterer Grund der Häufigkeit liegt in der großartigen Ausbildung des Kredits, welcher neben seinem vorteilhaften Gebrauch auch den gefährlichen Mißbrauch zuläßt, zur Überspekulation auch dann noch die Mittel bietet, wenn die eigne Kraft [* 17] längst fehlt, und dessen allgemeine Verbreitung es mit sich bringt, daß Krisen rasch weiter verpflanzt und auf alle Schichten der Gesellschaft in allen zivilisierten Ländern übertragen werden. Daß endlich das moderne Verkehrswesen ebenfalls zur territorialen Ausdehnung [* 18] und zum intensivern Auftreten dieser wirtschaftlichen Krankheiten beiträgt, ist selbstverständlich. Es besteht unleugbar eine gewisse Periodizität in der Wiederkehr der Krisen, indem dieselben seit 1815 in je zehn- bis elfjährigen Zeitabschnitten ausbrechen oder ihren Höhepunkt erreichen. (Englische [* 19] und spätere universelle Krisen von 1815, 1825, 1836, 1847, 1857, 1866, 1873, resp. Tiefpunkt der Depression 1875/76 und neuer Tiefpunkt 1885). Diese Periode trifft nahezu mit derjenigen der Häufigkeit der Sonnenflecke (s. d.) zusammen; es wurde daher von Jevons u. a. versucht, einen Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen in solcher Art herzustellen, daß mit dem Sonnenfleckenmaximum und -Minimum der Reichtum der Ernten in den ostasiatischen und tropischen Gebieten wechselt und dadurch die größere oder geringere Kaufkraft jener Hunderte von Millionen Bewohnern, die sich teilweise schon mit europäischen Industrieerzeugnissen versorgen, modifiziert wird.
Wechselnde Absatzfähigkeit für die Weltindustrien und wechselnde Impulse im Welthandel würden die nächste Folge und zugleich die Veranlassung der Krisen sein. Diese geistreiche Hypothese ist jedoch noch keineswegs erwiesen. Man könnte sich immerhin eine gewisse Periodizität auch aus dem Verlauf der menschlichen und sozialen Strebungen und den Fluktuationen zwischen Sparsamkeit und Leichtsinn, Arbeit und Spielsucht, Genügsamkeit und Luxus erklären.
Was die Verhütung betrifft, so kann wohl nicht die Rede davon sein, daß irgend ein Verwaltungssystem im stande wäre, den Krisen ganz vorzubeugen. Man nennt als »diätetische« Mittel: Verbreitung gediegener volkswirtschaftlicher Bildung, besonders der Kenntnisse über die Unternehmungsbedingungen, über den Kredit etc.;
Einbürgerung des Selfgovernment an Stelle der polizeilichen Einmengung der Staatsverwaltung, um den Einzelnen zur Selbsthilfe und zur selbständigen Kritik anzuleiten;
Beseitigung aller Einschränkung, welche den Charakter der Bevormundung oder künstlicher Unterdrückung der Konkurrenz trägt, und Einführung strenger administrativer Kontrolle;
solide Grundlagen des Münz- und Geldwesens und gute Organisierung der Zettelbanken, deren rationelles Eingreifen oft Krisen im Keim ersticken kann;
endlich möglichst hohe Ausbildung der Statistik von Produktion und Verkehr sowie thunlichste Veröffentlichung der umfassendsten Nachrichten über Ernten, Produktion in Gewerbe und Industrie, Verlauf des Handels, Thätigkeit der Verkehrsanstalten, um vor Überproduktion und Überspekulation zu warnen und jeden über die wahre Lage des Marktes aufzuklären.
Nur das letzterwähnte Mittel scheint uns von wirklicher praktischer Bedeutung; die vorgeschrittenen Nationen streben immer mehr nach einem umfassenden, jedem leicht zugänglichen Nachrichtendienst, und diesem ist es wohl zumeist zu danken, daß die rückläufige Bewegung in den Jahren 1884 und 1885 ohne eigentliche Katastrophe eingeschlagen werden konnte.
Die Heilmittel der Krisen sind zumeist in denjenigen Veränderungen selbst gelegen, welche deren Ausbruch hervorruft. Der Sturz der Güterpreise führt zu einer allgemeinen Erniedrigung der Unterhalts- und Gestehungskosten, ermöglicht daher eine größere Konsumtion, dadurch Hebung [* 20] der Nachfrage, Räumung der überfüllten Lager, [* 21] Wiederkehr normaler Produktion. Die unsoliden und krankhaften Unternehmungen brechen zusammen, nach ihrer Liquidation haben die gesunden und kräftigen Erwerbszweige die Möglichkeit, sich wieder zu entfalten.
Die Sparsamkeit und Ängstlichkeit bewirken die Bildung neuer Kapitalien, welche sich soliden Unternehmungen und den Überresten, die aus dem Zusammenbruch gerettet wurden, zuwenden, und diese können, nachdem gewissermaßen durch die frühern Vermögensverluste große unfreiwillige Amortisationen erfolgt sind, billiger produzieren. So kann bald nach einer Krisis sowohl die Konsumtion als die Produktion auf einem höhern Punkt stehen als vorher, freilich nicht ohne vorhergehende schwere und schmerzliche Opfer. In dem Bewußtsein des erzielbaren Fortschritts liegt nun natürlich häufig schon wieder der Anlaß, um über das Ziel hinauszuschießen und den Keim einer neuen Krisis zu legen. S. auch Börse (bes. S. 237). Vgl. M. Wirth, ¶