mehr
Schultern herabfielen. Die zwei letzten Jahrhunderte des Mittelalters zeigen in der Haartracht beider Geschlechter die größte Mannigfaltigkeit. Die ehrbaren Männer trugen es kurz geschnitten, später auch lang herabhängend oder auch gekräuselt; die Frauen seit der Mitte des 14. Jahrh. stets mit einer der damals üblichen Kopfbedeckungen. Gänzliche Kürzung des Haars der Männer wurde zwar von Karl VII. in Frankreich eingeführt (vgl. Kalotte), scheint aber erst Ende des 15. Jahrh. allgemein geworden zu sein.
Auch die Landsknechte [* 2] schoren das Haar [* 3] möglichst kurz (s. Tafel »Kostüme [* 4] II«, [* 1] Fig. 10). Die Frauen dagegen beharrten dabei, es im Nacken aufzubinden und mit einer Haarhaube zu bedecken (s. Tafel »Kostüme II«, [* 1] Fig. 4, 7 u. 9.) In der Renaissancezeit kämmten die Männer das Haar über die Stirn und schnitten es gerade ab (Kolbe). Unter Ludwig XIV. entstand in Beziehung auf die Haartracht eine Revolution in ganz Europa. [* 5] Man ordnete das Haar in einen Wulst von Locken, Knoten, Buckeln u. dgl., und da das eigne Haar nun nicht mehr dazu ausreichte, so kamen die Perücken nicht nur in allgemeinen Gebrauch, sondern man befestigte sogar noch steife Kissen auf dem Kopf, um die erforderliche Turmhöhe der Frisur erreichen zu können (s. Tafel »Kostüme III«, [* 6] Fig. 7, und den Artikel »Perücke«). [* 7]
Gleichzeitig ward der Puder allgemein. Trugen auch die Damen keine Perücken, so waren ihre Haargebäude doch nicht weniger ungeheuer und dabei so mühsam, daß der Vorabend eines Festes zum Aufbau der Frisur angewendet werden und die Frisierte die Nacht im Lehnstuhl zubringen mußte (vgl. Fontange). [* 8] Durch die französische Revolution ward auch die Tyrannei des Friseurs gestürzt, und mit den veralteten Staatsformen fielen auch die Perücken, so daß die Männer bald allgemein kurzes Haar trugen, wie dies noch heute in ganz Europa der Fall ist.
Die Frauen dagegen suchten den Haarputz der Römerinnen auf einige Zeit wieder hervor und umgaben dann die Stirn mit Löckchen (s. Taf. »Kostüme III«, [* 6] Fig. 14), während das übrige Haar im Nacken zusammengeschlagen wurde oder im Chignon herabhing. Nur kurze Zeit trugen auch die Frauen kurzes Haar à la Titus (s. Tituskopf), eine Mode, die gegenwärtig wiedergekehrt ist; dann folgten die im Nacken herabwallenden Locken à l'enfant, und das lange Haar trat von neuem in seine Rechte.
Wieder aufgebunden, ward es in möglichst breite Flechten [* 9] gebracht, welche kranzartig auf dem Kopf lagen, während an beiden Seiten an den Schläfen ein wahrer Lockenwald prangte. Riesige Kämme von zierlicher Arbeit ragten darüber empor, und Diademe, [* 10] Perlen, Blumen etc. gruppierten sich dazwischen. Die sogen. Apolloschleifen sowie der nochmalige Versuch, den griechischen Haarputz wieder einzuführen, bildeten den Übergang zu größerer Einfachheit, welche den modernen Frisuren Platz machen mußte, die an Extravaganz alles Frühere übertrafen und weder einen bestimmten Charakter noch regelmäßige Formen darboten.
Ungeheure Chignons und Biberschwänze wechselten mit scheinbar zerzaustem Haar und Wäldern von falschen Locken, und erst neuerdings scheint man zu einer natürlichern Haartracht zurückkehren zu wollen, die freilich ebenso wie die weibliche Tracht dem raschen Wechsel der Mode unterworfen ist. Weit stabiler ist der Haarputz bei den außereuropäischen Völkern. Während auf der untersten Kulturstufe die Männer durch ein mähnenartiges Herabwallen des langen Haars sich meist ein furchtbares Ansehen zu geben suchen, tragen die Frauen das Haar häufig kurz oder geflochten oder in einen Wulst zusammengerollt.
Die Araberinnen teilen das Haar in unzählige kleine Flechten, die sie mit Goldfäden, Perlenschnüren, Bändern etc. durchziehen und mit einem leichten Turban bedecken. Die Araber tragen das Haar kurz. Die Chinesen und Japaner lassen es bis auf einen kleinen Büschel am Wirbel abscheren; ihre Frauen kämmen es von allen Seiten auf die Mitte des Kopfes zusammen und schmücken den zierlich geordneten Büschel mit Blumen, Nadeln [* 11] und Kämmen. Doch beginnt hier die europäische Zivilisation die alte Sitte zu verdrängen. Die Türken und Perser scheren sich das Haupt zum Teil; die Frauen ordnen das Haar in lange Flechten, die sie durch seidene von gleicher
[* 1] ^[Abb.: Fig. 1-8. Griechische Haartrachten.
Fig. 9 und 10. Römische [* 12] Haartrachten.] ¶
mehr
Farbe verlängern. Über die Haartracht der Geistlichen s. Tonsur. Außer den größern Werken über Kostümkunde vgl. Krause, Plotina, oder die Kostüme des Haupthaars bei den Völkern der Alten Welt (Leipz. 1858); Falke, und Bart der Deutschen (im »Anzeiger des Germanischen Museums« 1858); Bysterveld, Album de coiffures historiques (Par. 1863-65, 4 Bde.).
Technische Verwendung findet vorzüglich die Wolle (s. d.), und so wie diese wird auch, wenngleich in viel geringerer Menge, das feine tibetische und persische Ziegenhaar verarbeitet. Auch die Haare der Bisamratten, Hasen, Lamas und Kamele, [* 14] der Angoraziege, der Vicuña, des Alpako finden ähnliche Verwendung. Haargeflechte, Haarschnüre, Stricke und Haargewebe werden aus verschiedenen Haaren und zu mannigfachen Zwecken dargestellt. Die Menschenhaare dienen meist zur Bedeckung kahl gewordener Köpfe, seltener zur Darstellung der im engern Sinn sogen. Haararbeiten. Zu letztern verwendet man meist Haare von Verstorbenen, welche für Perücken etc. zu brüchig sind.
In der Regel ist das Haar 60 cm lang; doch kommt bisweilen auch doppelt so langes vor. Das Gewicht des Haars von einem Kopf beträgt selten mehr als ¼ kg. Die Hauptproduktionsorte sind oft wechselnde; neuerdings lieferten Böhmen, [* 15] Mähren, Ungarn, [* 16] West- und Norddeutschland, Dänemark, [* 17] Schweden, [* 18] Norwegen, Italien [* 19] und Spanien [* 20] bedeutende Mengen Menschenhaar. Sehr viel wird aus China [* 21] exportiert, doch ist diese Ware geringwertig. Das rohe Haar wird sortiert, mit kochendem Wasser, mit schwacher Sodalösung und Ammoniakflüssigkeit gewaschen, auch vielfach gefärbt und büßt bei dieser Behandlung 15-25 Proz. ein.
Haupthandelsplätze sind in Deutschland [* 22] Frankfurt, [* 23] Fulda, [* 24] Heilbronn, [* 25] Leipzig [* 26] etc. Frankreich verarbeitet jährlich ca. 130,000 kg, die fast ausschließlich von England und Amerika [* 27] konsumiert werden. Ein Surrogat der Menschenhaare für diesen Zweck ist die rohe Seide, [* 28] welche man blond, braun oder schwarz färbt und zu Locken und Perücken verarbeitet. Aber auch Bast, [* 29] Jutehanf etc. finden vielfach Verwendung. Die Haararbeiten aus Menschenhaar sind zum Teil sehr künstlich; es sind teils Flechtarbeiten, teils werden die Haare aufgeklebt, um Landschaften, Medaillons u. dgl. herzustellen. Derartige Arbeiten nennt man Haarmosaik oder Haarmalerei und, wenn man auf Seide arbeitet, wohl auch Haarstickerei.