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Geheimen Rats, der fast republikanisch gesinnte Sir Charles Dilke Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt. Im Parlament, das eröffnet ward, trat bei der Angelegenheit des radikalen Abgeordneten für Northampton, Bradlaugh, zuerst die Spaltung der liberalen Majorität in einen radikalen und einen mehr gemäßigten Flügel deutlich zu Tage. Derselbe war als Hauptvorkämpfer atheistischer Anschauungen bekannt und beantragte deshalb, ihm bei seinem Eintritt in das Unterhaus statt der Vereidigung die Abgabe einer Erklärung an Eides Statt zu erlauben. Dieser Antrag wurde 22. Juni trotz der Befürwortung Gladstones und gegen die Stimmen der Minister mit 275 gegen 230 Stimmen abgelehnt, und die Frage, ob Bradlaugh im Unterhaus zuzulassen sei, bereitete dem Ministerium noch in den nächsten Jahren zahlreiche Verlegenheiten.
Derselbe Gegensatz zwischen Radikalen und Gemäßigten zeigte sich auch in einigen andern Fragen, und die bald leidenschaftlich-heftige, bald schwankend-unschlüssige Haltung Gladstones war wenig geeignet, die Differenzen zu mildern. Daß die Regierung an der Annexion des Transvaallandes, die sie früher so lebhaft bekämpft hatte, festhielt, erregte bei den Radikalen vielfach Ärgernis, und auch mit der afghanischen Politik Gladstones waren sie nicht immer einverstanden.
Die Regierung trat hier mit Abd ur Rahmân Chan, einem der Thronprätendenten, der bis dahin eine russische Pension bezogen hatte, in Verhandlungen; im Juli erkannte der neue Vizekönig von Indien, Lord Ripon, denselben als Emir von Afghanistan [* 2] an, und die englischen Truppen bereiteten sich vor, das Land zu räumen; aber zu einer dauernden Ordnung der Verhältnisse war man noch nicht gelangt, und noch in den letzten Tagen des Juli traf die Engländer ein schweres Mißgeschick, indem die Truppen des Generals Burrow durch einen neuen Aufstand unter Ejub Chan fast gänzlich vernichtet und die Garnison von Kandahar gezwungen wurde, sich in die Citadelle zurückzuziehen.
Wie diese Maßnahmen den radikalen, so verletzten andre Handlungen Gladstones den gemäßigten Teil seiner Partei; insbesondere eine von ihm eingebrachte Bill, welche den irischen Pachtern Schutz gegen willkürliche Exmissionen wegen nicht bezahlter Pachtgelder gewähren sollte, stieß auch in liberalen Kreisen auf heftigen Widerstand, weil sie der reichen Whigaristokratie der erste Schritt auf dem Weg zum Umsturz des ganzen hergebrachten Grundbesitzsystems zu sein schien. Sie wurde zwar im Unterhaus nach langen Debatten 27. Juli mit 66 Stimmen Mehrheit genehmigt, im Oberhaus aber setzte 3. Aug. Lord Grey, der Typus der alten Whigs, die Verwerfung derselben durch. Die parlamentarische Session, die geschlossen wurde, endete somit nicht eben glücklich für die Regierung.
Auch auf dem Gebiet der auswärtigen Politik konnte dieselbe keineswegs auf entschiedene Erfolge hinweisen. Von den durch den Berliner [* 3] Vertrag von 1878 berührten Fragen waren beim Amtsantritt Gladstones drei noch ungelöst. In Armenien hatte die Pforte trotz des Cypern-Vertrags bisher die verheißenen Reformen nicht eingeführt. Von den Montenegro [* 4] zugesicherten Landabtretungen war nur ein Teil in die Gewalt des Fürsten Nikita gelangt, der Hauptteil aber von der »albanesischen Liga« in Besitz genommen.
Mit Griechenland [* 5] endlich waren bisher alle Verhandlungen an dem Starrsinn der Pforte gescheitert. In allen diesen Beziehungen sollte Göschen, welcher gleich nach dem Ministerwechsel an Layards Stelle als Botschafter nach Konstantinopel [* 6] geschickt wurde, die türkischen Staatsmänner zu endlicher Nachgiebigkeit bewegen; aber seine Erfolge waren äußerst gering. Nun trat auf Englands Vorschlag 16. Juni Berlin [* 7] eine Konferenz der Botschafter der sechs Mächte zusammen, um die griechische Frage zu lösen; in wenigen Tagen (bis zum 28. Juni) hatte sie ihre Aufgabe erledigt und die neue Grenze zwischen Griechenland und der Türkei [* 8] traciert; aber die Pforte lehnte diese Entscheidung ab und erklärte nach wie vor die Abtretung von Janina und Larissa als völlig unthunlich, so daß ein Krieg zwischen ihr und den Griechen drohte. In der montenegrinischen Angelegenheit kam es ebenfalls auf Englands Vorschlag zu einer Flottendemonstration der Mächte, allein dieselbe verlief in nahezu beschämender Weise: die Auslieferung von Dulcigno an die Montenegriner wurde von den Albanesen hartnäckig verweigert und erfolgte erst Ende November auf direktes Einschreiten der Pforte. Vor allen Dingen aber verschlimmerte sich in Irland in der zweiten Hälfte des Jahrs die Lage der Dinge so, daß dieselbe alle Aufmerksamkeit des Ministeriums in Anspruch nahm. Die Agitationen der Landliga gewannen ungeachtet eines den Führern gemachten Prozesses ungeahnte Ausdehnung; [* 9] die öffentliche Sicherheit war durch Zusammenrottungen, Straßentumulte, Raub- und Verheerungszüge und agrarische Morde in einzelnen Teilen des Landes völlig zerrüttet. Die Autorität des Gesetzes und der Behörden wurde aufs keckste mißachtet; die Boten und Beamten der Gerichte wurden öffentlich verhöhnt; die Liga verbot den Pachtern, einen höhern Pachtzins zu zahlen, als sie für billig hielt, und zwang durch öffentliche Gewaltthaten und durch das System des Boycotting (s. Boycott), das wie eine Verfemung wirkte, Engländer und Irländer zum Gehorsam gegen ihre Anordnungen oder zum Verlassen des Landes. In einzelnen Fällen, in denen eine derartige Verfemung ausgesprochen wurde, brachte die Regierung militärische Hilfe; aber derartige militärische Expeditionen ließen sich nicht immer wiederholen, und je wirksamer sich das System des Boycotting erwies, um so klarer wurde es, daß die eigentliche Herrschaft in Irland von der offiziellen Regierung des Landes auf die geheime Regierung der Landliga übergegangen sei. Kam zu alledem nun noch ein im Dezember 1880 ausgebrochener und militärisch erfolgreicher Aufstand der Buren im südafrikanischen Transvaalland, so begreift man, daß die Lage des Ministeriums bei der am erfolgten Eröffnung des Parlaments keine besonders günstige war.
Die Thronrede stellte die irischen Angelegenheiten durchaus in den Vordergrund; sie verkündete auf der einen Seite den Entschluß der Regierung, den demagogischen Agitationen der Landliga mit Energie entgegenzutreten, während sie anderseits materielle Zugeständnisse an dieselbe in Aussicht stellte. Dem erstern Zweck sollten zwei Ausnahmegesetze für Irland dienen, deren eins den Besitz von Feuerwaffen in Irland verbot, während das andre dem Vizekönig der Insel erhöhte Vollmachten verleihen sollte, um den agrarischen Verbrechen ein Ende zu machen; er sollte befugt sein, über alle irischen Distrikte, in denen er es für nötig halte, eine Art von Belagerungszustand zu verhängen und während der Dauer desselben alle Personen, welche ihm verbrecherischer Handlungen schuldig erschienen, ohne gerichtliches Verfahren auf 18 Monate gefangen zu setzen. Die irischen Mitglieder des Unterhauses, geführt von Parnell und Mac ¶
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Carthy, setzten diesen Vorschlägen der Regierung den hartnäckigsten Widerstand entgegen und suchten durch eine selbst nach den Erfahrungen der letzten Jahre unerhörte »Obstruktion« das Durchgehen derselben zu verhindern. Nach mehreren Wochen fruchtloser Beratungen war es klar geworden, daß die bisherigen Mittel, welche die Geschäftsordnung an die Hand [* 11] gab, nicht ausreichten, den Widerstand zu brechen, welchen die kleine, aber gut disziplinierte irische Minorität dem Willen der Mehrheit des Hauses entgegenstellte.
Erst ein in der Geschichte des englischen Parlamentarismus unerhörter Staatsstreich des Sprechers des Unterhauses (2. Febr.), der nach einer ununterbrochenen Sitzung von 41 Stunden auf seine eigne Verantwortlichkeit die Debatte für geschlossen erklärte und die Anträge der Regierung zur Abstimmung brachte, sowie am folgenden Tag eine auf Gladstones Antrag nach den heftigsten Szenen angenommene Änderung der Geschäftsordnung ermöglichten eine schnellere Beratung der beiden Ausnahmegesetze, welche 21. März Gesetzeskraft erlangten. Demnächst wurde 7. April von Gladstone die irische Landbill eingebracht. Der Kern dieses Gesetzentwurfs war die Einsetzung einer königlichen Kommission von drei Mitgliedern, welche nach diskretionärem Ermessen Streitigkeiten zwischen Landeigentümern und Pachtern in Irland schlichten und in streitigen Fällen die Höhe des Pachtzinses auf je 15 Jahre festzustellen befugt sein sollte. Außerdem wurden der Kommission Mittel zur Verfügung gestellt, um Pachtern den Erwerb des Eigentums ihrer Pachtgüter durch Vorschüsse bis zur Höhe von drei Vierteln des Kaufpreises zu erleichtern, sowie um mittellosen Bauern die Anwanderung zu ermöglichen. Die Zugeständnisse, welche die Bill den Irländern machte, waren, wie man sieht, sehr groß; trotzdem ward dieselbe nicht nur von der konservativen Partei, welche in jeder staatlichen Einmischung in die Beziehungen zwischen Landeigentümern und Pachtern einen Eingriff in das unbedingte Eigentumsrecht sah, sondern auch von der Mehrzahl der irischen Abgeordneten, welche von der Annahme dieses Gesetzes eine Abschwächung der Agitation in Irland und damit ihres eignen politischen Einflusses fürchteten, aufs hartnäckigste bekämpft und erst 29. Juli im Unterhaus sowie 16. Aug. nach heftigem Widerstand Lord Salisburys im Oberhaus angenommen. Am 27. Aug. wurde die Session des Parlaments, die, abgesehen von den irischen Gesetzen, nur unbedeutende legislatorische Ergebnisse aufzuweisen hatte, geschlossen.
Die auswärtigen Angelegenheiten waren im Parlament gleichfalls sehr in den Hintergrund getreten, obwohl die Lage der Dinge keineswegs überall eine für England günstige war. Zwar in Europa [* 12] begannen die kriegerischen Befürchtungen im Lauf des Frühjahrs zu schwinden, indem Griechenland und die Türkei sich unter dem Druck der Großmächte über die neue Grenze einigten. Entschiedenen Mißerfolgen begegnete dagegen die Politik des Ministeriums in Asien [* 13] und Afrika. [* 14] In Asien entschloß dasselbe sich, die Errungenschaften des afghanischen Kriegs im wesentlichen aufzugeben, und räumte im April Kandahar vollständig von britischen Truppen.
Die Folge war, daß nun der mit englischer Hilfe eingesetzte Emir Abd ur Rahmân von Kabul sich seinem Gegner durchaus nicht gewachsen zeigte. Im Juli rückte Ejub Chan von Herat aus in Afghanistan ein; am 27. Juli errang er einen vollständigen Sieg über den Emir, dessen Truppen zum Teil zu ihm übergingen; am 30. zog er als Sieger in Kandahar ein. Obwohl somit der erbitterte Gegner Englands hier wieder zur Herrschaft gelangte, blieb doch die indische Regierung diesen Vorgängen gegenüber zunächst völlig neutral. In Südafrika [* 15] erreichte der Widerstand, welchen die Buren des Transvaallandes den zu ihrer Unterwerfung abgesandten englischen Kolonnen entgegensetzten, eine unerwartete Ausdehnung, und die britische Regierung mußte sich nach zwei Niederlagen, welche ihre Truppen unter Sir George Collier 28. Jan. bei Laings Neck und 27. Febr. bei Majubahill erlitten hatten, und in deren zweiter der General selbst gefallen war, 23. März zu einem von dem Präsidenten der Oranjerepublik, Brand, vermittelten Friedensschluß verstehen.
Durch denselben gestand sie die Wiederherstellung der Transvaalrepublik zu, versprach den Buren vollständige Selbstregierung und behielt sich nur die nominelle Anerkennung der englischen Suzeränität, die Kontrolle über die auswärtigen Angelegenheiten der Republik, die Aufnahme eines britischen Residenten in der Hauptstadt und einen gewissen Einfluß auf die Regelung der Beziehungen zwischen der Republik und den afrikanischen Eingebornen vor.
Von den außerordentlichen Vollmachten, welche die Regierung durch die irischen Zwangsgesetze erhalten hatte, begann sie erst in den letzten Monaten des Jahrs energischern Gebrauch zu machen. Auf der Nationalkonvention der irischen Landliga waren Beschlüsse gefaßt, welche die vom Parlament angenommene Landakte für durchaus ungenügend erklärten, da die Prinzipien der Liga nicht eine Ermäßigung oder Fixierung, sondern die gänzliche Abschaffung der Pachtzinsen erheischten. Da somit eine Versöhnung mit der Liga unmöglich erschien, entschloß sich die Regierung, die Organisation derselben zu sprengen. Am 14. Okt. und in den nächsten Tagen wurden die Führer derselben, darunter auch Parnell, auf Grund der Zwangsakte als »Verdächtige« verhaftet und ins Gefängnis gebracht; andre Leiter der Bewegung entgingen dem gleichen Schicksal nur durch eilige Flucht.
Die Liga selbst wurde 21. Okt. durch Proklamation des Vizekönigs für ungesetzlich erklärt und ihre Versammlungen verboten. Andre Verhaftungen folgten, bald füllten sich die Gefängnisse mit Beamten und Mitgliedern der Liga. Trotzdem gelang die Aufrechthaltung der Ordnung in Irland nicht. An die Stelle der zerstörten Organisation der Landliga traten geheime, nur um so gesetzlosere Verbindungen. Der Widerstand gegen die Grundherren, die Terrorisierung der Pachter, die zu einem Ausgleich geneigt gewesen wären, dauerte fort: das von den verhafteten Führern der Liga ausgegebene No rent-Manifest, d. h. die Parole, bis zur Aufhebung der Zwangsmaßregeln überhaupt keinen Pachtzins mehr zu zahlen, fand entweder freiwilligen Gehorsam, oder die Schreckensthaten der »Mondscheinbande«, die in ihren nächtlichen Expeditionen unfaßbar erschien, verschafften ihm solchen.
Selten gelang die Verhaftung eines der Missethäter, fast nie seine Verurteilung, da keine irische Jury zu finden war, die ihn schuldig zu sprechen den Mut gehabt hätte. Und während so die Regierung den Zweck ihrer in der vorigen Session getroffenen Maßregeln, durch die Zwangsakte die Verbrecher zu schrecken, durch die Landakte die gemäßigten Elemente zu versöhnen, verfehlte, ward gleichzeitig die Opposition der Grundbesitzer gegen die letztere immer heftiger. Die Landgerichtshöfe hatten inzwischen ihre Thätigkeit begonnen; fast in allen Fällen hatten ihre Entscheidungen eine Herabsetzung der Pachtzinsen verfügt und dadurch die Interessen der Grundbesitzer geschädigt; am ¶