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jährlich 10 Pfd. Sterl. Mietzins das Wahlrecht zu. So ging denn 15. Juli die Bill, welche für die Städte das nur durch einjährige Wohnung und entsprechende Steuerzahlung beschränkte Household-suffrage, für das Land einen Zensus von 12 Pfd. Sterl. festsetzte, in dritter Lesung durch das Unterhaus. Von den Amendements der Lords erhielt nur eins, welches in zwölf großen Städten mit je drei Abgeordneten der Minorität, sobald sie mehr als ein Drittel aller Stimmen zählte, ein Mandat sicherte, die Genehmigung des Unterhauses. In allen übrigen Dingen gaben die Lords nach (12. Aug.). Mit diesem zu Ende der Session verkündeten neuen Wahlgesetz (einem »Sprung ins Dunkle«, wie Derby selbst sich ausdrückte) war die ganze englische Verfassung auf eine neue demokratische Grundlage gestellt.
Die von den Gegnern der Maßregel gefürchteten und prophezeiten verhängnisvollen Folgen traten zunächst nicht ein; nach wie vor blieb das Unterhaus die Vertretung des eigentlichen Mittelstandes; ja, die zweiten allgemeinen Wahlen nach dem neuen System ergaben sogar eine entschiedene konservative Mehrheit. Aber trotzdem ist ein stärkeres Hervortreten des Radikalismus im Parlament und infolgedessen auch in der Regierung, namentlich nach den Wahlen von 1880, deutlich zu erkennen gewesen, und der Gang [* 2] der Entwickelung scheint, soweit sich bis jetzt beurteilen läßt, auf eine weitere Stärkung dieser Elemente hinzuweisen.
Die irische Frage.
Abgesehen von den Debatten über die Reformbill, war in diesem Jahr die allgemeine Aufmerksamkeit besonders wieder durch Irland in Anspruch genommen. Die beunruhigenden Symptome, welche schon im Dezember des Vorjahrs zu neuen Verhaftungen und zu Haussuchungen nach Waffenvorräten Veranlassung gegeben hatten, dauerten in das neue Jahr hinüber. In Amerika [* 3] war allerdings unter den Feniern eine Spaltung ausgebrochen, indem Stephens von einem andern Führer der Partei, dem General Millen, als Betrüger bezeichnet und infolgedessen von der Führerschaft abgesetzt wurde (Januar 1867). In Europa [* 4] aber hörte die Bewegung darum nicht auf, sie wurde vielmehr noch drohender.
Das Anzeichen der neuen Erhebung der Fenier war ein Angriff auf das Schloß zu Chester (11. Febr.), um die darin befindlichen Waffen [* 5] und Munitionsvorräte nach Irland zu bringen; wiederholte Insurrektionen in Irland bei Killarney (12. Febr.), Drogheda (5. März), der Versuch einer Landung bei Waterford (Anfang Juni), die Verbreitung von Proklamationen der »provisorischen Regierung der irischen Republik« folgten. Alle diese Versuche der Fenier scheiterten zwar, aber sie hielten doch die Bevölkerung [* 6] in fortwährender Unruhe. Im September gelang dann den Feniern zu Manchester [* 7] durch Meuchelmord die Befreiung zweier angesehener Gefangenen ihrer Partei, doch wurden etwa 20 der Beteiligten verhaftet und drei der Mörder (23. Nov.) hingerichtet. Die letzte Schandthat der Fenier in diesem Jahr war endlich der Versuch, zwei Gefangene aus dem Gefängnis Clerkenwell zu London [* 8] durch eine Pulverexplosion zu befreien (13. Dez.), welche etwa 40 Personen der Nachbarschaft, meistens aus dem Volk, das Leben kostete. Hatte der Fenianismus wirklich noch Sympathien bei den Arbeiterklassen Englands gehabt, so ging er derselben durch solche Mordthaten gänzlich verlustig.
Im Herbst 1867 unternahm die Regierung eine Expedition gegen den Kaiser Theodor von Abessinien zur Züchtigung für Gewaltthätigkeiten, die sich derselbe gegen Unterthanen der englischen Krone erlaubt hatte; man verwendete dazu mit Rücksicht auf das Klima [* 9] indische Truppen unter dem Oberbefehl Sir Robert Napiers. Dieser unternahm einen Sturm auf die Festung [* 10] Magdala, welcher rasch und ohne viel Verlust zum Ziel führte; 14,000 Abessinier streckten die Waffen (näheres s. Abessinien, Geschichte). Die Kosten für diesen Feldzug bewilligte das im November 1867 zu einer außerordentlichen Session einberufene Parlament, wobei die Regierung unter Zustimmung beider Häuser die Erklärung abgab, daß sie an eine Besitznahme des eroberten Abessinien nicht denke; in der That wurde dasselbe von den Engländern wieder geräumt.
Im Februar 1868 kam das Parlament aufs neue zusammen und ließ sich von der Regierung leicht dazu bewegen, eine Verlängerung [* 11] der Ausnahmemaßregeln gegen Irland zu beschließen. Damit aber war die irische Frage selbst nicht zu erledigen, mit der sich unaufhörlich alle Kreise [* 12] der Bewohner Großbritanniens beschäftigten, indem die hervorragendsten Politiker, Männer der verschiedensten Richtung, in öffentlichen Reden oder Flugschriften die Lage Irlands besprachen. Im großen und ganzen waren die Liberalen darüber einig, daß in den kirchlichen und agrarischen Verhältnissen die Wurzel [* 13] des Übels zu suchen sei.
Während Russell meinte, mit einem Landgesetz auszureichen, welches den von den Grundbesitzern ausgewiesenen Pachtern eine billige Vergütung für die auf die Verbesserung des Gutes verwandte Kapitals- und Arbeitskraft sichere, forderte Stuart Mill, daß den irischen Bauern sofort ohne Ausnahme die von ihnen bebauten Landstellen als Eigentum überlassen werden sollten. Bright stand für die Organisation des ländlichen Besitzes die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung als Muster vor Augen. Mill und Bright begehrten mit gleicher Entschiedenheit die Aufhebung der irischen Staatskirche, während auch hier Russell weniger radikale Anschauungen vertrat. Der so in öffentlicher Diskussion gereiften Angelegenheit konnte auch das Ministerium nicht länger aus dem Wege gehen.
Schon im Lauf des Jahrs 1867 hatten einige minder bedeutende Personalveränderungen in der Regierung stattgefunden;
nun erfolgte auch die längst erwartete Resignation des gichtkranken Lords Derby;
Premierminister wurde Disraeli, den Großbritannien [* 14] W. Hunt als Kanzler des Schatzamtes ersetzte. Im März mußte das so veränderte Kabinett der irischen Frage näher treten. Es hatte gehofft, mit kleinen Zugeständnissen, namentlich mit Gründung einer katholischen Universität, auszureichen;
die Opposition aber, welche sich geschlossen um Gladstone scharte, hielt eine durchgreifende Reform für erforderlich und die Regierungsvorschläge für völlig ungenügend.
Gladstone wünschte in der Ackerbaufrage nicht weiter zu gehen als Russell und wies die Forderungen Stuart Mills rundweg ab; dagegen wollte er in der kirchlichen Frage radikal vorgehen und beantragte die Entstaatlichung (disestablishment) der irischen Kirche, d. h. die Entziehung aller Rechte, deren sich dieselbe bisher als Staatskirche erfreut hatte. In diesem Sinn brachte er Ende März eine Resolution ein, welche trotz des Widerspruchs der Regierung mit 56 Stimmen Mehrheit angenommen wurde Trotz dieser Niederlage blieb Disraeli im Amt; er erklärte, ohne sich durch die heftigsten Angriffe in beiden Häusern beirren zu lassen, daß erst das nach dem neuen Wahlgesetz noch in diesem Jahr neu zu wählende Unterhaus die definitive Entscheidung in einer so wichtigen Frage, wie die irische sei, treffen ¶
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könne. Am 31. Juli wurde das Parlament geschlossen, und 11. Nov. erfolgte seine Auflösung, worauf sofort die Neuwahlen stattfanden.
Die Wahlkämpfe waren äußerst lebhaft, die Wirkungen des neuen Wahlgesetzes zeigten sich in überraschender Weise. Die Wählerzahl hatte um 1,200,000 Mann oder 82 Proz. zugenommen. Eigentliche Arbeiterkandidaten errangen zwar nirgends den Sieg; überhaupt war das Wahlresultat den Radikalen wenig günstig, indem viele von ihnen, unter andern Stuart Mill, Milner Gibson, Roebuck, ihre Sitze verloren; aber an dem Hauptergebnis ward dadurch nichts geändert: die Liberalen erlangten eine Mehrheit von 116 Stimmen.
Das Ministerium Disraeli nahm daher jetzt 3. Dez. seine Dimission, und Gladstone bildete die neue Regierung, deren bedeutendste Mitglieder Graf de Grey and Ripon (Konseilpräsident), Bruce (Inneres), Graf Clarendon (Äußeres), Graf Granville (Kolonien), Cardwell (Krieg), Lowe (Schatzkanzler), Bright (Präsident des Handelsamtes) und Lord Hartington (Generalpostmeister) waren. Am wurde das Parlament eröffnet. Schon 1. März legte Gladstone die Bill über die Aufhebung der irischen Staatskirche im Unterhaus vor, welches dieselbe nach harten Kämpfen drei Monate darauf annahm.
Das Oberhaus machte größere Schwierigkeiten, so daß momentan selbst sein unverändertes Weiterbestehen in Frage gestellt schien und die Regierung, um ein beweglicheres Element hineinzubringen, auf den schon früher gehegten Plan, Peers auf Lebenszeit zu ernennen, zurückkam. Dies ward freilich 8. Juli abgelehnt, aber endlich sahen auch die Lords die Nutzlosigkeit fernern Widerstandes ein, und 26. Juli erhielt die Bill Gesetzeskraft. Sie enthielt im wesentlichen folgende Bestimmungen: Alles Eigentum der irischen Kirche (Gotteshäuser, Pfarrhäuser, Pfarrländereien und Zehntengefälle) ging in die Hände einer königlichen Kommission über, welche die Einkünfte den vorhandenen Pfründeninhabern auf deren Lebensdauer auszuzahlen hatte. Am sollte die förmliche Entstaatlichung der irischen Kirche in Kraft [* 16] treten, d. h. die irischen Bischöfe sollten aus dem Haus der Lords ausscheiden, die irischen Kirchengerichtshöfe aufhören zu funktionieren und die Gesetze der irischen Kirche nur noch als Gesellschaftsverträge einer freiwilligen Korporation gelten.
Von dem Gesamteigentum der irischen Staatskirche (aus 16½ Mill. Pfd. Sterl. außer Kirchen- und Pfarreigebäuden bestehend) sollten ihr über zwei Drittel verbleiben; der Rest sollte zu wohlthätigen Zwecken, teilweise auch für Katholiken und Presbyterianer verwendet werden. Die Wirkungen, welche man sich von dem neuen Gesetz versprochen hatte, gingen nur zum Teil in Erfüllung. Die extremen Parteien in Irland sahen das ihnen gemachte Zugeständnis nur als eine Abschlagszahlung an; die Tumulte und agrarischen Mordthaten der Fenier hörten nicht auf, und die Leiter der Revolutionspartei fuhren fort, das Land in Aufregung zu erhalten. Die Session von 1869 wurde 11. Aug. geschlossen; bald nachher (23. Okt.) starb Lord Derby; die Führerschaft der Konservativen im Oberhaus übernahm der Herzog von Richmond.
Am wurde die neue Session eröffnet. Gladstone legte außer dem Entwurf eines Unterrichtsgesetzes, welches den Schulzwang einführte, eine irische Landbill vor, wonach der Staat in Irland Ländereien ankaufen sollte, um sie zu parzellieren und auf diese Weise wieder kleine Grundbesitzer zu schaffen. Dies Gesetz, welches ohne große Mühe in beiden Häusern angenommen wurde, war der zweite Schritt auf dem Weg zur Besserung der Verhältnisse Irlands. Es enthielt außer der oben erwähnten auch Bestimmungen, welche willkürliche Kündigung von seiten der Grundherren verhindern und die Einführung längerer Pachtkontrakte begünstigen sollten sowie Schiedsgerichte zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Grundherren und Pachtern einführten.
Aber das eigentliche Proletariat auf dem Land war dabei nicht berücksichtigt, und aus diesem Grund konnte das Gesetz nicht die Wirkung üben, welche die liberale Partei davon gehofft hatte. Die Regierung erlitt in dieser Zeit einen großen Verlust durch das Hinscheiden des Ministers des Äußern, Lord Clarendon, der durch Lord Granville ersetzt wurde. Drei Wochen nach seinem Tod brach der deutsch-französische Krieg aus. Die Regierung erklärte alsbald die Neutralität Großbritanniens, was sie aber nicht abhielt, die Ankäufe von Pferden, Kohlen, ja auch Waffen, welche Frankreich in Großbritannien vollzog, trotz der lebhaftesten Reklamationen seitens der deutschen Gesandtschaft zu gestatten; Granville berief sich darauf, daß die Gesetze des Landes ihm nicht erlaubten, gegen diese Ankäufe einzuschreiten.
Die öffentliche Meinung in Großbritannien stand zu Anfang des Kriegs im großen und ganzen auf seiten Deutschlands; [* 17] aber seit der Gefangennahme Napoleons bei Sedan [* 18] (2. Sept.) neigte sich die Sympathie der französischen Republik zu, und vielfach verübelte man es Deutschland [* 19] sehr, daß dasselbe nicht nach dem Sturz des Kaisertums den Krieg beendete, ohne für seine Verluste Entschädigung und für die Zukunft Garantien erlangt zu haben. Freilich schadeten diese Antipathien Deutschland sehr wenig, da die Regierung wohl oder übel an ihrer Neutralität festhielt. Überhaupt verhinderten die militärische Schwäche und die diplomatische Isoliertheit Großbritanniens, die in den letzten Jahren immer deutlicher hervortraten, jeden Einfluß desselben auf die Friedensverhandlungen.
Die gesunkene Autorität Großbritanniens in Europa gab sich noch bei einer andern Gelegenheit in demselben Jahr kund: als nämlich Rußland die Niederwerfung Frankreichs benutzte, um die Beseitigung der durch die Verträge von 1856 ausgesprochenen Neutralität des Schwarzen Meers zu fordern, welche Großbritannien als eine besonders bedeutende Errungenschaft des Krimkriegs ansah. Granville beantwortete die russischen Noten über diese Angelegenheit zuerst in ziemlich schroffem Ton, sah sich aber bald genötigt, da er auf die Unterstützung keiner andern europäischen Macht rechnen konnte, nach dem Vorschlag des deutschen Reichskanzlers in London Konferenzen zur Beschlußnahme über die Pontusfrage abzuhalten.
Dieselben wurden eröffnet und endeten im wesentlichen mit einer Bewilligung der russischen Forderung, womit die englische Politik eine offenbare Niederlage erlitt. Als das Parlament wieder eröffnet wurde, kam es über die Fragen der auswärtigen Politik, insbesondere über die Pontusfrage, über den deutsch-französischen Krieg und den Präliminarfrieden, zu langen Debatten und heftigen Angriffen gegen die Regierung, die indes keinen andern Erfolg hatten, als die Einflußlosigkeit Großbritanniens vor dem ganzen Land zu konstatieren. Bei der Beratung des Budgets, die auf diese Debatten folgte, galt es, ein infolge der vom Kriegsminister Cardwell beantragten neuen Heeresorganisation (welche unter anderm auch den Stellenkauf der Offiziere beseitigte, an dem Grundcharakter des Heers als eines geworbenen aber nichts änderte) ¶