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Erledigung der dringendsten Geschäfte aufzulösen. Inzwischen hatten sich nämlich die Beziehungen des französischen und österreichischen Kabinetts so gestaltet, daß eine friedliche Lösung der italienischen Frage kaum mehr denkbar war. Großbritannien [* 2] war seinem alten Bundesgenossen Österreich [* 3] längst entfremdet und konnte schon nach der bisher zu der italienischen Bewegung eingenommenen Stellung Frankreich in Italien [* 4] nicht feindlich entgegentreten. Schon im Anfang März 1859 war Lord Cowley, der Gesandte Großbritanniens in Paris, [* 5] im Einverständnis mit Napoleon III. nach Wien [* 6] gegangen, um Österreich zu Konzessionen in Italien zu bewegen; doch vermochten weder diese Unterhandlungen noch ein russischer Vermittelungsvorschlag den Ausbruch des Kriegs in Oberitalien [* 7] zu verhindern.
Inzwischen hatten in Großbritannien die Neuwahlen stattgefunden, deren Ergebnis für die Regierung durchaus ungünstig war. Das neue Unterhaus beschloß schon 7. Juni ein direktes Mißtrauensvotum und nötigte so das Kabinett zum Rücktritt. Lord Palmerston hatte in Gemeinschaft mit Lord John Russell den Angriff geleitet und bildete nun das neue Kabinett, in welchem er selbst erster Lord des Schatzes, Russell Staatssekretär für das Auswärtige ward und Gladstone die Finanzen übernahm; außerdem waren Cornewall Lewis (Inneres), Lord Sidney Herbert (Krieg) und von den Radikalen Milner Gibson (Handel), Sir Ch. Villiers (Armenamt) die hervorragendsten Mitglieder.
Der Verlauf des italienischen Kriegs hatte den Wünschen der öffentlichen Meinung in Großbritannien, die vor allem eine Neugestaltung Italiens [* 8] im nationalen Sinn erwartete und die Ausbreitung der sardinischen Herrschaft in Italien sympathisch begrüßte, nicht entsprochen. Die Verträge von Villafranca und Zürich [* 9] riefen lebhaftes Mißtrauen gegen die französische Politik wach, das durch eine vorübergehende Spannung zwischen beiden Westmächten wegen der marokkanischen Expedition Spaniens noch vermehrt wurde und endlich seinen Höhepunkt erreichte, als die Gerüchte von der bevorstehenden Einverleibung Savoyens und Nizzas in Frankreich immer stärker wurden.
Daß es aber nicht zum Bruch zwischen beiden Westmächten kam, bewirkte vor allem ein von Cobden und Lord Cowley zu Paris verhandelter, auf freihändlerischer Basis stehender Handelsvertrag mit Frankreich, welcher für Großbritannien die größten Vorteile brachte. Am 4. Febr. wurden die Ratifikationen desselben in Paris ausgewechselt und 10. Febr. der Vertrag von Gladstone zugleich mit dem Budget dem am 24. Jan. eröffneten Parlament vorgelegt. Die Versuche der Opposition, die Annahme desselben zu verhindern, bei deren Diskussion Lord Grey offen aussprach: »Wir haben Savoyen verkauft, um uns einen Markt für Baumwolle [* 10] zu sichern«, hatten keinen Erfolg;
der Vertrag wurde 11. März genehmigt.
Als nun wenige Tage darauf die Annexion eine vollendete Thatsache geworden war, sprachen Russell und Palmerston zwar ihr Mißtrauen gegen Frankreich im Parlament in starken Ausdrücken aus; gleichwohl wagte das Kabinett keinen ernstlichen Schritt, ja nicht einmal einen förmlichen Protest gegen die Einverleibung. Nur führte allerdings das Mißtrauen gegen die Eroberungspolitik Napoleons III., das durch die gewaltige Vermehrung der französischen Flotte noch gesteigert war, zu umfassenden Vorsichtsmaßregeln in Großbritannien Korps von Freiwilligen begannen sich allerorten zu bilden; zugleich sorgte die Regierung für eine ausgedehnte Küstenbefestigung, für welche das Parlament nicht weniger als 11 Mill. Pfd. Sterl. bewilligte.
Nichtsdestoweniger gingen die beiden Westmächte in Ostasien eben in dieser Zeit noch einmal völlig Hand [* 11] in Hand. China [* 12] hatte nämlich den gemäß des Vertrags von Tiëntsin abgeordneten europäischen Gesandtschaften Schwierigkeiten aller Art bereitet, und schon 1859 war daraus ein neuer Krieg entstanden. Nachdem ein erster Angriff der Alliierten auf die Forts an der Peihomündung abgeschlagen war, machten dieselben 1860 der treulosen Politik der Chinesen gegenüber endlich vollen Ernst.
Die Peihoverschanzungen wurden 21. Aug. genommen und 8. Sept. der Marsch gegen Peking [* 13] begonnen. Am 13. Okt. ward Peking von den Engländern und Franzosen besetzt und schon 26. Okt. daselbst der Friede zwischen China und den Alliierten unterzeichnet, worauf die Gesandten ihren feierlichen Einzug in die Hauptstadt des »Reichs der Mitte« hielten. Am eröffnete die Königin das neue Parlament. Die Thronrede kündigte wichtige Vorlagen zur Verbesserung der Straf-, Bankrott- und Insolvenzgesetze, zur größern Erleichterung der Grund- und Bodenübertragung etc. an, erwähnte dagegen, zum erstenmal seit Jahren, die Wahlreformfrage gar nicht. Am 30. März erfolgte die Anerkennung des Königreichs Italien durch Großbritannien. Im Orient, wo Frankreich im vorigen Jahr aus Anlaß der Unruhen in Syrien durch Entsendung eines Okkupationsheers sich bemüht hatte, die Sympathie der christlichen Bevölkerung [* 14] zu gewinnen, suchte Großbritannien jede Veränderung der bestehenden Zustände zu verhüten; insbesondere verweigerte die Regierung jedes Entgegenkommen gegen die Wünsche der Bevölkerung der Ionischen Inseln, welche in ihrem Parlament das Aufhören des britischen Protektorats gewünscht hatten. Erst 1862, als nach dem Sturz des Königs Otto von Griechenland [* 15] es Großbritannien darauf ankam, einen dänischen Prinzen zum König gewählt zu sehen, wurden die Inseln an Griechenland (s. d., S. 716) abgetreten.
Dem zwischen den nördlichen und südlichen Staaten der nordamerikanischen Union ausgebrochenen Bürgerkrieg konnte Großbritannien schon um seiner Industrie willen, welcher das Rohprodukt der Südstaaten, die Baumwolle, zum unentbehrlichen Bedürfnis geworden war, nicht teilnahmlos zusehen. Trotz der Erklärung der Unionsregierung in Washington, [* 16] daß sie sich einer Anerkennung der Südstaaten von seiten europäischer Mächte widersetzen werde, erkannten doch sowohl Großbritannien als Frankreich beide Teile als kriegführende Mächte an, erklärten aber zugleich ihre Neutralität.
Vermittelungsanträge Großbritanniens und Frankreichs wurden in Washington höflich abgelehnt; dagegen setzten die Südstaaten alles in Bewegung, um die europäischen Westmächte für sich zu gewinnen, und gaben hierdurch Veranlassung zu einem Vorfall (Trent-Affaire), der die Union fast in einen Krieg mit Großbritannien verwickelt hätte. Zwei nach London [* 17] und Paris bestimmte Kommissare der Konföderierten, Mason und Slidell, gelangten trotz der Blockade von New Orleans nach der Havana [* 18] und schifften sich hier 7. Nov. auf dem englischen Postdampfer Trent nach London ein.
In der engen Durchfahrt des Bahamakanals wurde jedoch der Trent, trotzdem er die britische Flagge aufheißte, von einem Unionskriegsschiff angehalten und trotz der Proteste seines Befehlshabers zur Auslieferung der beiden Kommissare gezwungen. Die Nachricht von diesem Vorfall rief in Großbritannien eine gewaltige Aufregung hervor. Je strenger die englische Regierung trotz der an manchen Orten herrschenden Sympathie mit den Südstaaten und trotz der gewaltigen Schädigung der britischen ¶
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Industrie durch die infolge der Blockade der südlichen Häfen abgeschnittene Baumwollzufuhr bisher ihre Neutralität gewahrt hatte, um so allgemeiner war die Entrüstung über den durch die Trent-Affaire Großbritannien angethanen Schimpf. Die Regierung verlangte sofort von der Union die Freigebung der verhafteten Passagiere und rüstete unter Zustimmung des ganzen Landes für den Fall, daß diese Genugthuung verweigert werde, zum Krieg. Im nordamerikanischen Kongreß schien zwar eine Partei bereit, den Krieg mit Großbritannien aufzunehmen; die Unionsregierung stellte jedoch 26. Dez. die Gefangenen dem englischen Gesandten zur Verfügung, und England verzichtete hierauf seinerseits auf weitere Genugthuung. Am 31. Okt. ward zu London eine Konvention unterzeichnet, wonach Großbritannien, Frankreich und Spanien [* 20] gemeinsam eine Expedition nach Mexiko [* 21] zu unternehmen beschlossen, um dieses zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten gegen die Angehörigen ihrer Staaten zu zwingen; ausdrücklich wurde dabei bestimmt, daß die Kontrahenten durch diese Zwangsmaßregeln für sich weder einen Gebietserwerb noch irgend einen besondern Vorteil suchen und auf die innern Angelegenheiten Mexikos keinen solchen Einfluß ausüben wollten, der das Recht der mexikanischen Nation, die Form ihrer Regierung frei zu bestimmen, beeinträchtigen würde; ein Vorbehalt, welcher, wie sich in der Folge zeigte, von seiten Frankreichs nicht ernstlich gemeint war.
Die Thronrede, womit die neue Parlamentssession eröffnet ward, ließ wiederum die parlamentarische Reform unerwähnt. Hinsichtlich der äußern Angelegenheiten bildeten vor allen die Beziehungen zu Mexiko den Gegenstand der Debatten. Die Regierung ließ dem Unterhaus sofort nach Eröffnung des Parlaments die verschiedenen Beschwerdepunkte darlegen, welche Großbritannien gegen Mexiko geltend machte, erklärte aber auch zugleich nochmals, daß sie keine Einmischung in die innern Angelegenheiten Mexikos beabsichtige und die in dieser Beziehung von den Vertretern der Verbündeten erlassene Proklamation nicht billige.
Die Bestimmungen der Konvention, welche die Kommissare in Soledad mit der mexikanischen Regierung 19. Febr. abschlössen, wurden zwar im allgemeinen von dem englischen Kabinett gutgeheißen; als Frankreich aber mit dem klerikalen mexikanischen General Almonte den Plan feststellte, in Mexiko eine Monarchie zu gründen und die Krone dem österreichischen Erzherzog Maximilian anzubieten, lehnten der englische und der spanische Bevollmächtigte jede Mitwirkung ab, und bald darauf verließen ihre Truppen Mexiko, worauf die Franzosen allein weiter vorgingen.
Die Thronrede, mit welcher das Parlament eröffnet wurde, konnte die Beziehungen Großbritanniens zu den auswärtigen Mächten, die Resultate der Handelsverträge und die innere Wohlfahrt des Landes als durchaus befriedigend bezeichnen. Den in den Vordergrund der europäischen Ereignisse getretenen polnischen Wirren gegenüber hielt an seinem Prinzip der Nichtintervention fest; freilich ließ sich die Regierung durch die in Großbritannien bestehenden und auf Massenmeetings ausgedrückten Sympathien mit den polnischen Insurgenten dazu verleiten, in immer energischern Noten in St. Petersburg [* 22] zu Konzessionen an die Polen zu drängen; da aber weder das Ministerium noch das Land Neigung hatte, sich um Polens willen in einen Krieg mit Rußland zu stürzen, lehnte die russische Regierung, der dies sehr wohl bekannt war, die englischen Ratschläge einfach ab, und dieser diplomatische Feldzug Lord Russells endete so mit einer ziemlich ausgesprochenen Niederlage.
Nachdem das Parlament noch die Ausstattung des Prinzen von Wales behufs seiner vollzogenen Vermählung mit der dänischen Prinzessin Alexandra bewilligt, erfolgte 15. Mai seine Vertagung. Auch während der Parlamentssession von 1864 stand eine Frage der auswärtigen Politik, die schleswig-holsteinische Angelegenheit, im Vordergrund des Interesses. Russell hatte schon in den Verhandlungen des vorigen Jahrs entschieden für Dänemark [* 23] Partei genommen und war dabei von Parlament und Presse, [* 24] vor allem wegen der Furcht vor der aus einer Erwerbung des Kieler Hafens erwarteten Verstärkung [* 25] der deutschen Seemacht, aufs kräftigste unterstützt worden.
Als nun aber Österreich und Preußen [* 26] den Krieg begonnen hatten und Frankreich weder in eine bewaffnete Intervention zu gunsten Dänemarks noch in eine Flottendemonstration gegen die deutschen Mächte willigte; als auch die Königin ihren persönlichen Willen zu erkennen gab, einen Krieg gegen Deutschland [* 27] nicht zu unternehmen, mußte Großbritannien abermals, wie in der polnischen Frage, sich mit bloßen Worten begnügen, und Russell wie Palmerston gaben 27. Juni beiden Häusern des Parlaments die Erklärung ab, Großbritannien werde neutral bleiben. Das war eine neue entschiedene Niederlage der englischen Politik, welche von der Opposition in beiden Häusern zu einem Angriff gegen die Schwäche der Regierung benutzt wurde. Die Lords stimmten denn auch einem Tadelsvotum mit neun Stimmen Majorität zu; im Unterhaus aber, wo man doch froh war, dem Krieg entgangen zu sein, und wo man nichts weniger wünschte, als die Tories zur Macht kommen zu lassen, behielt das Ministerium die Oberhand.
In seiner innern Entwickelung bot in den Jahren 1864 und 1865, abgesehen von der zweiten Hälfte des letztern, wenig Bemerkenswertes dar. Die Kämpfe um die Parlamentsreform nahmen ihren Fortgang, und wiederum wurden wie früher Anträge auf Einführung des Ballots etc. nach heißen Debatten verworfen. Doch trat Gladstone jetzt mit einer entschiedenen Erklärung für das Wahlrecht aller Staatsbürger hervor, was ihm eine nicht geringe Popularität eintrug. Die Finanzlage war außerordentlich günstig; der geschickten Verwaltung Gladstones war es gelungen, die Steuerlast seit 1861 um fast 14 Mill. Pfd. Sterl. zu verringern, obwohl die Beschaffung einer Panzerflotte, die Reorganisation der Artillerie wie die Küstenbefestigungen bedeutende Summen verschlungen hatten. Durch eine Reihe von Handelsverträgen mit Frankreich und Italien sowie mit China, Japan und Siam war dem englischen Handel ein bedeutend erweiterter Markt eröffnet worden. Nur die irische Bewegung, die im Spätsommer 1865 zum Ausbruch kam, warf schon früh ihren Schatten [* 28] voraus und gab zu lebhafter Beunruhigung Veranlassung.
Am wurde das 1859 gewählte Parlament aufgelöst, die gleich darauf beginnenden Wahlen nahmen im ganzen einen für die Whigs günstigen Verlauf. Am 15. Aug. trat das neue Parlament zusammen, wurde indes sofort bis 1. Nov. vertagt. Am schied der greise Lord Palmerston aus den Reihen der Lebenden. Natürlicherweise übernahm Russell den Posten des Premierministers, indem er das Auswärtige Amt in die Hand des Lords Clarendon legte. Gladstone wurde Führer des Unterhauses, Fortescue Staatssekretär für Irland; Goschen, Forster und Stansfield, die sämtlich den fortgeschrittenen Liberalen angehörten, ¶