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welche unrechtmäßige Titel führten, für nichtig erklärte. Ehe es aber zur Annahme dieses Gesetzes kam, erlitt das Ministerium bei Gelegenheit eines von ihm bekämpften Antrags der Radikalen auf Erweiterung des Stimmrechts eine derartige Niederlage, daß Russell sich genötigt glaubte, 20. Febr. seine Entlassung einzureichen. Es folgte eine mehrtägige Ministerkrisis; da aber Lord Stanley nicht im stande war, ein toryistisches Ministerium zu bilden, so mußte Russell, dem eine Vereinigung mit den Anhängern des gestorbenen Sir Robert Peel nicht gelang, sich auf die Entscheidung der Königin 3. März zur Fortführung der Geschäfte entschließen. Er legte nun die Bill über die kirchlichen Titel wieder vor, aber so abgeschwächt, daß nur das Verbot der Annahme kirchlicher Territorialtitel blieb. Am 5. Juli wurde sie mit einigen trotz des Widerstandes der Regierung hinzugefügten verschärfenden Amendements angenommen.
Noch mehrere andre sogen. »harmlose« Niederlagen, bei denen es eine Majorität von 1 bis zu 60 Stimmen gegen sich hatte, erlitt das Kabinett; doch blieb es, weil man, wie die letzte Krisis gezeigt hatte, kein andres an seine Stelle zu setzen wußte. Größeres Interesse als die 8. Aug. geschlossene Session hatte die großartige Schöpfung des Prinzen Albert, die im Kristallpalast eröffnete erste allgemeine Industrieausstellung, in Anspruch genommen.
Ende 1851 (22. Dez.) überraschte die politische Welt die Nachricht von dem Austritt Palmerstons aus dem Kabinett. Die damals verborgen gebliebenen Gründe dieses Schrittes sind erst später bekannt geworden: Palmerston hatte sofort nach dem Staatsstreich Napoleons III., ohne die Genehmigung der Königin oder die Zustimmung seiner Kollegen abzuwarten, seine Billigung desselben ausgesprochen, ein eigenmächtiges Vorgehen, das natürlich zu seiner sofortigen Entlassung führen mußte, die man ihm übrigens um so lieber erteilte, als seine vielgeschäftige Interventionslust in aller Herren Ländern dem Ministerium schon viele Unbequemlichkeiten verursacht hatte. Als Staatssekretär des Äußern trat Graf Granville ein.
Am wurde das Parlament eröffnet, und 9. Febr. legte Russell dem Unterhaus seine in der vorigen Session angekündigte neue Reformbill vor, die indes so wenig den Ansprüchen der liberaler Gesinnten auf eine wirklich eingreifende Ausdehnung [* 2] des Wahlrechts entsprach, daß sie vom Haus gleichgültig, von der Presse [* 3] aber und im Land mit Hohn und Spott aufgenommen wurde. Ehe es aber noch zu einer ernsthaften Diskussion derselben kam, stürzte Lord Palmerston seine frühern Kollegen.
Das Ministerium hatte angesichts der gespannten auswärtigen Verhältnisse eine beträchtliche Verstärkung [* 4] der Land- und Seemacht beantragt; Palmerston unterstützte zwar die Maßregel, setzte aber 20. Febr. mit Hilfe der Tories ein den Grundcharakter derselben veränderndes Amendement durch und nötigte so die Regierung zum Rücktritt. Nun bildete Lord Stanley, der inzwischen als Lord Derby ins Oberhaus getreten war, ein neues, rein toryistisches Kabinett, in dem er selbst den Vorsitz übernahm, und dessen namhafteste Mitglieder Horace Walpole (Staatssekretär für das Innere), Disraeli (Schatzkanzler), Pakington (Minister für die Kolonien), Henley (Präsident des Handelsamtes) und Lord Malmesbury (Minister der auswärtigen Angelegenheiten) waren.
Das neue Ministerium war gesonnen, nach außen unter Billigung der Vorkehrungen zur Landesverteidigung eine friedliche Politik zu befolgen, im Innern aber, für diese Session wenigstens, weder in Bezug auf die Wahlreform noch in Bezug auf die Finanz- und Handelspolitik wichtigere Maßregeln zu beantragen. Die durch das Stimmenverhältnis im Unterhaus notwendig gemachte Auflösung desselben, welche die Liberalen möglichst frühzeitig wünschten und durch allerhand Interpellationen zu beschleunigen versuchten, sollte erst am Ende der ordentlichen Session erfolgen. In der That setzte die Regierung auch ihre Milizbill durch und schuf somit eine aus 80,000 Freiwilligen bestehende Streitmacht, welche aber nur bei einer Invasion des Landes oder bei drohender Gefahr einer solchen einberufen werden sollte. Dann erst wurde die Session geschlossen und darauf das Parlament aufgelöst.
Die Eröffnung des neuen Parlaments fand 4. Nov. statt. Unter den Mitgliedern des Unterhauses waren 240 zum erstenmal gewählt, so daß die Physiognomie desselben einigermaßen verändert war; das Ministerium konnte auf keine feste Majorität rechnen. Sein Bestand war denn auch nicht von langer Dauer; die von Disraeli eingebrachte Budgetvorlage, welche vorzugsweise die Interessen der seit 1845 durch die freihändlerische Gesetzgebung geschädigten Berufsstände, also z. B. des Grundbesitzes und der Reederei, berücksichtigte, stieß auf so entschiedenen Widerstand, daß das Ministerium 17. Dez. seine Entlassung einreichen mußte.
Graf Aberdeen [* 5] ward darauf mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt. Er selbst ward erster Lord des Schatzes, Schatzkanzler Gladstone, dessen Wendung zur liberalen Partei nun ganz vollzogen war, Staatssekretär des Innern Lord Palmerston, des Auswärtigen Lord J. ^[John] Russell (für den im Februar 1853 Lord Clarendon eintrat, während Russell das Präsidium des Geheimen Rats übernahm). Von den 13 Mitgliedern des Kabinetts gehörten 5 den Peeliten, 5 den Whigs und 3 den andern liberalen Meinungsschattierungen an, so daß die neue Regierung mit einem dem 18. Jahrh. entlehnten Ausdruck als das »Ministerium aller Talente« bezeichnet wurde.
Selten übernahm ein Kabinett unter so günstigen Verhältnissen die Verwaltung; sämtliche Neuwahlen zum Parlament fielen zu seinen gunsten aus, und die Stimmung des gesamten Landes war mit ihm. So verlief denn die Session von 1853, die 11. Febr. eröffnet wurde, auf das glatteste. Der Finanzplan Gladstones, welcher hauptsächlich eine Ausdehnung der Einkommensteuer auch auf die kleinern Einkommen und auf Irland ins Auge [* 6] faßte und dafür eine ganze Reihe wenig einträglicher und unbequemer oder den Verkehr belästigender Abgaben aufhob oder ermäßigte, fand allgemeine Zustimmung und wurde mit großer Majorität (2. Mai) angenommen. Ebenso wurde die Kolonialpolitik der Regierung vom Glück begünstigt und mit Beifall begrüßt. In Asien [* 7] und Afrika [* 8] war nach dem Ende des Kaffernkriegs und dem günstigen Friedensschluß mit Birma das bedeutende Gebietsteile abtreten mußte (s. Birma, S. 970), die Ruhe hergestellt, und das immer kräftigere Aufblühen der australischen Kolonien förderte die Regierung auf das energischte. Die Entdeckung der Goldfelder in Neusüdwales und Victoria [* 9] (1851) führte große Einwandererströme in diese Länder, die seit dem Aufhören der Deportation von Verbrechern den Charakter als Strafkolonien verloren. Die Regierung erkannte, daß auf Losreißung vom Mutterland gerichteten Bestrebungen am sichersten dadurch vorgebeugt werden könne, daß man den Kolonien eine freie, auf Selbstregierung begründete, ¶
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der britischen nachgebildete Verfassung verleihe, und solche Verfassungen erhielten demnach in diesen Jahren die sämtlichen Besitzungen in Australien [* 11] und die Kapkolonie.
Der Krimkrieg und der indische Aufstand.
Sehr energische Maßregeln ergriff die Regierung in der auswärtigen Politik, indem sie sich mit Frankreich über eine gemeinsame Aktion in der orientalischen Frage verständigte. Schon im Mai d. J., nach der Abreise Fürst Menschikows aus Konstantinopel, [* 12] erklärte Lord Clarendon im Oberhaus, die Regierung sei im Interesse Großbritanniens wie Europas entschlossen, die Unabhängigkeit des türkischen Reichs gegen Rußland aufrecht zu erhalten, und England und Frankreich betrachteten diese Frage von einem und demselben Standpunkt.
Noch offenkundiger trat das Einverständnis beider Westmächte wenige Wochen später zu Tage, als die englische Mittelmeerflotte sich in die türkischen Gewässer begab und mit der französischen in der Besikabucht Stellung nahm. Das ganze Jahr hindurch dauerten die diplomatischen Verhandlungen fort; selbst nach der Besetzung der Donaufürstentümer durch Rußland (2. Juli) und der Kriegserklärung der Pforte (4. Okt.) gab man in Großbritannien [* 13] die Hoffnung auf Frieden noch nicht auf. Als aber 30. Nov. die türkische Flotte bei Sinope fast angesichts des englisch-französischen Geschwaders von den Russen vernichtet worden war, forderte man in Großbritannien fast einstimmig den Krieg zur Aufrechterhaltung der türkischen Monarchie; am 24. Dez. erklärte die Regierung, sie sei mit Frankreich übereingekommen, die Türkei [* 14] gegen Rußland zu schützen und alle russischen Kriegsschiffe im Schwarzen Meer nach Sebastopol [* 15] zurückzuweisen, und segelten demgemäß die verbündeten Flotten der beiden Westmächte ins Schwarze Meer ab. Der Ausbruch des Kriegs (Krimkrieg) war unvermeidlich geworden.
Am Tag der Wiedereröffnung des Parlaments, ward demselben der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Rußland angezeigt;
zur Kriegführung wurde eine Vermehrung der Streitkräfte zu Lande und zur See bewilligt;
die Einkommensteuer und die Stempelsteuer wurden erhöht. Am 22. Febr. schifften sich die ersten britischen Truppen unter Generalfeldzeugmeister Lord Raglan nach dem Orient ein;
am 11. März ging die erste Abteilung der britischen Ostseeflotte unter dem Vizeadmiral Charles Rapier unter Segel, und da Rußland auf das englisch-französische Ultimatum eine Antwort nicht erteilte, so erfolgte 27. März die Botschaft an das Parlament, daß der Krieg mit Rußland ausgebrochen sei.
Der Verlauf der kriegerischen Ereignisse entsprach indessen anfangs nicht den gehegten Erwartungen, obwohl man sich schon damals entschloß, das stehende Heer durch 15,000 Mann aus der vor einigen Jahren gebildeten Miliz zu verstärken. Am 22. April war Odessa [* 16] bombardiert, 25. Mai Piräeus besetzt und Griechenland [* 17] dadurch zur Neutralität gezwungen worden; aber die Strandung einer englischen Fregatte auf der Höhe von Odessa (12. Mai), deren Bemannung von den Russen gefangen genommen wurde, machte einen übeln Eindruck. Da nun auch die Ostseeflotte Napiers gegen die Granitmassen Sweaborgs und die Werke Kronstadts nichts auszurichten vermochte, da überhaupt die ganze Art der englischen Kriegführung zwar dem Handel Rußlands bleibende Nachteile zufügte, aber nur wenig geeignet war, schnelle und augenfällige Erfolge von Bedeutung zu erzielen: so äußerte sich im Land vielfach Unzufriedenheit mit der Regierung, die auch im Parlament zu Angriffen gegen dieselbe führte, so daß dessen Vertagung 12. Aug. der Regierung nicht unwillkommen war. Bald nachher begann der Angriff des vereinigten englisch-französich-türkischen Heers auf die Krim [* 18] und auf Sebastopol; am 20. Sept. kam es zur Schlacht an der Alma, welche zwar mit dem Sieg der Verbündeten endete, aber der kleinen und tapfern Armee Lord Raglans über 1800 Tote und Verwundete kostete. Die Belagerung Sebastopols machte nur langsame Fortschritte, und die ruhmvollen und siegreichen Kämpfe der Engländer bei Balaklawa (25. Okt.) und Inkjerman (5. Nov.) brachten denselben nur neue große Verluste, ohne entsprechende Vorteile zu gewähren; endlich schmolz die britische Armee infolge der großen Mängel des Verwaltungs- und Verpflegungswesens immer mehr zusammen.
Mit Vorlage des Bündnisvertrags vom zwischen Frankreich, Großbritannien und Österreich, [* 19] worin sich Österreich verbindlich machte, wenn der Friede bis zum Schluß 1854 nicht hergestellt sei, gemeinsam mit England und Frankreich zu ergreifende Maßregeln zu erwägen, und mit der Forderung neuer Mittel, um den Krieg nachdrücklicher fortsetzen zu können, wurde die außerordentliche Session des Parlaments 12. Dez. eröffnet. Die Stimmung war dem Ministerium von Anfang an nicht günstig.
Doch gelang es der Regierung, den Vorwurf mangelnder Energie in der Kriegführung zu widerlegen, und es wurde der Beschluß gefaßt, neue Freiwillige aus der Miliz für das stehende Heer anzuwerben und während der Dauer des gegenwärtigen Kriegs eine vom britischen Heer abgesonderte Fremdenlegion von 10,000 Mann zu bilden. Die Friedenskonferenzen in Wien, [* 20] welche 28. Dez. unter österreichischer Vermittelung eröffnet wurden, verliefen ohne Erfolg; dagegen trat Sardinien [* 21] der Allianz der Westmächte bei und versprach, ein Heer von 15,000 Mann in die Krim zu senden, das unter General Lamarmora auf englischen Schiffen dahin transportiert werden sollte.
Trotzdem bereitete sich im Parlament, das 23. Jan. wieder eröffnet war, ein Sturm gegen das Ministerium vor, und die Stellung desselben wurde wesentlich geschwächt, als 25. Jan. Lord J. ^[John] Russell seine Entlassung einreichte, weil sein Rat, die getrennten Zweige der Kriegsverwaltung in der Hand [* 22] Palmerstons zu vereinigen, nicht befolgt worden war. Im Unterhaus stellte 26. Jan. Roebuck den Antrag, einen Ausschuß zur Untersuchung der ganzen Kriegführung zu erwählen, und als dieser 29. Jan. angenommen ward, trat das Ministerium Aberdeen zurück. An seine Stelle trat, nachdem Lord Derby vergeblich versucht hatte, ein Ministerium zu bilden, im Februar ein Koalitionsministerium Palmerston, und zwar übernahm Palmerston den Vorsitz, Cornewall Lewis die Finanzen, George Grey das Innere, Clarendon das Äußere, Russell die Kolonien, Panmure den Krieg, Wood das Seewesen, Cranworth ward Lord-Kanzler, Granville Geheimeratspräsident.
Zugleich wurde der Oberbefehl über die Ostseeflotte dem Admiral Dundas übertragen. Das Heer ward auf beinahe 200,000 Mann erhöht, vom Unterhaus eine Summe von 1,600,000 Pfd. Sterl. zu Kriegsausgaben bewilligt, das Verpflegungswesen einer strengen Untersuchung unterworfen, das Transportwesen verbessert und General Simpson in die Krim gesandt, um dem Oberbefehlshaber als Chef des Generalstabs zur Seite zu stehen. Die im März nach dem Roebuckschen Antrag stattfindende Untersuchung bestätigte die traurigen Schilderungen öffentlicher Blätter über die Zustände des englischen Heers während des Winters. Das dem ¶