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bestanden hatte. Während in Großbritannien [* 2] die 18jährige Prinzessin Viktoria, die einzige Tochter des Herzogs von Kent, zur Regierung gelangte, ging die nicht in weiblicher Linie vererbbare Krone von Hannover [* 3] auf den wenig beliebten Herzog von Cumberland, nun König Ernst August, über. So bedeutsam dies Ereignis im 18. Jahrh. gewesen wäre, in welchem mehr als einmal die Rücksicht auf ihr festländisches Erbland die Politik der Könige von Großbritannien beeinflußt hatte, so wenig folgenreich war es jetzt, da die Geschicke beider Länder seit dem Wiener Kongreß sich völlig unabhängig voneinander entwickelt hatten.
Dagegen war der Thronwechsel selbst ungeachtet der durch die englische Verfassung so sehr eingeschränkten Macht immer noch ein Vorgang von großer Wichtigkeit; er wurde, da man die liberalen Neigungen der jungen Königin und ihrer nächsten Angehörigen kannte, im Land im allgemeinen mit Freude begrüßt. Dem Herkommen gemäß mußte nun die Parlamentssession in möglichst kurzer Frist geschlossen werden; das Parlament wurde daher nach Genehmigung des Budgets vertagt und unmittelbar nachher aufgelöst.
Das Ergebnis der Neuwahlen war trotz des durch den Thronwechsel besser gewordenen Verhältnisses der Minister zum Hofe für die liberale Partei insbesondere in England nicht allzu günstig: ihre Majorität im Unterhaus war nicht verstärkt und setzte sich auch diesmal aus verschiedenen, schwer in straffer Parteidisziplin zu haltenden Elementen zusammen. In der am 20. Nov. eröffneten Session ward zunächst die Zivilliste der jungen Königin auf die jährliche Summe von 385,000 Pfd. Sterl. (10,000 Pfd. Sterl. mehr, als Wilhelm IV. bezogen hatte) festgesetzt.
Dann nahmen im Anfang des nächsten Jahrs neben den irischen Angelegenheiten besonders die in Kanada (s. d.) unter der alten französischen Bevölkerung [* 4] ausgebrochenen Unruhen die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch. In ersterer Beziehung setzte die Regierung nun zwar die Zehntenbill endlich durch, aber doch erst, nachdem Lord John Russell die vielbekämpfte Appropriationsklausel, bisher eine Hauptforderung der Whigs, aufgegeben hatte; die irische Städteordnung dagegen vermochte man auch durch diese Nachgiebigkeit nicht vor dem Schicksal abermaliger Verwerfung im Oberhaus zu retten. In Kanada hatte die Regierung nach Niederwerfung des Aufstandes den Grafen Durham, einen Mann von festem Charakter und entschieden liberaler Gesinnung, zum Generalgouverneur ernannt und mit diktatorischer Gewalt ausgestattet.
Als derselbe nun aber von der ihm übertragenen Gewalt Gebrauch machte und über einige Führer des Aufstandes die Strafe der Verbannung nach der Insel Bermuda verhängte, griffen die Radikalen unter Lord Brougham und die Tories den Statthalter und das Ministerium aufs heftigste an. Das letztere war schwach genug, dieser Opposition zu weichen und sich die Annahme einer Bill gefallen zu lassen, welche zwar die Maßregeln Durhams nachträglich guthieß, gleichzeitig aber einen unzweideutigen Tadel gegen ihn aussprach. Graf Durham, der eben im Begriff war, die Angelegenheiten Kanadas nach einem großartigen Plan zu ordnen, fand sich durch jenen Beschluß aufs tiefste gekränkt und legte 1. Nov. sein Amt nieder. Es mochte ihm eine Genugthuung gewähren, daß bald nachher der Aufstand sich erneuerte und nur mit großer Mühe und unter Anwendung derselben Maßregeln, die man Durham zum Vorwurf gemacht hatte, gedämpft werden konnte.
Um diese Zeit teilten sich die Radikalen in zwei einander schroff gegenübertretende Fraktionen. Ein irischer Advokat, Feargus O'Connor, der, weil sein Besitzstand den Wahlzensus nicht erreichte, seines Sitzes im Parlament verlustig gegangen, war in England als Agitator innerhalb der Arbeiterklassen aufgetreten. Unter seiner Führung wurde ein Gesetzentwurf (the people's charter, s. Chartismus) ausgearbeitet, der mit den schon oben erwähnten Forderungen der radikalen Partei: Einführung der geheimen Abstimmung bei den Wahlen, des allgemeinen Stimmrechts und jährlicher Parlamentswahlen, einige neue verband, namentlich eine neue Einteilung der Wahlbezirke lediglich nach der Bevölkerungszahl verlangte.
Auf das lebhafteste wurde nun im ganzen Land für dies Programm agitiert;
überall fanden Volksversammlungen statt, die sich für dasselbe aussprachen;
ein aus gewählten Vertretern der Arbeitervereine zusammengesetzter Nationalkonvent leitete von London [* 5] aus die Bewegung;
namentlich in den Fabrik- und Bergwerksdistrikten war die Arbeiterbevölkerung für solche Forderungen gewonnen, und es gelang den Leitern der Chartisten, zu denen außer O'Connor der Prediger Stephens, ein Mr. Oastler aus Leeds [* 6] und Mr. Fielden, Parlamentsmitglied für Oldham, gehörten, dieselben in beständiger Aufregung zu erhalten, zumal die Mißernte des Jahrs 1838 die Gärung im Volk noch mehr steigerte.
Dazu trug namentlich die Gesetzgebung hinsichtlich der Getreidezölle bei, welche völlig einseitig im Interesse des Großgrundbesitzes geregelt war und dem Land zu dessen gunsten die beträchtlichsten Opfer auferlegte. Die Getreidezölle waren nämlich durch Gesetze von 1815 und 1828 derart geordnet, daß die Einfuhr von Getreide [* 7] fast vollständig unmöglich gemacht war und die einheimischen Produzenten keine nennenswerte Konkurrenz von außerhalb zu befürchten hatten.
Nur wenn der Getreidepreis in England eine fast unerschwingliche Höhe erreicht hatte, sollte der Zoll auf 1 Schilling herabsinken; aber wenn dann irgendwie namhafte Zufuhren die Kornpreise herabdrückten, stieg alsbald der Zoll wieder von selbst. Gegen die durch ein so sinnreich ausgeklügeltes Verfahren herbeigeführte Ausbeutung der Nation erhob sich nun eine lebhafte Opposition und zwar zunächst wiederum in den am schwersten von der Teurung betroffenen Fabrikdistrikten.
Unter Führung Richard Cobdens, eines Fabrikanten zu Manchester, [* 8] bildeten sich Vereine, um die Aufhebung aller Korngesetze zu erwirken, welche sich über ganz Großbritannien verbreiteten und zu einem großen Bunde, der sogen. Anti-cornlaw-league, zusammentraten, dessen Leiter neben Cobden John Bright, Thomas Milner Gibson und Th. Thompson waren. Während der Chartismus die eigentliche Arbeiterbevölkerung beherrschte, waren es besonders die Mittelklassen (Handwerk und Industrie), die sich diesem Bund anschlossen.
Beide Bewegungen, sowohl die gegen die Korngesetze gerichtete als die chartistische, beschäftigten das Parlament in der Session von 1839. Die Petitionen um Aufhebung der Getreidezölle hatten 50,000 Unterschriften erhalten; trotzdem wurde sowohl der Antrag Lord Broughams im Oberhaus, den Beschwerdeführern zu gestatten, ihre Gründe durch Bevollmächtigte dem Parlament mündlich vorzutragen, als der mildere Vorschlag von Villiers im Unterhaus, die Korngesetze einer vorurteilsfreien Prüfung zu unterwerfen, verworfen, und so mußte die Liga zunächst ihre Arbeit im Land fortsetzen, um auf die ¶
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nächsten Parlamentswahlen in ihrem Sinn einzuwirken. Die Petition um Einführung der Volkscharte war mit 1,280,000 Unterschriften bedeckt und sollte unter Beteiligung von Hunderttausenden, womöglich Bewaffneten, dem Parlament überreicht werden. Allein als die Chartistenführer nächtliche Versammlungen zur Vorbereitung dieser Schritte beabsichtigten, schritt die Regierung mit energischen Maßregeln ein: die beabsichtigten Versammlungen wurden verboten und Aufwiegelung zum Aufruhr mit der gesetzlichen Strafe bedroht. Als es trotzdem zu Aufläufen kam (namentlich zu Newport in Monmouthshire), wurden dieselben mit gewaffneter Hand [* 10] niedergeschlagen, und das Unterhaus lehnte es mit großer Mehrheit ab, einen Ausschuß zur Verhandlung über die Petition der Chartisten niederzusetzen.
Inzwischen führte eine koloniale Frage von weit geringerer Bedeutung eine Ministerkrisis herbei. Unter den Verbesserungen, welche die Durchführung der Parlamentsreform im Gefolge gehabt, war die Aufhebung der Negersklaverei in den britischen Kolonien eine der wichtigsten. Allein es war durch das Verhältnis der Lehrlingschaft (apprenticeship), welches man als eine Übergangsstufe zu völliger Emanzipation eingeführt hatte, der alte Druck nicht beseitigt worden.
Vergeblich nahm sich das Parlament der mißhandelten Neger an; die Pflanzer von Jamaica, welche dort das Parlament, die sogen. Assembly, bildeten, trotzten ungeachtet wiederholter Auflösungen seinen Beschlüssen. Um sie zu strafen, schlug die Regierung im Unterhaus eine Suspension der Verfassung der Insel auf fünf Jahre vor. Diesen Anlaß benutzten Radikale und Tories, um sich zum Sturz des Ministeriums zu vereinigen, und als der eingebrachte Gesetzentwurf bei der Abstimmung nur eine Majorität von fünf Stimmen erhielt, reichte das Ministerium seine Entlassung ein Höchst ungern sah die Königin ihre bisherigen Ratgeber scheiden und willigte endlich in den Rat des Herzogs von Wellington, Sir Robert Peel mit der Bildung eines neuen Kabinetts zu beauftragen.
Als Peel nun aber bei diesem Ministerwechsel auch eine Umgestaltung des Hofstaats der Königin im Sinn seiner Partei verlangte, setzte die letztere dieser Forderung den entschiedensten Widerstand entgegen und veranlaßte Melbourne, [* 11] mit seinen frühern Kollegen nach wenigen Tagen die Regierung wieder zu übernehmen. Der Vorgang machte peinliches Aufsehen, war aber nur die Folge eines Mißverständnisses: Peel hatte nur die Entlassung der zwei vornehmsten whiggistischen Hofdamen der Königin verlangen wollen, während diese seine Forderung so verstanden hatte, als ob der gesamte weibliche Hofstaat entlassen werden sollte.
Immerhin war die parlamentarische Stellung der Regierung infolge dieses Ereignisses eine wenig gesicherte: bei der Wahl eines neuen Sprechers des Unterhauses (27. Mai) siegte der ministerielle Kandidat Shaw Lefèvre nur mit 18 Stimmen Mehrheit über seinen konservativen Gegner. Am 27. Aug. erfolgte endlich der Schluß dieser langen und resultatlosen Session, deren wichtigste Maßregel vielleicht die Einführung des einheitlichen Portotarifs von 1 Penny für den einfachen Brief (penny-postage) durch den genialen Rowland Hill war.
Bald nachher erfolgten einige Veränderungen im Personalbestand der Regierung, indem der Graf von Clarendon als Großsiegelbewahrer, Sir F. T. Baring als Schatzkanzler, der vormalige Unterstaatssekretär der Kolonien, Labouchère, als Handelsminister und T. B. Macaulay als Kriegsminister in dieselbe aufgenommen wurden. Wichtiger war ein andres, bald nachher eintretendes Ereignis: die Vermählung der Königin mit dem Prinzen Albert von Sachsen-Koburg-Gotha Die Stellung, welche der erst 20jährige Prinz-Gemahl (Prince-Consort) damit erhielt, war eine überaus schwierige; es bedurfte aller der großen Eigenschaften des Geistes und Charakters, mit denen er ausgestattet war, bis es ihm gelang, das Mißtrauen, das man ihm entgegentrug, zu besiegen und sich die Achtung und Liebe des englischen Volkes zu erwerben.
Gleich nach Wiedereröffnung des Parlaments begannen die Kämpfe gegen das Ministerium von neuem. Ein Antrag des Unterhausmitgliedes Buller auf ein Mißtrauensvotum gegen dasselbe wurde zwar noch mit 308 gegen 287 Stimmen verworfen und 9. März endlich auch die von Lord Morpeth von neuem vorgelegte irische Munizipalreformbill angenommen. Aber große Schwierigkeiten ergaben sich aus den Verwickelungen, in die Großbritannien mit China [* 12] (s. d., S. 18) geraten war. Die chinesischen Behörden waren nämlich 1834 gegen den Leib und Seele vergiftenden Opiumhandel der Engländer in Kanton [* 13] eingeschritten, hatten eine größere Quantität widerrechtlich eingeführten Opiums zerstört und den englischen Residenten aus Kanton vertrieben.
Darüber war es zum Krieg mit China gekommen, Kanton blockiert, eine Anzahl chinesischer Schiffe [* 14] zerstört worden. Die Tories griffen die Regierung wegen dieser Vorfälle heftig an; ein von Sir J. ^[James] Graham beantragtes Tadelsvotum gegen dieselbe wurde bei der Abstimmung 10. April nur mit der sehr geringen Majorität von neun Stimmen verworfen. Einige Wochen später (20. Mai) erlitt das Kabinett sogar eine förmliche Niederlage, indem eine von Lord Stanley eingebrachte Bill, welche durch Verminderung der Zahl der irischen Abgeordneten die liberale Majorität im Unterhaus zu verringern bezweckte, gegen den Wunsch der Minister zur Komiteeberatung gelangte, und nur mit großer Mühe wurde diesmal noch die definitive Annahme des Vorschlags verhindert. Am 11. Aug. wurde die Parlamentssession geschlossen.
Wenn das Ministerium dieselbe überlebte, so verdankte es das hauptsächlich den Erfolgen, die Lord Palmerston durch seine geschickte und im ganzen glückliche Leitung der auswärtigen Angelegenheiten erzielte. Durch die Bemühungen desselben wurde, als die Differenzen zwischen Mehemed Ali, dem Vizekönig von Ägypten, [* 15] und der Pforte in offenen Kampf auszubrechen drohten, ein Vertrag mit Rußland, Österreich [* 16] und Preußen [* 17] zu stande gebracht, der Frankreich im Orient isolierte, eine weitere Ausbreitung der Macht des Vizekönigs verhinderte und zugleich den Einfluß Rußlands in Konstantinopel [* 18] nicht allein maßgebend werden ließ. Als nun der Vizekönig einem Ultimatum der vereinigten Mächte keine Folge gab, so schritt eine aus englischen, türkischen und österreichischen Schiffen zusammengesetzte Flottille gegen denselben ein, besetzte Beirut (12. Sept.), wandte sich dann gegen St.-Jean d'Acre und nahm diesen Platz nach einem Bombardement (4. Nov.), worauf Mehemed Ali sich den Beschlüssen der Alliierten unterwarf und Syrien räumte.
Sogleich nach Wiedereröffnung des Parlaments zeigte es sich, daß das Whigministerium nur noch auf schwachen Füßen stand, zumal auch die ihm bisher gewährte Unterstützung der irischen Abgeordneten unter O'Connell immer lauer wurde. Vor allem aber waren es diesmal finanzielle ¶