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Mit wachsendem Wohlstand hat die Bevölkerung [* 2] der Armenhäuser abgenommen, und die Einlagen in den Sparkassen sind gestiegen. Arme, die öffentliche Unterstützung erhielten, gab es 1871: 1,280,188, 1881: 990,667, 1884:973,678, 1885:981,963 (784,155 in England und Wales, 91,091 in Schottland, 106,717 in Irland). Das Kapital der Sparkassen aber belief sich 1871 auf 55,844,667 Pfd. Sterl., 1881 auf 80,334,602, 1884 auf 90,614,660 Pfd. Sterl., hat also seit 1871 um 62 Proz. zugenommen und beträgt jetzt 50 Schill. auf den Kopf der Bevölkerung (England 57, Schottland 44, Irland 18 Schill.). Im allgemeinen erscheinen Reichtum und Armut in [* 3] in schreiendem Kontrast. Diesen zu mildern und die in einem Fabrikstaat unvermeidlichen Arbeitsstockungen in ihren Folgen abzuschwächen, das ist die große, mehr und mehr wachsende Aufgabe, welche den Staatsmännern Großbritanniens bevorsteht.
Staatsverfassung und -Verwaltung.
Die britische Staatsverfassung hat zur Grundlage die angelsächsische Verfassung, die durch Wilhelm den Eroberer nur in manchen Stücken modifiziert ward. Das Wesentliche dieser alten Verfassung bestand in der gesetzgebenden Gewalt der Nation, dargestellt in der alten Ständeversammlung (Witenagemot) und in der richterlichen Gewalt des Volkes über seine Standesgenossen (s. Angelsachsen). Beide Gewalten sind beibehalten, während die Veränderungen, welche Wilhelm I. durch größere Ausdehnung [* 4] der landesherrlichen Rechte und Einführung des Lehnswesens, der normännischen Hofverfassung und der obern Gerichts- und Regierungsbehörden herbeiführte, durch die Freiheitsbriefe der Könige bis auf Heinrich III. gemildert wurden.
Die Grundgesetze, auf welchen die britische Verfassung beruht, sind: der alte Freiheitsbrief (Charta libertatum) König Heinrichs I. (gest. 1135);
die Magna charta (Great charter) vom welche jedem Briten völlige Sicherheit der Person und des Eigentums zusichert;
die Petition of rights von 1627, durch welche die Landesprivilegien gegen die königliche Gewalt gesichert werden;
die Habeaskorpusakte von 1679, nach welcher jeder Brite den Grund seiner Verhaftung erfahren, binnen 24 Stunden verhört und (außer bei Staats- und Kapitalverbrechen) gegen Bürgschaft dafür, daß er sich zur Untersuchung vor Gericht stellen wolle, freigelassen werden muß;
die Bill and Declaration of rights vom seit welcher kein Gesetz ohne Parlamentsbewilligung gültig ist, gewissermaßen die Kapitulation, welche Wilhelm III. vor seiner Thronbesteigung annehmen mußte;
die Successionsakte (Act of settlement) von 1701 und die von 1705;
die Unionsakte zwischen England und Schottland vom in 25 Artikeln;
die Unionsakte zwischen Großbritannien und Irland vom in acht Artikeln;
die Emanzipationsbill der Katholiken vom
die Reformbills der Jahre 1832, 1867-68 und 1885 über Zusammensetzung u. Wahl der Mitglieder des Unterhauses.
Großbritannien ist demgemäß eine erbliche, konstitutionelle, beschränkte Monarchie, indessen von so kunstvoller Gliederung, daß die britische Verfassung einzig in ihrer Art dasteht. Dem König, dessen Person heilig und unverletzlich ist, und welcher der englisch-bischöflichen Kirche angehören muß, steht die höchste vollziehende Gewalt zu; er ist Oberlehnsherr und Haupt der Kirche und ernennt die hohen Staatsbeamten, Bischöfe und Richter. Er sorgt für die Aufrechterhaltung des Landfriedens, erklärt Krieg und schließt Frieden, schickt und empfängt Gesandte, verfügt über Armee und Flotte, erteilt den Adel und verwaltet den öffentlichen Schatz.
Seine Handlungen sind keiner Untersuchung unterworfen; aber die von ihm gewählten Staatsbeamten sind dem Parlament gegenüber für alle Regierungshandlungen verantwortlich, ohne daß sie sich irgendwie auf den Befehl des Königs berufen können. Übrigens ist seine Gewalt durch Reichsgesetze und die Versammlung der Reichsstände (Imperial Parlament) ziemlich eng beschränkt; selbst das ihm zustehende Recht der Begnadigung ist sehr bedingt. Nach gefälltem Urteil kann zwar der König die eigentliche Strafe erlassen oder mildern, aber die Unfähigkeit zu öffentlichen Ämtern, welche mit mehreren Verbrechen gesetzlich verknüpft ist, nicht aufheben.
Auch gilt bei Gnadenbriefen der Satz, daß, wenn sie auf falschen Vorspiegelungen begründet sind, die Gerichte sie als nichtig verwerfen. Überhaupt gibt es in Ansehung der Rechtspflege für den König kaum eine Möglichkeit, den Lauf derselben zu stören. Die Thronfolge ist in dem genannten Act of settlement geordnet und auf die protestantischen Nachkommen der Prinzessin Sophie von Braunschweig [* 5] beschränkt. Dieselbe erfolgt in strenger Linealfolge und geht auf eine entferntere Linie nicht eher über, als bis alle männlichen und weiblichen Mitglieder der herrschenden Linie ausgestorben sind.
Nur das Parlament hat das Recht, die Thronfolge zu verändern. Die Krone geht auf den Thronfolger unmittelbar über, ohne daß eine Anerkennung seitens des Parlaments oder eine Krönung nötig wäre; doch findet letztere gewöhnlich später zu London [* 6] in der Westminsterabtei durch den Erzbischof von Canterbury statt, wobei der König den Krönungseid leistet. Die Volljährigkeit des Königs tritt mit dem 18. Lebensjahr ein. Während seiner Minderjährigkeit führt die Königin-Mutter oder in deren Ermangelung ein vom König (im Testament) oder vom Parlament ernannter Prinz des Hauses die Regentschaft; doch kann der König die während derselben erlassenen Gesetze bei seinem Regierungsantritt verwerfen.
Bei physischer Regierungsunfähigkeit des Königs führt der Thronerbe die Regentschaft als Prinz-Regent, die Königin oder in deren Ermangelung ein vom Parlament ernannter Großer des Reichs die Obhut über den kranken König. Der Gemahl einer regierenden Königin hat keine Teilnahme an den königlichen Rechten und führt nicht den Titel eines Königs von Großbritannien, sondern nur seinen eignen oder einen ihm von der Königin verliehenen. Die Gemahlin des regierenden Königs teilt dagegen mit ihrem Gemahl Titel und Wappen [* 7] sowie Heiligkeit der Person und genießt auch gewisse Vorrechte. Der Titel des Monarchen ist (seit 1877): »König (jetzt Königin) des Vereinigten [* 8] Königreichs von Großbritannien und Irland und dessen Kolonien und Dependenzen, Beschützer des Glaubens (defensor fidei), Kaiser von Indien, Sovereign des Hosenbandordens etc.«
Der Kronprinz führt den Titel eines »Prinzen von Wales«, den er, im Fall er vor der Thronbesteigung stirbt, auf seinen ältesten Sohn vererbt; außerdem ist er nach einer Bestimmung König Eduards III. geborner Herzog von Cornwall, Graf von Chester, Herzog von Rothsay, Seneschal von Schottland, Baron von Renfrew in Schottland und Graf von Carrick in Irland etc. Alle Prinzen des Hauses sind geborne Peers, werden mit dem 21. Jahr volljährig, beziehen dann ein Jahrgeld, erhalten vom König besondere Herzogs- und Grafentitel und dürfen sich ohne Zustimmung des Königs nicht verheiraten, außer nach dem 25. Jahr, wenn sie ein Jahr vorher dem Geheimen Staatsrat ¶
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(s. unten) hiervon Anzeige gemacht haben und das Parlament dagegen keinen Einspruch erhoben hat. Die Prinzessinnen erhalten Mitgift, Aussteuer und Jahrgelder, im Fall sie beim Tode des Königs noch unverheiratet sind. Die älteste Prinzessin hat den Titel Princeß Royal. Die Zivilliste der Königin beträgt 409,072 Pfd. Sterl. (wovon 60,000 Pfd. Sterl. in ihren Privatsäckel, Privy Purse, fließen). Außerdem aber erhält sie die Einkünfte des Herzogtums Lancaster (45,000 Pfd. Sterl. netto); es werden auf öffentliche Kosten die königlichen Paläste unterhalten (1885: 42,177 Pfd. Sterl.), und es stehen ihr vier Dampfjachten zur Verfügung.
Der Prinz von Wales bezieht einen Jahresgehalt von 40,000 Pfd. Sterl. und die Einkünfte des Herzogtums Cornwall (65,000 Pfd. Sterl. netto). Seiner Gemahlin ist eine Jahresrente von 10,000 Pfd. Sterl. ausgesetzt. Ferner beziehen die Herzöge von Edinburg [* 10] und Connaught je 25,000 Pfd. Sterl., der Herzog von Cambridge 12,000 Pfd. Sterl. und acht königliche Prinzessinnen jährlich 46,000 Pfd. Sterl. Zu diesen Summen (zusammen 719,249 Pfd. Sterl.) kommen nun allerdings einige Gehalte, welche Mitglieder der königlichen Familie als Beamte beziehen.
Der königliche Hofstaat teilt sich in drei große Departements, nämlich diejenigen des Lord Steward (Oberhofmeister), des Lord Chamberlain (Oberst-Kämmerer), des Master of the Horse (Oberst-Stallmeister) und der Mistress of the Robes (Gewandkammerfrau). Unter diesen stehen ein Graf-Marschall (eine erbliche Würde des Herzogs von Norfolk), ein Schatzmeister, ein Säckelwart (Keeper of the Privy Purse), ein Großalmosenier (erblich in der Familie des Grafen von Exeter), ein Zeremonienmeister, Thürhüter (ushers), Kämmerer etc., ein Hofdichter (Poet Laureate), Hofmaler und Bildhauer, Bibliothekare, ein Jagdmeister (Master of the Buckhounds), ein Großfalkenier (dessen Würde dem Herzog von St. Albans erblich zusteht), Hofdamen, Hofärzte und zahlreiche niedere Beamte.
Auch in Schottland besteht ein Hofstaat, einschließlich eines Oberconnetable, eines Hofmeisters, eines Panierträgers, eines Waffenträgers und eines Truchsessen, deren Würden sämtlich erblich sind. Ein Teil dieser Hofstellen kann nur in Übereinstimmung mit dem Ministerium besetzt werden. Königliche [* 11] Leibwachen sind die Yeomen of the Guard, im Volksmund als Beef-eaters bekannt (eine Korrumpierung von Bouffetiers), das Korps der Gentlemen-at-Arms und die Company of Archers (in Schottland).
Die Königin bewohnt entweder den Buckinghampalast in London (der St. Jamespalast dient nur zu Staatszeremonien), oder das Schloß zu Windsor, oder die Sommerresidenzen von Osborne (Insel Wight) oder Balmoral (schottische Hochlande). Marlborough House ist dem Prinzen von Wales eingeräumt. Andre von Mitgliedern der königlichen Familie oder Hofpensionären bewohnte Paläste sind zu Kensington und Kew. Gegenwärtig regierende Königin ist Alexandrine Viktoria LI., geb. Tochter des Prinzen Eduard, Herzogs von Kent, des Bruders der Könige Georg IV. und Wilhelm IV., succedierte ihrem Oheim, dem König Wilhelm IV., ward gekrönt vermählte sich mit dem Prinzen Albert von Sachsen-Koburg-Gotha (»Prince consort« seit 1857); seit ist sie Witwe. Kronprinz ist Albert Eduard, geb. Prinz von Wales etc., vermählt mit der Prinzessin Alexandra, Tochter des Königs Christian IX. von Dänemark. [* 12]
Das Parlament.
Das Parlament, das sich in seinen Rechten und Gebräuchen wesentlich von den repräsentativen Versammlungen andrer Staaten unterscheidet, besteht aus dem König, dem Haus der Lords (Haus der Peers, Oberhaus, House of Lords) und dem Haus der Gemeinen (Unterhaus, House of Commons), deren Zusammenstimmung zu einem Gesetz (Parlamentsakte) gehört. Das Parlament, ohne den König betrachtet, beschützt die Regierungsform, beaufsichtigt die Verwaltung, beratschlagt die Gesetze, deren Antrag der Form nach stets von ihm ausgeht, bewilligt das Budget auf ein Jahr, legt Steuern auf und hat das Recht der Steuerverweigerung, richtet auch durch das Oberhaus seine Mitglieder wegen Hochverrats und auf Anklage des Unterhauses die Verbrechen der Minister und hohen Staatsbeamten.
Das Parlament wird vom König berufen, durch eine Thronrede im Oberhaus, wozu das Unterhaus eingeladen wird, eröffnet und kann vom König auf längere Zeit vertagt (prorogiert) und gänzlich aufgelöst werden. Nach geschehener Prorogatien beginnen alle Verhandlungen von neuem. Ein Parlament darf nie länger als sieben Jahre bestehen und nicht länger als 80 Tage prorogiert bleiben. Aus eigner Macht kann es sich nur auf einige Tage vertagen. Beide Häuser führen ihre Verhandlungen besonders.
Jedes Mitglied eines derselben kann einen Vorschlag (bill) machen, muß aber zuvor mündlich verkündigen, daß und über welchen Gegenstand ein solcher Vorschlag gemacht werden soll. Die Bills betreffen entweder allgemeine Angelegenheiten (public bills) oder Lokal- und Privatsachen (private bills). Geldbewilligungen (money bills) müssen im Haus der Gemeinen eingebracht und von den Lords entweder unabgeändert angenommen, oder gänzlich verworfen werden.
Jede Bill muß die Probe einer zweimaligen Lesung und Abstimmung bestehen, ehe die eigentliche Debatte eröffnet wird. Der König bewilligt jede Art mit einer besondern französischen Formel. Verwirft er die Bill, so geschieht es mit der Formel: »Le [* 13] roi s'avisera«, ein Fall, der übrigens seit 1707, als Königin Anna die schottische Milizbill verwarf, nicht vorgekommen ist. Vor der Emanzipationsbill hatten Katholiken im Oberhaus nur Sitz, nicht Stimme; vom Unterhaus waren sie gänzlich ausgeschlossen, weil die Mitglieder außer dem noch jetzt gebräuchlichen Eide der Treue (oath of allegiance) noch den Kircheneid (oath of supremacy) und den Testeid ablegen mußten, was die Katholiken nicht konnten. Seit kann jedes der beiden Häuser einem zu beeidigenden Mitglied die Worte »beim wahren Glauben eines Christen« erlassen. Kein Mitglied beider Häuser kann für sich, seine Bedienten, Güter und Grundstücke während der Parlamentszeit mit Arrest belegt werden.
Zum Oberhaus gehören die majorennen Prinzen des königlichen Hauses (gegenwärtig 6, die weltlichen Peers des Vereinigten Königreichs, welche das Vorrecht erblich besitzen und wenigstens 21 Jahre alt sind (gegenwärtig 459), 3 Oberrichter als persönliche Peers (Life Peers) mit Gehalt von 6000 Pfd. Sterl., ein Ausschuß des schottischen und irischen Adels (von ersterm 16, von letzterm 28 Peers, die von ihresgleichen gewählt werden, jene für jedes Parlament, diese auf Lebenszeit), die 2 Erzbischöfe und 24 Bischöfe von England und Wales, im ganzen jetzt 538 Mitglieder. Der Lord-Kanzler (dessen Sitz der »Wollsack«, ein großes, viereckiges, mit rotem Tuch bedecktes Kissen ohne Rücken- und Seitenlehne, ist, und der einen Gehalt von 10,000 Pfd. Sterl. bezieht) führt den Vorsitz. ¶